Freitag, 10. Oktober 2008

Recht hat er!

Wenn man einen Literaturkritiker fragt, was nur ein Romanautor wissen kann, ist er dann in Verlegenheit? Keineswegs, wenn es sich um Marcel Reich-Ranicki handelt. Ein gewisser Manfred Bourgeois aus Aachen stellte diese Frage:
Ist ein Roman im Kopf eines Autors bereits fertig, bevor er zu schreiben beginnt, oder entsteht das Werk erst allmählich Satz für Satz, indem der Autor sich während der Abfassung des Textes von seiner Spontaneität, Intuition und Phantasie tragen oder gar treiben lässt?
Marcel Reich-Ranicki antwortete:
Sie sprechen von zwei verschiedenen Möglichkeiten der Entstehung eines literarischen Werks. Aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten, das „Entweder - Oder“ ist bestimmt nicht richtig.
Tolstoi hatte keineswegs die Absicht, die Geschichte seiner Anna Karenina mit ihrem Selbstmord abzuschließen. Erst während der Arbeit an diesem Roman sah er, dass er ihn mit einer Verzweiflungstat, mit ihrem Tod beenden musste. Warum „musste“? Anna habe ihn, bemerkte er gelegentlich, dazu gezwungen. Man könnte sagen, ihr Tod auf den Gleisen der Eisenbahn war nicht seine, vielmehr ihre Entscheidung.
Auch das Verhältnis anderer Autoren zu ihren Figuren hat sich oft während der Arbeit am jeweiligen Werk deutlich geändert. Ein berühmtes Beispiel aus der deutschen Literatur: Goethe und seine schöne Intrigantin und Giftmischerin Adelheid von Walldorf im „Götz von Berlichingen“. In „Dichtung und Wahrheit“ heißt es: „Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt . . .“
Schön für mich, das zu lesen. Weiß ich mich doch nun mit Goethe und Tolstoi vereinigt, da es mir mit meinen Figuren in Roman oder Kurzgeschichte, Erzählung oder Fragment oft genug nicht anders geht.

Mein Tipp für schreibende Zeitgenossen: Den Figuren ihren Willen lassen, die wissen manchmal besser, was sie wollen, als der Autor.

Mehr kluge, poltende oder begeisterte Antworten auf manchmal nicht ganz so kluge Fragen gibt Marcel Reich-Ranicki regelmäßig in der F.A.Z., auch im Internet nachzulesen: Fragen Sie Reich-Ranicki

Foto: Wikipedia

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das gleiche Phänomen gibt es auch in der Malerei.Ein Künstler erzählte neulich, dass ihm der Hund auf seinem Strandbild "zugelaufen" sei...
Beim Verwischen der Farbe mit einem Schwamm, hätte er plötzlich den Hund entdeckt und ihn dort sitzen lassen,obwohl er selbst keine Beziehung zu Hunden habe.

Anonym hat gesagt…

Charakter hat er!
Reich-Ranicki hat den Fernsehpreis
abgelehnt und das Fernsehen kritisiert mit den Worten:

"Ganz offen gesagt, ich nehme den Preis nicht an. Es ist schlimm, dass ich das erleben musste".

Anonym hat gesagt…

Ich könnte mir vorstellen, dass der Beitrag "Der Eklat", den Günter unter "Lehrer Lämpel" angekündigt hat, sich mit Reich-Ranicki und dem Fernsehpreis beschäftigt...

Anonym hat gesagt…

warten wir es ab... ;-)

Anonym hat gesagt…

P.S.der Wolf scheint ja einen guten Spürsinn zu haben...mal wieder...!

Günter J. Matthia hat gesagt…

Wölfe haben Spürnasen.