Sonntag, 5. August 2007

Zwei Leben

Zwei Bücher, die autobiographisch sein wollen und in jene schwer vorstellbare Zeit zurückreichen, die mir, dem 1955 geborenen Deutschen, nur aus Schulunterricht, Berichten und Erzählungen bekannt geworden ist, stehen für mich gesondert von aller anderen Literatur über die Epoche. Zwei Bücher, die mich tief getroffen, es mir gestattet haben, mitzuerleben, was den Autoren begegnet ist, zwei Lebensanfänge, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die beiden Autoren pflegen seit Jahrzehnten eine Hassliebe, mögen und schätzen einander öffentlich mal deutlich anerkennend, mal nicht sonderlich freundlich. Der eine schreibt über den anderen:

„…verlästerte alle Päpste, so später auch jenen, der medienwirksam erhöht den literarischen Himmel einzig nach seiner Elle vermessen wollte, und befreundete mich mit dem Risiko, als Außenseiter dem jeweiligen Zeitgeist widerstehen zu müssen.“ (Beim Häuten der Zwiebel, Seite 425)

Der andere bemerkt zum einen:

„Sie schildern ein Treffen mit Uwe Johnson. Sie schildern es wunderbar. Das kann keiner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781.“ (Besprechung von „Ein weites Feld“ im Spiegel)

Regelmäßig amüsieren mich ihre Animositäten. Der eine, der sich nie selbst als Literaturpapst bezeichnet hat, jedoch die medienwirksame Rolle wohl nicht ohne erkennbares Vergnügen und Genugtuung auszufüllen verstand, der andere, der sich nicht ungern und nicht weniger medienwirksam als Außenseiter einem Zeitgeist widersetzte, selbst wenn dieser an ihm gar nichts auszusetzen hatte.

Die beiden Bücher über die gleichen Jahre, „Mein Leben“ und „Beim Häuten der Zwiebel“ sind so unterschiedlich im Ansatz wie ihre Autoren. Reich-Ranicki schreibt als ein Mensch mit ungetrübtem Blick auf jegliche Details der Vergangenheit, während Grass wieder und wieder verschiedene Darstellungen der gleichen Begebenheit zur Auswahl stellt. Reich-Ranicki bleibt bei seinem Lebensbericht ein Chronist, Grass bleibt ein Erzähler. Der eine hat als Jude Kindheit und Jugend unter Hitler durchlitten, der andere glaubte als Deutscher bis zum Schluss an den so felsenfest versprochenen Endsieg.

Ganz abgesehen davon, dass Reich-Ranicki und Grass die deutsche Sprache beherrschen wie nur wenige, dass beide mir auf keiner einzigen Seite dieser beiden Bücher auch nur einen Hauch von Langeweile zugemutet haben, ist ihnen in ihrer Unterschiedlichkeit das gelungen, was weder Dokumentationen noch zahlreiche andere Literatur vermocht haben: Ich habe etwas verstanden und empfunden, habe während der Lektüre erlebt, was vor meiner Zeit geschah.

Mein einer Großvater, KZ-Häftling weil Sozialist, zu jung verstorben an den Folgen der Gefangenschaft, von der Großmutter häufig und eindringlich vor meine jungen Augen gestellt, mein anderer Großvater, friedliebender Pastor, vertrieben aus Gebieten, die heute polnisch heißen, konnte mir noch selbst erzählen und berichten. Doch blieben ihre und die Erfahrungen ihrer Ehefrauen und Familien mir unerlebt, seltsam fremd trotz verwandtschaftlicher Nähe. Zwei Bücher von zwei Männern, die ich nie getroffen und gekannt habe, wurden mir dagegen wie ein Stück der eigenen Erinnerung.

Liegt es daran, dass beide Werke ehrlich sind? Natürlich vermag ich nicht zu sagen, wo Gras oder Reich-Ranicki die Wahrheit zu Papier gebracht und wo sie ihr hinzugedichtet oder weggelassen haben. Das ist auch gar nicht notwendig. Erinnerung und Vergangenheit sind Geschwister, die einander manches Mal widersprechen, in Streit geraten, dann wieder einträchtig Hand in Hand spazieren, um irgendwann erneut aneinander zu geraten.

Reich-Ranicki schreibt, wie es seine Art ist, als gebe es keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Zeilen, schildert selbst Details wie den aufgefundenen Beipackzettel einer Kondompackung mit über sechzig Jahren Abstand als hätte er das Kleingedruckte gestern erst studiert. Grass lässt Details auftauchen und verschwinden, weiß immer wieder anzudeuten oder klar zu sagen, dass etwas und wie etwas gewesen sein hätte können, vielleicht auch war.

Mir sind sie beide eindringlich geworden, denn diese Bücher haben eins gemeinsam, was so vielen anderen, die ich zum Thema gelesen habe, fehlt: Sie wollen nicht belehren, nicht bekehren, sondern berichten und dichten. Und gerade deshalb, vermute ich mangels einer anderen Erklärung, treffen sie bei mir so tief in mein Innerstes hinein.

Es sollte mich wundern, wenn jemand, der wie ich ein Nachkriegskind ist, „Beim Häuten der Zwiebel“ von Günter Grass und „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki anders lesen könnte als mit innerer Beteiligung, die schnell zum Miterleben wird.