Mittwoch, 8. Oktober 2008

Bob Dylan: Tell Tale Signs

Bob Dylan hatte schon immer ein Herz für die Bootleggers. Das sind die Fans, die Konzert für Konzert mitschneiden und unter die Leute bringen, kostenlos natürlich, auch nicht verwendetes Studiomaterial wird gerne genommen. Ehrenhafte Bootleggers hüten sich davor, Material zu verwenden, das als CD oder LP offiziell veröffentlicht wurde, nach dem Motto »Keep the Bob-Boots-Lake clean - don't steal music!«
Es gibt seit Jahren von der offiziellen Bob-Dylan-Seite im Internet einen Link zu »Expecting Rain« - dort sind tausende von Bob-Boots zu finden. Bob Dylan weiß, was er da verlinken lässt, und er lobt die Musikbegeisterten: »Some of these bootleggers, they make pretty good stuff. Plenty of places to hide things here, if you wanna hide them bad enough« sang er in »Sugar Baby«.
Und im Video zum aktuellen Album »Tell Tale Signs« gibt es nicht Bob Dylan zu sehen, sondern einen Bootlegger, der fleißig sammelt und zusammenstellt, was er an Bootlegs finden kann. Wenn »Sugar Baby« noch nicht deutlich genug ausdrückte, dass His Bobness die Bootlegger schätzt und ehrt, dann ist es mit diesem Video endgültig besiegelt.

Nun ist das neue Album ein Teil der offiziellen Bootleg-Serie - und einige Fische sind prompt aus dem Bob-Boot-Teich entfernt worden, weil jetzt ja offiziell veröffentlicht. Zu hören gibt es auf »Tell Tale Signs« alternative Versionen und ein paar Live-Mitschnitte sowie Lieder, die es nicht auf die letzten Alben geschafft haben. (Es gibt noch eine überhöht teure 3-CD-Version, die rund 100 Euro kostet. Von der würde ich abraten, schon um zu zeigen, dass es gewisse Grenzen gibt, auch bei Columbia Records und Bob Dylan.)
Zu bewerten, welche Version eines Songs die bessere sei, ist immer eine sehr subjektive Angelegenheit. Und bei mir zumindest ändert sich das auch je nach Stimmung und Lebenslage. Bob Dylan selbst beweist mit jedem Auftritt, dass seine Lieder leben, immer nur eine Momentaufnahme sind. Was gestern als sanfte Ballade daher kam, kann morgen zum zornigen Rock oder zum monotonen Sprechgesang mutieren. »Fertig« sind seine Songs jedenfalls nie. Das zeigen mir auch einige Eindrücke vom vorliegenden Album (in der bezahlbaren 2-CD-Version). Nicht zu allen Songs will ich mich äußern, das würde den Rahmen sprengen...

Disk: 1
1. Mississippi
Da geht es schon los mit der Subjektivität: Gefällt mir besser, viel besser sogar, als die Version, die es auf die CD »Time Out Of Mind« geschafft hat. Heute und hier zumindest, vielleicht spricht mich morgen wieder die andere mehr an?

2. Most Of The Time
Das Album »Oh Mercy« ist mir stets ein zwiespältiges gewesen, dieser Song neben »Dignity« mein Liebelingslied unter den ansonsten eher mittelmäßigen Songs. Nun höre ich eine entschlackte Version, und kann mich nicht entscheiden, ob sie mir gefällt.

4. Someday Baby
»Modern Times« ist von den drei letzten Alben mein liebstes. Es hätte noch besser sein können, wenn diese Version von »Someday Baby« darauf gelandet wäre. Die gefällt mir nun wirklich wesentlich besser.

5. Red River Shore
Warum nur hat uns Bob Dylan oder der Produzent diesen Song bisher vorenthalten? Soooo voll war doch »Modern Times« noch nicht. Ein ganz bezauberndes Liebeslied, das ein hervorragendes Album noch bereichert hätte.

8. Can't Wait
Wie bei »Someday Baby« scheint mir nach heutiger Befindlichkeit diese Version die bessere zu sein. Es klingt, als sei His Bobness innerlich mehr bei der Sache als in der Fassung, die auf dem Album erschienen ist.

10. Dreamin' Of You
Dieser Song ist sozusagen Teig, aus dem viele Brote geformt wurden. Zahlreiche Textzeilen finden sich in anderen Songs wieder, in anderen Zusammenhängen, in anderen Stimmungen. Ein Abenteuer für jeden Bob Dylan Fan, eine Schnitzeljagd. Faszinierend.

13. High Water (For Charley Patton) - Live, 2003
Nun ja. Eine Momentaufnahme. Da gab es unter den Bootlegs der letzten Jahre einige, die mir mehr zusagten. Vielleicht hätte man bei Expecting Rain stöbern sollen, als dieses Album zusammengestellt wurde?

Disk: 2
1. Mississippi
Noch eine Version, und - das macht den Reiz dieses Albums aus - wieder eine andere Stimmung beim gleichen Song. Wie viele mag es geben? Mir gefällt die von Disk 1 besser, dann folgt diese hier und dann auf Platz 3 die vom offiziellen Album. Heute zumindest.

2. 32-20 Blues
So was kann er auch, der Bob, einen kleinen Blues für zwischendurch, nicht aufregend, aber auch nicht langweilig. Die Aufnahmequalität ist allerdings nicht ganz auf der Höhe...

3. Series Of Dreams
Diese Version ähnelt der auf dem Album »Oh Mercy«, aber die abweichende Instrumentierung und die mehr im Vordergrund stehende Stimme geben im Ganzen doch eine andere Stimmung wieder. Etwas trauriger, finde ich, und das ist ja bei Dylan Songs oft gerade das, was fasziniert.

4. God Knows
»God knows« wirkt auf mich immer, auch in dieser Fasung, wie ein Song, aus dem noch was werden könnte. Rohmaterial, so wie »Dreamin' of you«, Gedanken und Bruchstücke, die zu etwas führen könnten, was wirklich herausragend wäre. Aber Bob Dylan meinte wohl, der Song sei fertig.

7. Ring Them Bells - Live, The Supper Club, 1993
Das Supper-Club-Bootleg in meiner Sammlung ist eines meiner Lieblingsalben. Das, was als »MTV-Unplugged« ungefähr zur gleichen Zeit entstanden ist, deutet nur an, was im »Supper Club« deutlich wurde: Ein ganz und gar leidenschaftlicher Bob Dylan, der mit einer selten gehörten Intensität singt. Was bin ich froh, das komplette Supper-Club-Album mit beiden Shows zu haben. »Ring Them Bells« ist ein gut gewählter Ausschnitt.

8. Cocaine Blues - Live, 1997
Dieser Song fällt vor allem durch die recht bescheidene Aufnahmequalität auf. Hat da jemand ein Diktiergerät in die Luft gehalten? Immerhin: Schöner Harmoniegesang, aber ansonsten und auf diesem Album eigentlich überflüssig.

9. Ain't Talkin'
Wenn man diese Version einmal gehört hat, möchte man »Ain't Talkin'« von »Modern Times« ausradieren. Auf einmal wird das Lied zu einem ganz und gar mitreißenden, intimen Blick in die Seele eines Mannes, der es aufgegeben hat, mit dem Publikum der Konzerte zu reden. Und der statt dessen als Moderator der »Theme Time Radio Hour« scherzt, predigt und plaudert.

11. Lonesome Day Blues - Live, 2002
Eine sehr zornige Version eines bestürzenden Liedes, dessen Veröffentlichung am 11. September 2001 so manchen Fan davon überzeugt hat, dass Bob Dylan auch ein Prophet sein kann.

14. 'Cross The Green Mountain
Das letzte Lied dieses Albums, und - ich bin immer noch ganz subjektiv - das beste. Ein Endzeitbild einschließlich der Entrückung, ein Blick in die Seele, oder einfach nur ein wunderbarer Song, das mag jeder für sich entscheiden.

Mein Fazit: Für Fans eine reich gefüllte Schatztruhe. Für Menschen, die gelegentlich Bob Dylan hören, empfehlenswert. Für Zeitgenossen, die »Blowing in the Wind« in der 60er-Jahre Version erwarten, wenn sie den Namen Dylan hören, ungenießbar. Für jemanden, der überhaupt keine Ahnung hat, was und wie Bob Dylan heute musiziert, würde ich eher zu »Modern Times« als Einstieg raten.
Zu finden ist »Tell Tale Signs« - auch in der unverschämt teuren Version - unter anderem bei Amazon: Tell Tale Signs: the Bootleg Series Vol.8


P.S.: Zeichnung bei Croz gemopst, Coverbild bei Amazon.