Donnerstag, 5. Juni 2008

Berlin missional 2 - Klosterleben und Straßenfest

»Matthew's Table« nennt ein amerikanisches Ehepaar seinen Dienst an den Menschen und für die Stadt. John und Gayle heißen uns am Samstagmorgen sehr herzlich an ihrem liebevoll gedeckten Frühstückstisch willkommen. Es gibt ein typisches American Breakfast, aber auch Gewohntes wie »Brotchen« mit vielerlei Aufstrich oder Belag.
Wir erfahren, während wir es uns schmecken lassen, einige erstaunliche Begebenheiten, die durch diesen Dienst der Gastfreundschaft bereits geschehen sind. Die Vision, die Gayle und John für ihren Dienst haben, ist sehr simpel: »Mission by loving people«. Jeder ist willkommen, vom Professor aus Islamabad bis zur Nachbarin von nebenan. Niemand bekommt eine Moral- und Bekehrungspredigt zur Mahlzeit, sondern jeder soll wissen und empfinden, dass er angenommen und geliebt wird. Von Gott und vom gastfreundlichen Ehepaar.
Die Zeit verfliegt viel zu schnell, während wir zuhören, wie es dazu kam, dass ein Pastor in Amerika mit seiner Frau die Gemeinde und Heimat verließ, um in einer fremden Stadt und Kultur fremden Menschen, gleich welcher Nationalität, ihre Zuneigung genauso wie praktische Hilfe zu schenken.
John fasst zusammen: »When we have won one person we have begun to win the world.«

Nach dem Austausch am amerikanischen Frühstückstisch teilen wir uns in drei Gruppen, um an verschiedenen Schauplätzen Christen zu treffen, die begonnen haben, Gemeinde und Kirche anders zu verstehen als eine fromme Parallelgesellschaft.
Ich bin bei Tour 2 dabei. Auf dem Weg zur ersten Station im Prenzlauer Berg genieße ich das ausführliche Gespräch mit dem pensionierten Pfarrer aus Erlangen, dem ältesten Teilnehmer bei »Berlin missional«. Wir tauschen Erfahrungen und Empfindungen aus, stellen fest, dass wir sehr ähnliche Sehnsucht im Herzen tragen: Eine Gemeinde und Kirche, die sich den Menschen zuwendet, sich den Menschen opfert, anstatt darauf zu warten und zu hoffen, dass die Menschen den Weg in die frommen Gemäuer irgendwie finden werden.
In Erlangen sieht das gesellschaftliche Umfeld ganz anders aus als an den Orten, die wir an diesem Wochenende in Berlin besuchen, aber das, was wir beide als Herausforderung sehen, ist doch das gleiche: Wir sind – wenn man das große Bild der Christenheit in Deutschland betrachtet - nicht mehr sonderlich relevant für unsere Umgebung. Wenn wir plötzlich weg wären, würden die meisten Menschen nichts und niemanden vermissen.

Runde 50 Minuten nach dem Aufbruch vom Frühstückstisch sind wir bei »Gemeinsam für Berlin« angekommen. Pfarrer Axel Nehlsen, der Geschäftsführer, stellt uns den Dienst an der Stadt mit seinen zahlreichen Ausprägungen vor. Die Vision lautet: »Alle gesellschaftlichen Bereiche der Stadt mit dem Evangelium von Jesus Christus zu erreichen.«
Es ging bei der Gründung vor sechs Jahren nicht um eine neue Kirche oder Gemeinde, sondern »Gemeinsam für Berlin« will vernetzen und versöhnen, Plattformen der Begegnung bieten und die Synergien sowie die Kooperation zwischen Gemeinden, Kirchen, christlichen Werken und Initiativen fördern. Dabei sollen auch Lücken aufgespürt und geschlossen werden, in denen noch niemand das Evangelium zu den Menschen bringt.
So vielfältig wie das Leben in Berlin sind auch die Arbeitszweige, »Foren« genannt. Von »Straffälligenhilfe« über »Gebet für die Stadt« und »Gemeindegründung« reicht das Spektrum, bis zu »Politik und Wirtschaft«, »Juristen« und »Interkulturellen Beziehungen«.
Anhand einiger Beispiele erläutert Axel Nehlsen, wie das in der Praxis aussieht und dass »Gemeinsam für Berlin« nicht »fertig«, sondern ständig offen für neue Impulse und Ideen ist.

In Kooperation mit »Gemeinsam für Berlin« ist durch die Idee einer jungen Frau auch die »Christliche Freiwilligenagentur« entstanden, die mittlerweile zum europäischen Vorzeigemodell geworden ist. Sie stellte ihre Idee vor, diese wurde umgesetzt. So einfach und unkompliziert fing alles an.
Ihr Anliegen formuliert die Agentur so: »Freiwilliges Engagement und Hilfeleistung für die Bedürftigen der Stadt, unabhängig von Nationalität, sozialem Status, Religion, Geschlecht, Alter oder sexueller Orientierung – auf der Grundlage des christlich-jüdischen Menschenbildes und des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.«
Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, übernahm 2007 die Schirmherrschaft, was heute viele Türen öffnen hilft. Auslöser war ganz schlicht und einfach die Idee einer einzelnen Person, inzwischen dienen eine große Anzahl von Christen in einer Vielzahl von Projekten ihren Mitmenschen. In der Bibel heißt dieses Phänomen Barmherzigkeit.

Ein Kloster mitten in der Großstadt? Ein evangelisches Kloster noch dazu? Und dann auch noch ein Kloster, das sich nicht hinter den sprichwörtlichen Klostermauern einschließt, sondern offen ist für die Nachbarschaft?
Jawohl, so etwas gibt es, wir lernen es bei der zweiten Station unserer Entdeckungsreise kennen. Wie »Gemeinsam für Berlin« im Bezirk Prenzlauer Berg gelegen, begrüßt das »Stadtkloster Segen« die Passanten mit einem riesigen Transparent über dem Eingang: »Die Kirche ist offen!«
Im August 2007 sind zwei Familien und drei Einzelpersonen aus dem beschaulichen Montmirail in der Schweiz nach Berlin gezogen, um die Idee einer Oase mitten in der Stadt in die Tat umzusetzen. Es handelt sich um Menschen, die in einer Kommunität zusammenleben, erklärt uns Georg Schubert, nachdem er uns mit angesichts des heißen Sonnentages hoch willkommenem kalten Mineralwasser versorgt hat. Wir erfahren von ihm einiges über die Geschichte dieser Kommunität und ihr Anliegen im geschäftigen Szenebezirk. »Wir wollen«, sagt er, »einen Ort als Laboratorium des geistlichen Lebens schaffen.« Vieles im »Kloster Segen« ist noch eine Baustelle, das Gebäude wurde für einen Euro erworben, muss aber nun aus eigenen Mitteln instand gesetzt, mit Leben erfüllt und unterhalten werden.
Im Bezirk leben viele Alleinstehende, überwiegend hochmobile Menschen, denen man zu ihnen angepassten Tageszeiten eine Möglichkeit anbieten möchte, mit Gott in Kontakt zu kommen. An Dienstagabenden beispielsweise gibt es kurze geistliche Impulse, im Vordergrund steht aber das stille Nachsinnen, Betrachten und schweigendes Beten über die Texte aus der Bibel. »Gott kennen lernen – aus erster Hand!« ist das Motto dieser Abende; es gibt keine Belehrung über Gott, sondern man möchte die Möglichkeit einräumen, dass Gott selbst zu Wort kommen kann.
Auch ein Glaubenskurs, der keinerlei »fromme Vorbildung« erfordert, wird angeboten, daneben Stundengebete, Andachten, Gottesdienste und – vor allem – eine Oase der Stille im Trubel der Großstadt.
Wir besichtigen Gelände und Kirche. Eine junge Frau kniet vor dem Altar, die Bibel vor sich auf den Stufen, den Kopf in den Armen geborgen, vertieft in Gedanken oder Gebet. Ein Anblick, bei dem ich weinen muss. Ich spüre: Hier begegnet jemand dem Herrn der Herren, still, erwartungsvoll, von Angesicht zu Angesicht. Meine Tränen sind Tränen der inneren Anteilnahme, plötzlich ist mir etwas von der Gegenwart Gottes spürbar. Und es sind Tränen der Dankbarkeit für diesen Ort, den eine Handvoll Christen aus der Schweiz meiner Stadt schenkt.

Wir machen uns auf den Weg in den Stadtbezirk Wedding, die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dauert runde 50 Minuten. Diese sind für mich gefüllt mit einem tiefgehenden Gespräch mit zwei Teilnehmern unseres »Berlin missional« Abenteuers. Später, bei der Rückschau auf das Erlebte, werden mir diese Gespräche mit das Eindrucksvollste und Bewegendste sein. Ein mitunter geradezu seelsorgerlich-intimer Gedankenaustausch mit Menschen, die ich bis zu diesem Wochenende nicht kannte – dass das möglich ist, liegt sicher auch an dem Hunger nach einem relevanten Christsein, der uns alle veranlasst hat, dabei zu sein. Dadurch dürfen und können wir wohl so offen, so ehrlich miteinander unter vier oder sechs Augen reden. Für mich ist das ein wertvolles und unerwartetes Geschenk.

Als wir im Soldiner Kiez ankommen, ist ein Straßenfest mit buntem Programm von Altberliner Spottliedern, zum Leierkasten gesungen, bis zur Kindertanztruppe schon in vollem Gang. Organisiert wurde es von der »Imagekampagne Soldiner Kiez«, deren Projektleiterin Kerstin uns herzlich begrüßt.
Sie fühlt sich einer freikirchlichen Gemeinde ziemlich weit weg in einem anderen Stadtteil zugehörig, und sie hat ein ganz großes und ganz offenes Herz für diesen Bezirk, der vor ein paar Jahren Schlagzeilen machte, weil sich Polizisten nicht mehr als Einzelne auf die Straßen trauen konnten. Die Gewalt und der Hass hatten überhand genommen.
Kerstin sah es und schaute nicht weg, sondern hin. Sie engagierte sich und wählte ganz bewusst ihre Wohnung genau hier, mitten unter Menschen aus 27 Nationen. Eine Statistik weist aus, dass 40% Atheisten sind, 30 % Moslems, 20% (nominell zumindest) der evangelischen Kirche angehören, 10% zählt man als »Sonstiges«.
Kerstin hat mit einigen wenigen weiteren Christen in Zusammenarbeit mit Menschen anderen Glaubens und Atheisten Erstaunliches auf die Beine gestellt. Das Image des Kiezes hat sich bereits gewandelt und über Projekte wie den »lebendigen Adventskalender«, der 2007 »in 24 Tagen um die Welt« führte, wurden auch von den Medien mit Achtung und Wohlwollen berichtet.
Geplant sind weitere größere Aktionen wie ein »schwäbischer Abend« oder ein »Ostfriesenfest«. Aber vor allem beeindruckt mich das, was gar nicht so spektakulär scheint und dennoch Wirkung zeigt. Anstatt auf einander und auf Autos, Schaufenster oder sonstiges einzuprügeln, haben die Menschen im Kiez begonnen, den Dialog mit einander zu suchen. Wer erst einmal miteinander spricht, hat den ersten Schritt zu einem friedlichen Lebensumfeld geschafft. Das ist noch nicht der ganze Weg, aber so kann er beginnen.

Ich komme am Rande des Straßenfestes mit einem Türken ins Gespräch über die selbstbespielten Videokassetten, die er für 50 Cent pro Stück anbietet.
»Alles ganz prima Spielfilme aus meiner Heimat«, berichtet er mir, »habe ich selbst aufgenommen mit Digital-TV.«
»Ich spreche aber kein Türkisch«, erkläre ich ihm.
»Das macht nix, verstehst du trotzdem, und es sind ganz tolle Bilder, türkische Landschaft, gute Schauspieler.«
Ein Palästinenser gesellt sich dazu, und auch er bestätigt mir: »Ich kann kein Türkisch, aber das sind gute Filme!« Wir plaudern eine Weile über das Filmemachen, gute und schlechte Schauspieler, man reicht mir ein zierliches Tässchen, gefüllt mit dem vermutlich stärksten Kaffee meines Lebens, dazu bringt mir eine verschleierte Frau süßes Gebäck, das, so versichert mir der Palästinenser, »unbedingt zum Mokka gehört, sonst fällst du um. Bist plötzlich tot, vom Herz.«
Ob ich aus dem Kiez stamme, will man wissen. Ich erkläre kurz, warum ich mit anderen Christen hier bin und erfahre, dass ich unbedingt wieder kommen soll. Man empfiehlt mir ein Café um die Ecke und nach einer runden Viertelstunde verabschiede ich mich. Wie leicht es doch ist, ins Gespräch zu kommen. Nur eine kleine Frage, was auf den Videokassetten zu sehen ist…

Fortsetzung folgt.