Sonntag, 7. Dezember 2008

Stephen King: Just After Sunset

Es geschieht eher selten, dass ich beim Lesen eines Buches den Autor bedrohend vor mich hinmurmeln muss: »Wehe, du bringst sie jetzt um! Dann kannst du mich kennen lernen!«
Bei diesem Buch allerdings ist mir das rausgerutscht. Ein paar Seiten später konnte ich aufatmen und Stephen King wird vorerst nicht in den Genuss meines rächenden Besuches kommen.

Die Rede ist von »Just After Sunset«, dem bisher letzten Buch aus seiner Feder. Eine Sammlung von zwölf Kurzgeschichten, bei denen jede ihre eigene Faszination hat. Ob uns der Autor nun zur Pinkelpause auf eine nächtliche Raststätte mitnimmt oder ob wir Zeugen eines einseitigen Gespräches zwischen einem Handelsvertreter und einem taubstummen Mitfahrer werden - immer sind wir mitten im Geschehen, werden zu Betroffenen und Miterlebenden. Kaum jemand vermag so hautnah zu erzählen wie Stephen King.
In front of him tacked to the wall with a blue pushpin, was a filecard. Typed on it was FOR WE ALL HAVE SINNED AND FALLEN SHORT OF GOD'S GLORY. It had been a long time, but Monette didn't think that was standard equipment. He didn't even think it was Baltimore Catechism.
From the other side of the mesh screen the priest spoke. 'How you doing, my son?'
Monette didn't think that was standard, either. But it was alright. Just the same, he couldn't reply at first. Not a word. And that was kind of funny, considering what he had to say.
'Son? Cat got your tounge?'
Still nothing. The words were there, but they were all blocked up.
Die Geschichten in diesem Buch sind nicht neu, sondern wurden in verschiedenen (hierzulande kaum verbreiteten) Magazinen und als Download bereits veröffentlicht. Mir waren bis auf zwei Erzählungen allerdings alle unbekannt. Und die beiden, die ich schon gelesen hatte, las ich gerne noch einmal.
Die einzige Erzählung, die stark an den »alten« Stephen King, der im Horror-Genre zu Hause war, erinnert, ist »N.«. Und selbst diese Geschichte wird dadurch glaubwürdig, dass wir es mit den Auszeichnungen eines Psychologen zu tun haben, der Chronik einer fortschreitenden Paranoia. Zwar taucht auch »das Böse« auf, das die Welt zu vernichten droht, aber mit durchaus diesseitigen Bestandteilen...
Ansonsten geschieht das meiste im hier und jetzt, mal erschütternd, mal erheiternd, mal appetitverderbend, mal sehnsuchtweckend. Natürlich wäre es undenkbar, dass die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits bei Stephen King fest gemauert und unverrückbar steht. Wir treffen beispielsweise auf »Ayana«, ein blindes Mädchen, das die Gabe der Heilung hat, oder auf einen Mann, der beim Fitness-Training im Keller mit seinem »Stationary Bike« in gefährliche Gegenden gerät. Und wie es nach dem Tod womöglich weitergeht, auch darüber fabuliert der Autor ganz vortrefflich, indem er ein paar Hinweise gibt, wie das menschliche Zeitempfinden sich in der Ewigkeit womöglich verändert.
Doch auch ganz und gar Irdisches wartet auf die Leser: Wer schon immer ein gewisses Misstrauen gegen die (hierzulande so genannten) Dixi-Klos hatte, wird am Ende des Buches wissen, dass diese Gefühle berechtigt sind - und vermutlich zukünftig mit noch größerem Widerwillen ein »Port-O-San« aufsuchen. Und alle Leserinnen, die dem Jogging verfallen sind, erfahren, wozu das eines Tages gut sein kann.
She tried as hard as she could, ran as hard as she could, and the sand - cold and wet where she was running - soothed her firy heel a little, but she could still get into nothing resembling her old gait. She looked back and saw him gaining, putting everything he had into a final sprint. Ahead of her the rainbows were faiding as the day grew relentlessly brighter and hotter.
She tried as hard as she could and knew it wasn't going to be enough. She could outrun an old lady, she could outrun an old man, she could outrun her poor sad husband, but she couldn't outrun the mad bastard behind her.
Als ich mich den letzten der 368 Seiten näherte, maulte ich: »This book should not end so soon! Why can't it be longer?« Die beste aller Ehefrauen schmunzelte und überließ mich meiner Verzweiflung, dass ich nun voraussichtlich viele Monate auf Nachschub von Stephen King warten muss. Er hat zwar einen neuen Roman verfasst, aber bis der auf den Markt kommt, kann es dauern...

Mein Fazit: Eine kurzweilige, abwechslungsreiche und auf jeder Seite fesselnde Lektüre. Gerade auch für interessierte Leser geeignet, die immer noch dem Trugschluss verfallen sind, Stephen King sei ein Horror-Autor. Ist er nicht. Er ist ein ganz hervorragender Erzähler, was er auch mit diesem Buch eindrucksvoll beweist.

Ach ja. Meine übliche Anmerkung bei englischsprachigen Autoren: Inwieweit die deutsche Übersetzung gelungen ist, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich das Original gelesen habe.

Das Buch gibt es zum Beispiel hier bei Amazon: Just After Sunset


13 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Na, da teil ich mal wieder deinen Geschmack. Ich schätze Stephen King auch als exzellenten Erzähler. Mir wurde er nur von christlichen Freunden madig gemacht, indem gesagt wurde, er sei so okkult. Die Lesehemmung wurde mir genommen, nachdem Hanne Baar (christliche Psychologin, Buchautorin) einen 5-Stunden-Film in einem Schreibseminar auf Malta präsentiert hatte. ("Es ist in Ordnung, wenn das Böse böse und das Gute gut beschrieben wird").

Günter J. Matthia hat gesagt…

Wenn einer das Böse böse beschreibt und das Gute gut, dann dieser Autor. Er hört es ja nicht gerne, aber sein bestes Buch ist und bleibt »The Stand«, jenes Endzeit-Epos, in dem die Anhänger des Teufels mit den Menschen, die zum Teil widerwillig an Gott festhalten, sich zum letzten Gefecht rüsten.
Sein neuer Roman, wie Stephen King in einem Interview verraten hat, ist (endlich!) eine Rückkehr zum Thema Endzeit / Ende der Welt / Apokalypse.
Ob es gelingt, »The Stand« zu erreichen oder zu übertreffen, sei dahingestellt...

Anonym hat gesagt…

Und eben "The Stand" wurde uns im Schreibseminar als Video präsentiert. Ich fand beides - Buch und Film - hochspannend, gut, sehr gut. Kennst du von Stephen King "Das Leben und das Schreiben"?

Günter J. Matthia hat gesagt…

Hallo Karin,

vermutlich handelt es sich um das Buch »On Writing: A Memoir of the Craft«, das ich gerne gelesen habe und dem ich manch guten Tipp verdanke. Sozusagen Privatunterricht beim Meister... - großartig!

Die Verfilmung von »The Stand« haben wir schon oft gesehen, jedes Mal wieder ein Erlebnis. Demnächst schauen wir uns die DVDs mal wieder an, vermute ich.

Anonym hat gesagt…

Genau das ist das Buch. Ich hab es total gerne gelesen und mir auch die Literaturempfehlungen "reingezogen".

Anonym hat gesagt…

Hi!
Ich habe damals ES in 2 Wochen durchgelesen, so begeistert war ich davon. Auch Dreamcatcher hat mir sehr gut gefallen.

Die Verfilmung ging aber meiner Meinung nach bei beiden in die Hose.

Vielleicht sollte ich mir zur Abwechslung mal wieder ein Buch von King kaufen.
Dein Review klingt ja sehr vielversprechend!

Günter J. Matthia hat gesagt…

Hallo Patrick,

mit den Verfilmungen ist das wirklich so eine Sache. Man kann einen Roman eigentlich nicht in das 90-100 Minuten-Format zwängen, ohne dass es irgendwie schief geht.

Recht gut finde ich »Stand by Me«, aber das ist ja die Verfilmung einer Kurzgeschichte und »The Stand«, aber der Film dauert eben 5 Stunden.
Ebenfalls ganz hervorragend: Die 5,5-Stunden Verfilmung von »The Shining« und überraschend gut gelungen ist auch »The Green Mile« als Film.

Aber am besten finde ich es immer noch, ein Buch zu lesen, da bekommen die Charaktere die Chance, im eigenen Kopf zu entstehen. Ich weiß ganz genau, wie Wireman (aus »Duma Key«) aussieht, wie er redet, sich bewegt. Obwohl es keinen Film gibt...

Eva hat gesagt…

Sehr schön, SK-Fans unter sich.

The Stand ist mein Lieblingsbuch von SK, dicht gefolgt von The Green Mile. Beide sind weit entfernt davon, okkult zu sein, im Gegenteil.

@Patrick: SK bitte unbedingt lesen statt ansehen. Die Verfilmungen taugen meistens nichts. Wenn Dir Es gefallen hat, wäre Shining auch was für Dich.

Günter J. Matthia hat gesagt…

Yepp!

Anonym hat gesagt…

So, habe mir letztes Wochenende "Needful Things" gebraucht gekauft. "The Stand" konnte ich leider nirgends entdecken.
Hier in London gibt es in unter der Waterloo Bridge jeden Freitag und Samstag einen riesigen Gebraucht-Buechermarkt! Ein Traum fuer jeden Buecherfan!
Werde da jetzt wohl mindestens 1x im Monat vorbeischauen. ;-)

Günter J. Matthia hat gesagt…

Needful Things ist eine gelungene Parabel über die Verführbarkeit der Massen... - aber das wirst Du ja nun selbst feststellen können. Ich wünsche angenehmes Schmökern.
Wenn Du irgendwann mal The Stand findest: Unbedingt sofort kaufen!

Patrick hat gesagt…

Hi nochmal,
habe Needful Things gestern fertig gelesen. Fand ich sehr gelungen! Ich mag einfach King's detaillierte Beschreibungen von scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten. Kann es sein, dass es u.a. das ist was Stephen King ausmacht?
Ueber Ostern war ich uebrigens mal wieder zuhause in Deutschland. Lustigerweise fand ich dort zwischen meinen alten Sachen "The Stand". Mein aelterer Bruder besitzt dieses Buch, dachte aber es gehoert mir, und hat es dann dort hingelegt. Herrlich! Habe es natuerlich gleich mit nach England genommen. ;-) Zwar nur auf deutsch, aber besser als nichts.

Die Filme moechte ich mir aber trotzdem noch irgendwann danach anschauen.

Günter J. Matthia hat gesagt…

Moin! Ich meine schon, dass die liebevollen und so gut wie immer treffenden Beschreibungen viel damit zu tun haben, dass S.K. so ein hervorragender Erzähler ist. Die gute Idee allein tut es ja nicht. Man muss sie auch in Formulierungen kleiden können. Und das kann kaum einer so gut, wie dieser Autor.