Dienstag, 15. April 2008

Moderne Psalmen 1 - Nick Cave

Der prominenteste Psalmdichter, König David, fragte in seinen Dichtungen sehr häufig nach dem »warum« und ließ seinen Frust über schlimme Umstände und ausbleibende Antworten vom Himmel auf vielfältige Weise in die Zeilen fließen. Sehr häufig forderte er Erklärungen beim Schöpfer ein (mit mehr oder weniger uns überliefertem Erfolg).

Das geht auch heutzutage noch. Da ich mich manchmal (gestern zum Beispiel) ganz genau so fühle, wie in dem folgenden modernen Psalm besungen, habe ich ihn kürzlich ins Deutsche übertragen. Gar nicht so einfach, denn Nick Cave verlangt schon in einigen Liedern eine ganze Menge Bildung oder Recherche bei Wikipedia von seinen Zuhörern - falls sie ihm durch den Text zu folgen wünschen: »Our myxomatoid kids spraddle the streets ... And a cabal of angels with finger cymbals chanted his name in code ... everything is banal and jejune ... in this idiot constituency of the moon« - nicht unbedingt umgangssprachliches Alltagsenglisch. Daher hier die Übersetzung, bei der man natürlich auch noch - Interesse und Internet oder Enzyklopädie vorausgesetzt - recherchieren kann, was denn eine »Kabale« eigentlich ist, wieso die Engel den Namen des uns unbekannten Menschen im zweiten Abschnitt »codiert« singen und wieso die »Myxomatose« so gefährlich ist.

Ein Psalm Nicks, zu singen bei unaufhaltsam treibendem Schlagzeug, brodelndem Bass, schneidendem Orgelklang und eisenharten Gitarrenakkorden.

Was wir zu besitzen glaubten, hatten wir nicht; und was uns jetzt noch gehört, wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Also fordern wir den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Unsere von Myxomatose infizierten Kinder staksen auf den Straßen herum, wir haben ihnen in ihrem Leben jegliche schweißtreibende Anstrengung erspart. Die armen kleinen Dinger, sie sehen so traurig und alt aus, wenn sie uns von hinten auf den Rücken klettern. Ich bitte sie, das nicht zu tun, ordne an, es zu unterlassen; und dann fordern wir den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Sela.

Er starb mit einem Rosenkranz in der verkrampften Hand, Schläuchen in der Nase, eine Kabale von Engeln mit Fingerzimbeln sang seinen in Zahlencodes verschlüsselten Namen. Und wir bedrohten den strafenden Regen mit unseren Fäusten. Und wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Er sagte, alles hier sei total verhunzt, alles banal und strohig, es gebe eine weltweite Konspiration gegen Menschen wie du und ich in diesem idiotischen Wahlkreis des Mondes. Er wusste also ganz genau, wer Schuld hatte. Und wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Weitschweifigkeit! Ausuferung! Nichts, was man mit einer Schere nicht in Ordnung bringen könnte.
Weitschweifigkeit! Ausuferung! Nichts, was man mit einer Schere nicht in Ordnung bringen könnte.

Sela.

Ich gehe wie ein Guru die Straße entlang, junge Menschen versammeln sich zu meinen Füßen, stellen mir Fragen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Sie entfachen den Kraftstrom, der direkt in das Herz meines Vaters reicht. Und wieder fordere ich den Schöpfer auf, mir eine Erklärung zu geben.

Wir fordern den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Sela.

Wer ist dieser niederdrückende, sabbernde Schweinehund in mir, der jedem meiner Gedanken jegliches Niveau raubt? Ich komme mir vor wie ein Müllschlucker, ein totaler Trottel, alles ist Scheiße und er ist ein Arschloch - doch welch ein enormes und enzyklopädisches Gehirn dieses Monstrum doch besitzt! Ich fordere den Schöpfer auf, mir eine Erklärung zu geben.

Ungezügelte Diskriminierung, Massenarmut, Schulden der dritten Welt, ansteckende Seuchen, weltweite Ungerechtigkeit, wachsende sozioökonomische Kluft. Das wirkt in deinem Gehirn. Und wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Sela.

Einen Augenblick bitte. Mein Freund Doug klopft ans Fenster... (Hallo Doug, wie geht's dir?)
Er hat mir ein Buch zurückgebracht, über Holocaust-Dichtung, durch Bilder ergänzt. Dann sagt er, ich sollte mich auf den Regen vorbereiten. Und wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Ich nenne das Weitschweifigkeit! Ausuferung! Nichts, was man mit einer Schere nicht in Ordnung bringen könnte.

Sela.

Bukowski war ein Narr! Berryman war spitze! Er schrieb wie feuchtes Pappmaché, folgte dem Heming-Way, auf übernatürlichen Schwingen, mit einem Höchstmaß des Schmerzes. Wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Unten in meiner Zuflucht erkenne ich, dass ich erneut eine Portion von erzkonservativem Bockmist veröffentlicht habe. »Die Wellen, die Wellen, wo sich Soldaten bewegen.« Na Dankeschön. Dankeschön. Dankeschön. Und erneut fordere ich den Schöpfer auf, mir eine Erklärung zu geben.

Genau, wir forderten den Schöpfer auf, uns eine Erklärung zu geben.

Weitschweifigkeit! Ausuferung! Nichts, was man mit einer Schere nicht in Ordnung bringen könnte.


P.S.: Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich habe Referenzen zu Bob Dylan und Leonard Cohen in diesem Text gefunden. Eindeutige. Das macht es mir um so interessanter...

Der Originaltext: We Call Upon The Author To Explain
Eine live Version bei YouTube: We Call Upon The Author To Explain

11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

bewegender Psalm.Ich bitte um`s Gebet für Zimbabwe aus aktuellem Anlass!

Tobias Faix hat gesagt…

Ich liebe Nick Cave!
Hast du seinen Roman (Und die Eselin sah den Engel)gelesen?

Anonym hat gesagt…

Bob-Dylan-Referenzen sind klar: A hard rain is gonna fall / If it keep on raining, the levee's gonna break / und viele mehr.
Meinst Du mit Leonard Cohen seine Poesie oder seine Musik?

Günter J. Matthia hat gesagt…

@Barbara: Es gibt eine Menge bewegender Texte von Bruder Nick, dem Psalmdichter.

@Tobias: Nein, das Buch kenne ich nicht. Habe aber kürzlich seine "Predigt" über "Flesh Made Word" (in zwei teilen auf YouTube zu finden) gehört. Das Buch werde ich mal vormerken, klingt schon vom Titel her interessant.

@Wolfgang: Ich meinte Cohens "Book of Psalms" und seine Romane, das ist häufig "Holocaust Poetry" mit Illustrationen. Auch in seinen Liedern, hier und dort. Die Bücher von Cohen sind meines Wissens nicht mehr lieferbar, stehen aber in meinem Regal.

Anonym hat gesagt…

Ich kenne leider Nick Cave nicht würde gern mal seine Musik anhören

storch hat gesagt…

das ist kein problem, robert. die kann man kaufen ;-)

ich mag die neue. aber ich habe eh noch keine cd von ihm gehört, die mir gar nicht gefallen hat. (auch keine auf der ich alle lieder mochte).

die bücher kenne ich auch. (auch "and the ass saw the angel").

keine ahnung, warum ich das jetzt geschrieben hab. sagt ja nichts aus. :-)

Günter J. Matthia hat gesagt…

Mein Lieblingsalbum ist und bleibt (vorerst) "Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus" - und, lieber Storch, ich kenne auch keine CD, auf der mir wirklich ALLE Lieder gefallen würden. Da ist immer mal eins dabei, was ich dann per skip foreward umgehe...

Ich hatte mich lange Jahre gefragt, warum mir "Deanna" so bekannt vorkam. Bis ich dann auf dem Album "B-sides and Rarities" die Aufnahme von einer Probe zu hören bekam, wo "Deanna" - den Bad Seeds sei Dank - als das entlarvt wird, was es ist: "O Happy Day" mit neuem Text. Was habe ich vor mich hin gekichert beim ersten Hören...

Recht hat er, der Nick. Er macht es manchmal wie Bob Dylan rät: Steal what you love and love what you steal.

Don Ralfo hat gesagt…

@Günter: Habe Deine Lieblingsalben von Nick Cave auf dem PC (Musik von Sohnemann)aber noch nie bewusst gehört. Das werde ich jetzt nachholen ;-))
Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, daß mein Sohn dermaßen viel gute Musik anschleppt, daß ich mit dem Hören nicht recht hinterherkomme.

Günter J. Matthia hat gesagt…

@Don The Ralle: Na dann viel Spaß beim Hören.
Meine Lieblingssongs aus dem Doppelalbum: »Get Ready For Love - PRAISE HIM!!!«, »O Children«, »The Lyre of Orpheus« (was für eine wunderbar bitter bitter bitterböse kleine Geschichte!) und »Let the Bells Ring«.
Der Gospelchor hat den Aufnahmen gut getan, meine ich, andere Fans waren eher nicht so begeistert. Na ja, Geschmackssache.

Thomas-BDD hat gesagt…

@Günter

"Abattoir Blues" + ist auch meine Lieblings-CD, "praise him" das favorisierte Stück darauf. Als ich es eines Herbstabends 2004 zum ersten mal von CD hörte, war mir sofort klar wovon Nick Cave singt, obwohl ich ihn 1. bis dato anders kannte, 2. gerade von David Eugene Edwards (Wovenhand) als radikal christlichem Säger sehr angetan war (und noch bin), und Nick Cave eigentlich ja gar nicht ausspricht, wen man preisen soll. Trotzdem ist es klar, das finde ich schon genial.

"Dig, Lazarus, dig" ist schwächer als das zuvor genannte, jedenfalls musikalisch. Das hindert mich nicht daran, es momentan täglich zu genießen, aber die vielen Sprechgesänge, die zwar die guten Texte rüberkommen lassen, erinnern doch zu sehr an eine Vielzahl seiner alten Titel, so dass man sich fragen muss, ob es schon eine Masche wird. Wie gesagt, ich höre es täglich, doch Abattoir Blues war musikalisch einfach kreativer (Kein Titel so wie der andere).

Die Texte von Nick Cave, die "Psalmen" sind wirklich klasse, wird er explizit nach Gott gefragt, gibt er sich etwas zurückhaltender, so im Interview speziell zum letzen Album im vorletzten "Rolling Stone". Vielleicht will er sich nur nicht von Fernsehpredigern etc. vereinnahmen lassen. So äußerte sich auch Ricky Lee Jones zu ihrem Album "Sermon on Exposition Boulevard", auf dem auch viel von Gott die Rede ist.

Womit ist er nun authentischer, mit seinen Interviews oder mit seiner Musik und Texten? Ich würde wie Du zu letzterem tendieren.

Anonym hat gesagt…

Mein Lieblingsalbum von Cave ist "Henry's Dream" von '92 (glaube ich). Da trifft er m.E. genau die Mischung zwischen Drogeninduziertem Wahnsinn und tollen Songs.