Donnerstag, 19. Februar 2009

Herr K. reist nach Greifswald

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel, in einer trotz später Stunde recht belebten Einkaufsstraße, widerfuhr Daniel K. ein leider heute geradezu alltägliches Verbrechen. Er war nach Greifswald gereist, um einen Schulfreund aus der Jugendzeit zu besuchen. Die beiden trafen sich alle paar Monate, Herr K. kannte den kurzen Weg ins Hotel, daher holte ihn sein Freund nicht am Bahnhof ab. Es waren ja nur 10 Minuten zu gehen.
Aus einer Kneipe kamen drei überwiegend in schwarzes Leder gekleidete Jugendliche, sahen ihn mit seinem Rollkoffer die Straße entlanggehen. Sie gingen davon aus, dass dieser Fremde womöglich eine lohnende Beute mit sich führen mochte.
Einer der Angetrunkenen fasste Herrn K. von hinten um den Hals, ein anderer entriss ihm den Griff des Koffers. Der dritte ließ ein Messer aufschnappen. »Kein Mucks, du Schwein! Sonst stech ich dich ab!«
Herr K. wehrte sich, instinktiv und aus Panik. Bei klarem Verstand hätte er womöglich stillgehalten, aber der Schreck traf ihn zu unvorbereitet. Er konnte wegen des Würgegriffes nicht schreien, aber er bäumte sich gegen die Umklammerung auf und trat mit dem Fuß nach dem vor ihm stehenden Angreifer.
Nun ging alles so schnell, dass Herr K. kaum mitbekam, was mit ihm geschah. Die drei stießen ihn in einen Hauseingang, das Messer bohrte sich erst in den rechten Oberarm und dann in den linken Oberschenkel. Eine Hand suchte nach der Brieftasche, die er im Jackett trug. Der Jugendliche zerrte und zog, dann riss er den Stoff der Anzugjacke auf und schaute sich den Inhalt der Brieftasche an. Kreditkarten und Ausweise interessierten ihn nicht, er war auf Bargeld aus. Das war jedoch nicht zu finden.
Er stieß Herrn K. den Ellenbogen ins Gesicht. »Gib dein Geld her, du Schwein!«
Eine Antwort war dem Überfallenenn nicht möglich, da er im Würgegriff kaum noch Luft bekam. Einer der Räuber tastete nach dem Portemonnaie in der Gesäßtasche, zog es heraus und zeigte seinen Genossen die wenigen Geldscheine, die er vorgefunden hatte.
»Nur 150 Euro? Wo hast du dein Geld versteckt, Schwein?«
Der Griff um den Hals lockerte sich und Herr K. krächzte: »Mehr habe ich nicht bei mir.«
Der Ellenbogen traf erneut sein Gesicht, eine Faust schlug ihn in den Magen. Herr K. fiel zu Boden.
Die Jugendlichen leerten seinen Koffer aus, wühlten in den Kleidungsstücken und fanden nichts von sonderlichem Wert.
»Zieh dich aus!«, befahl der Wortführer.
Herr K. richtete sich mühsam auf und gehorchte. Anzug und Hemd wurden auf verstecktes Geld abgetastet. Auch die Unterwäsche musste er ablegen. Es fand sich kein weiteres Geld.
Die drei Angreifer nahmen seine Armbanduhr an sich, kein kostbares Stück, auch sein Mobiltelefon, ein älteres Modell, stopften sämtliche Kleidungsstücke samt den eben abgelegten in den Koffer. Dann wandten sie sich samt Gepäck zum Gehen. Herr K. kauerte im Hausflur, hoffte, dass der Alptraum nun vorbei sei. Da traf ihn von hinten ein gewaltiger Schlag auf den Kopf und er sank bewusstlos auf die Steinfliesen.

Wenige Minuten später kam eine Theologiestudentin auf dem Weg zu einer Diskussionsgruppe die Treppe hinunter. Sie war spät dran. Als sie den blutverschmierten nackten Mann im Flur liegen sah, stockte ihr Schritt. »Oh mein Gott, was ist denn das?« Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche, um einen Notruf abzusetzen. Das Display blieb trotz Druck auf den Einschaltknopf dunkel. »Scheiße, wieder nicht aufgeladen...«, murmelte sie. Sie machte einen großen Bogen um Herrn K. und trat aus der Haustüre. Sie war wirklich spät dran. Sicher kam bald jemand anderer vorbei, der dann die Polizei holen konnte...

Im dritten Stockwerk wohnte ein Lehrer, der vierzehn Minuten später das Haus betrat. Er sah Herrn K., auch er zögerte einen Moment. Sein Mobiltelefon funktionierte, er drückte die SOS-Taste. Als die Verbindung aufgebaut war, sagte er: »Hier liegt ein nackter, blutiger Mann im Hausflur. Schicken Sie bitte Rettungskräfte.« Dann beendete er das Gespräch. Er hatte jetzt keine Zeit, wollte schnell noch duschen, bevor die bestellte Prostituierte kam. So etwas wie blutende Nackte überließ man besser den Profis. Er stieg die Treppe hinauf, als ihm einfiel, dass er überhaupt nicht gesagt hatte, wohin die Rettungskräfte kommen sollten. »Na ja, die haben ja Geräte, mit denen sie den Ort des Notrufes anzeigen können. Die werden den Weg schon finden...« Der Lehrer ging duschen.

Gerade als Herr K. wieder das Bewusstsein erlangte, betrat die Prostituierte das Haus. »O mój wielki Boże«, entfuhr es ihr, »biedactwo!« Sie ließ ihre Handtasche fallen und beugte sich zu ihm hinunter. »Sie sind verletzt. Ich hole Hilfe«, versprach sie. Herr K. war noch zu benommen, um zu antworten. Er hatte Mühe, überhaupt zu begreifen, wo er war und warum.
Die junge Frau nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte Herrn K. über die Stirn. Sie zog ihren Mantel aus und bedeckte damit seinen Körper. Aus ihrer Jeanstasche zog sie ein Mobiltelefon und drückte eine Taste. Sie sprach kurz auf Polnisch mit jemandem, dann steckte sie das Gerät wieder ein. »Können Sie aufstehen? Ich habe ein Auto vor der Türe.« Herr K. rappelte sich mühsam auf. Die Frau wickelte ihm ihren Mantel um die Hüften und geleitete ihn langsam zu einem kleinen Renault.

Am nächsten Vormittag verließ Herr K. die Wohnung des Arztes, zu dem ihn die Prostituierte gebracht hatte. Die Stichwunden waren sofort nach seiner Ankunft gereinigt und verbunden worden, der Mann hatte ihn untersucht und keine Brüche feststellen können, dann fand Herr K. ein Nachtlager im Gästezimmer der Familie. Ein Schlafanzug hatte bereitgelegen. Beim Aufwachen fand Herr K. Wäsche und Kleidung auf dem Stuhl neben dem Bett, ein wenig zu groß alles, aber dankbar zog er sich an.
Der Arzt wies jedes Ansinnen auf eine Rechnung weit von sich. »Die junge Dame hat für die Behandlung bezahlt, auch die Medikamente, die ich Ihnen zur Vermeidung von Entzündungen mitgebe. Hier ist noch Verbandmaterial für die nächsten Tage.«
»Ich würde gerne die Adresse der Frau haben«, sagte Herr K. beim Abschied, »ich möchte ihr die Kosten erstatten, mich bedanken.«
»Sie hat mich ausdrücklich darum gebeten, genau dies nicht zu tun. Sie ist illegal in Deutschland, deshalb hat sie auch nicht den Notarzt angerufen. Mit Behörden kann und will sie nichts zu tun haben. Sie ist Verkäuferin in Świnoujście, arbeitet aber an den Wochenenden hier als Prostituierte, um ihrer krebskranken Mutter in der Heimat die Medikamente zu finanzieren. Ihr reguläres Einkommen reicht nicht dafür. Sie wünscht Ihnen gute Besserung. Hier sind noch hundert Euro, damit Sie irgendwie weiter oder nach Hause kommen.«

Sprachlos, mit Tränen in den Augen, trat Herr K. auf die Straße.


P.S.: Herzlichen Dank an meinen Arbeitskollegen Jakub P., der mir polnische Worte verraten und erklärt hat.

8 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Gut geschrieben, aber es muss natürlich eine Stadt im Osten sein ...oder im Norden?

Günter J. Matthia hat gesagt…

Hallo Thomas,

ich war gezwungen, Greifswald zu nehmen. Denn der gute Samariter sollte ja nun mal eine polnische Prostituierte sein, also brauchte ich Grenznähe. Dazu kam, dass eine Theologiestudentin auftritt - also Grenznähe plus theologische Fachhochschule. Ich habe zuerst nach bayerischen Orten gesucht, die passen, aber keine gefunden. München schien mir denn doch zu weit von der polnischen Grenze entfernt, Augsburg ebenso.

Frankfurt / Oder hat kein theologisches Seminar, aber Greifswald. So kam das zustande...

Thomas-BDD hat gesagt…

Hallo Günter,
warst Du selbst in Greifswald? Dort gibt es nämlich einen Prof. Michael Herbst, der wie ich finde sehr bemerkenswert ist, obwohl ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. So lehrt er praktische Theologie, u.a. Gemeindeaufbau. Interessante Bücher hat er auch geschrieben. Jedenfalls wäre ich froh, wenn es mehr solcher Theologieprofessoren gäbe. Ich weiß nicht, ob Du dieses theologische Seminar gemeint hast, denke aber ja. Das ist es auch wert, sich damit zu befassen!

(http://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Herbst; http://www.theologie.uni-greifswald.de/institute/ieeg.html)

Deine Begründung für die Ortswahl finde ich echt gut, im "Original" wird es aber wohl tatsächlich so gewesen sein, wie es dort geschrieben steht ;->

Viele Grüße,
Thomas

Günter J. Matthia hat gesagt…

Hallo Thomas,

nein, in Greifswald war ich nie. Ich habe einfach gegoogelt, an welchen Orten es theologische Seminare etc. gibt, und dann die Fundstellen geographisch beäugt...

Im »Original« tritt ja ein Samariter auf - damals gesellschaftlich geächtet von den »feinen Leuten« und »rechtschaffenen Bürgern«. Da lag es nahe, zu überlegen, welche Personen denn heute verachtet werden. Meine Wahl fiel auf besagte junge Dame.

Anonym hat gesagt…

Alex schrieb:

Lieber Günter J. Matthia,

mir als Atheistin kommt die Geschichte etwas zu konstruiert vor. Aber einen Christen gefällt sie bestimmt und allen kann man es ja eh nicht recht machen.

Viele Grüße
Alex

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Ich antwortete:

Hallo Alex,

nun ja, konstruiert ist sie durchaus, die Geschichte. Und - so weit ich das überblicke - sie hat ja nun rein gar keinen religiösen Bezug oder Unterton (abgesehen davon, dass das Original in der Bibel steht). Oder siehst Du irgendwo eine religiöse Botschaft?

Es grüßt Günter

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Astrid schrieb:

schön geschrieben und ...für mich nicht einmal uthopisch anmutend...

Liebe Grüße Astrid

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Ich antwortete:

Danke, Astrid,

es soll ja solche Menschen wie die junge Dame aus Polen geben. Zu selten, aber immerhin.

Mit Grüßen

Günter

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Manfred schrieb:

Guten Morgen, Günter,

Ja, klar, die Geschichte, sie ist literarisch handwerklich gut erzählt.
Nur, was soll sie, fast deckungsgleich mit dem „Beispiel vom barmherzigen Samariter“ erzählt, sagen? Was schon im Original leicht klischeehaft wirkt, im Grunde ein bösartiger Seitenhieb des Lukas, hier ganz besonders.
Dort der Priester und Levit und der Mann aus Samarien. Und hier das gute Freudenmädchen, die gibts bestimmt, und die, ja geradezu ´unmenschliche´ Theologiestudentin und Lehrer, auch die gibts bestimmt.
Eine doch für mich entäuschende Geschichte, was den Inhalt und Aussage betrifft.

Mit Grüssen,
Manfred

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Astrid schrieb:

Die Zicke widerspricht Dir, mein lieber Manfred...

Solche Geschichten können in kalter Zeit gar nicht oft genug geschrieben werden...

Und unser Freund tat es wohl und sehr gut.

Liebe Grüße

Astrid (genesen von Norovirus und Armbruch)

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Manfred schrieb:

No, Problem, liebe Astrid

solche Geschichten können in kalter Zeit gar nicht oft genug geschrieben werden...

Sicher, nur in diesem Falle, ich ziehe Lukas 10, 25-37 dann vor, weil es Original ist und keine für mich etwas schwache Nacherzählung, welche Günter hat geschrieben. Weil es in erster Linie auch einfach ein Klischee ist, wie übrigens auch im Original.

Dir noch ein angenehmes Wochenende,
Manfred

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Ich antwortete:

Natürlich ist es ein Klischee. Na und? Gerade für junge Leute finde ich solche Geschichten überaus notwendig. Heute identifiziert sich ja kaum noch ein Jugendlicher mit dem Gleichnis über Levit, Priester und Samariter. Aber die Grundaussage war damals genauso wichtig und richtig wie heute. Das Gleichnis in die jetztige Zeit zu übertragen, ist meines Erachtens nach kein schlechter Ansatzpunkt. Abgesehen davon, dass mich die Geschichte von damals genauso berührt wie Günthers Neufassung. Mir gefällt`s.

Liebe Grüße, Günter

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O. schrieb:

Hallo Guenter,

der erste Teil der Geschichte, also bis der Ueberfallene bewusstlos geschlagen wird, enthaellt fuer meine Geschmack das Word “Jugendliche “ zu oft. Wenigstens mir hat es aufgestossen. Die Prostituierte geht weit darueber hinaus, ueber das was man von einem Menschen in ihrer Situation erwarten kann. Ist natuerlich Absicht, traegt aber dazu bei, dass die Geschichte von den Lesern als Neufassung der biblischen Erzaehlung gewertet wird und manche (Mande) das Original vorziehen. Die Leute, die sich nicht um den Mann kuemmern sind dagegen trefflich skizziert.
Alles in allem eine interesante Geschichte, die den Leuten ins Gewissen reden soll, auch denen , die keine Bibel lesen.
Herzliche Gruesse

O.

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Ich antwortete:

Ich hatte Mühe, den Begriff Jugendliche zu vermeiden. Ich habe mal »Angreifer« gesagt, mal »die Drei... - aber es stimmt, es könnten noch ein oder zwei Ersetzungen folgen...«

Gruß, Günter

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Manfred schrieb:

Günter, lasse es mich ganz einfach sagen.
Das solche Themen wohl wichtig sind, klar.
Mein Einwand ist eigentlich nur der. Dein Beitrag als Literatur, ich fand es schwach. Denn ich kenne ja die anderen Beitäge von dir hier im Forum, die für mich bedeutend besser sind!
Mehr nicht, mein statement. Auch nicht weniger. Vielleicht, ich liege falsch. Doch, ist mein Eindruck.

Mit Grüssen,
Manfred

P.S.:
Übrigens, bei deinen Herr K. ich musste unwillkürlich immer an Brechts Herrn K. denken, trotzem es nichts mit deinem wohl etwas zu tuen hat.

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Ich antwortete:

Nun ja, den einen gefällt es, was mich freut, den anderen nicht, was natürlich schade ist.
Es gibt zahlreiche Geschichten, die immer wieder erzählt werden sollten, weil der Anlass, sie zu erzählen, nicht weicht.
Vor ein paar Wochen ist jemand hier in Berlin, wo Millionen Menschen wohnen, erfroren. Wie viele sind an ihm vorbei gegangen, womöglich mit einem großen Bogen? Wie vielen hatten ein Telefon in der Tasche? Hat überhaupt jemand sich Gedanken gemacht, ob der Mann dort auf der Straße in seinem schäbigen Mantel die bitterkalte Nacht überstehen wird? Hat jemand ihn angerührt und gefragt: Brauchen Sie Hilfe?
Es war ja "nur" ein Obdachloser...

@mande: Ich bin ja nicht böse, wenn Du diesen Text weniger gelungen findest. Überhaupt nicht! Vielleicht liegt es daran, dass ich eher im Berichtstil geschrieben habe als erzählend? Ich wollte damit eine gewisse Nüchternheit versuchen.

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Manfred schrieb:

Natürlich, du bist nicht böse. Böse Schriftsteller sind nachtragend. Gute Schriftsteller sind es nicht, oder sollten es nicht sein.
Natürlich gibts Ausnahmen.
Günter Grass contra Marcel Reich-Ranicki! ´Ein weites Feld´
Wie böse war da dein Vornamensvetter als Marcel Reich -Ranicki das Buch auf dem Spiegelumschlag bildlich zerriss!

Schönes Wochenende noch.

Manfred

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Anonym hat gesagt…

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen und hat mich emotional sehr berührt, gut geschrieben weiter so :))

Mit freundlichem Gruß
Jakub P.

Alex hat gesagt…

Ich bin über Mandys Blog auf deine Geschichte gestoßen. Danke dafür! Sie hat mich tief berührt.

Günter J. Matthia hat gesagt…

Das freut mich, Alex! Beste Grüße, Günter