Mittwoch, 9. September 2009

Auch kein Patentrezept: Gesund ohne Glauben

Über Sinn und Unsinn von Patentrezepten mit Wirkungsgarantie kann man geteilter Meinung sein.
Die einen lieben solche Rezepte, weil sie reichlich Geld damit verdienen: »Ihr Leben wird sich lohnen, wenn Ihr Penis ein Stück wächst«, »Mit uns wachen Sie gesund auf, auch wenn sie krank ins Bett gehen«, »So bekommen Sie jetzt ein Beförderung«… - einige Beispiele aus dem Spam-Ordner von heute.
Die anderen sind genervt, weil sie wissen, dass derartiger Unsinn nicht zur versprochenen und teuer bezahlten Wirkung führt.
Und dann gibt es offenbar auch noch diejenigen, die auf solche Rezepte hereinfallen – sonst wären die diesbezüglichen Anbieter längst pleite.

Jedoch nicht jeder, der Patentrezepte verteilt, ist ein Gauner. Es gibt zwar einerseits die knallhart kalkulierenden Geschäftemacher, aber es gibt auch diejenigen, bei denen etwas funktioniert hat, und die nun ihr Erlebnis oft genug in gutem Glauben als Rezept anpreisen, das für alle Menschen funktioniert. Auch in manchen christlichen Kreisen findet man solche und solche Rezeptverkünder. Zum Beispiel: »Jede Krankheit wird geheilt, wenn XXX und YYY gegeben sind«. Entweder XXX oder YYY wird in der Regel so umschrieben, dass »genug Glaube« vorhanden sein muss.

Im Johannesevangelium findet sich ein Text, der solche Thesen ad absurdum führt. Es gibt weiterte ähnliches aussagende Bibelpassagen, dieser ist jedenfalls schön eindeutig. Kapitel 5, 1-9:
(1) Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. (2) Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; (3) in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. (5) Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. (6) Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? (7) Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. (8) Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! (9) Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat.
Jesus stellt eine ganz einfache Frage, auf die eine ganz einfache Antwort möglich wäre. »Willst du gesund werden?«
Darauf reicht ein simples »Ja« oder »Nein«.
Statt dessen gibt jedoch der Kranke eine längere Erklärung ab: »Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.«
Eine etwas irritierende Antwort auf die einfache Frage, ob der Mann gesund werden möchte oder nicht.

Ach ja, noch etwas ist hier irritierend: Wo ist eigentlich Vers 4 geblieben? Normalerweise kommt in der Bibel nach einem Vers 3 und vor einem Vers 5 ein mit der 4 nummerierter Textteil. An dieser Stelle in den meisten Übersetzungen nicht. Man findet ihn allerdings bei Luther und in der Elberfelder als Fußnote, da steht dann nämlich:
… lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte und warteten auf eine bestimmte Bewegung des Wassers, (4) denn von Zeit zu Zeit kam ein Engel des Herrn und bewegte das Wasser. Und wer danach als Erster ins Wasser stieg, wurde geheilt.
Mit dieser (umstrittenen und deshalb in vielen Bibelausgaben nicht enthaltenen) Ergänzung scheint dann die Antwort des Kranken schon etwas verständlicher zu sein. Er sagt sinngemäß: »Ich würde ja wollen, sonst läge ich nicht hier an diesem Tümpel herum, und wenn du die Umstände kennen würdest, hättest du nicht solch eine komische Frage gestellt. Man muss darauf warten, dass da ein paar Wellen schwappen und dann der erste im Wasser sein. Ich habe einfach keine Chance, und je länger ich hier krank herumliege, desto schwächer werde ich.«

Das Ganze ist schon eine absonderliche Episode im Johannesevangelium. So eine Art Wettlauf: Der erste wird geheilt, egal welches Gebrechen ihn plagt, der Pokal für den besten Sprinter ist Gesundheit. Silber- und Bronzemedaillen gibt es leider nicht. (Manch ein Theologiegebäude müsste bei solchen Texten in sich zusammenstürzen.)

Doch zurück zum Gespräch am Teich. Wie mag der Kranke sich gefühlt haben? 38 Jahre wartet er krank in Betesda, mit der Hoffnung, dass ihn irgendwann jemand freundlicherweise als ersten ins Wasser trägt. Pustekuchen, wer von den Kranken laufen kann, wird selbst lossprinten, sobald sich da etwas im Teich bewegt – schließlich liegt hier niemand aus Barmherzigkeit auf der Lauer, sondern weil er selbst ein Leiden hat.
Und nun kommt dieser Unbekannte und fragt den Mann, ob er geheilt werden möchte oder nicht.
Eigentlich eine angesichts der Situation ziemlich unangebrachte Frage, auf die man nicht unbedingt überhaupt antworten muss. Vermutlich hat er aber aus der Stimme des Fragenden Mitleid, Anteilnahme herausgehört, womöglich hat er das auch als Motivationsversuch eines Unwissenden verstanden: »Reiss dich mal zusammen, warum liegst du hier nach 38 Jahren immer noch krank herum?«
Daher seine defensive Erklärung, die man ihm ja nicht vorwerfen kann: »Hey, Moment mal, mich trägt ja keiner runter zum Wasser und bis ich selbst hingekrochen bin, ist es zu spät. Ich habe es tausendmal versucht, aber es hat nie geklappt.«
Er bittet mit seiner Antwort um Verständnis, um Nachsicht mit seiner Situation, die er vermutlich nicht (durch ungesunden Lebenswandel oder ähnliches) verschuldet hat – und die er auch nicht ändern kann. Die Regeln sind ja nicht auf seinem Mist gewachsen: The winner takes it all. Es fehlt dem Mann, und auch das ist ihm nicht vorzuwerfen, an Vorstellungsvermögen bezüglich dessen, was Jesus ihm hier anbietet.
Aus dem weiteren Bericht im Evangelium geht hervor, dass der Kranke keine Ahnung hat, wer ihm diese unpassende Frage stellt. Er wird später gefragt, wer ihn denn geheilt hätte. »Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war«, heißt es in Vers 13.

Der Kranke ist völlig außer Stande, zu verstehen, dass derjenige, der vor ihm steht, das lebendige Wasser ist, dass gar keine Notwendigkeit besteht, auf jenen ominösen Wasserengel zu warten und dann blitzschnell in den Teich getragen zu werden.
Daher sagt er weder ja noch nein auf die einfache Frage, ob er geheilt werden möchte.
Der Mann besitzt mit Sicherheit keinen Glauben an seine Heilung oder an die Vollmacht des Fragenden. Vielleicht hofft er, dass dieser kräftige und dem Augenschein nach gesunde Mann ihn ins Wasser trägt, aus Mitleid, aber da sich dort gerade nichts bewegt, ist das aussichtslos. Man muss ja den richtigen Wellengang abwarten.
Andere Anwesende haben ebenfalls keinen Glauben. Womöglich hören andere Wartende der Unterhaltung zu, heißt es doch im Text dass »viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte« am Teich liegen, als Jesus dort vorbeikommt. Dass irgend einer von ihnen Jesus ge- oder erkannt hätte, davon ist nicht die Rede. Also ist hier, soweit es um Glauben geht, absolute Ebbe. Oder Flaute, um beim bewegten Wasser zu bleiben.

Das überraschende an dieser Situation ist, dass Jesus ihn trotzdem heilt – obwohl oder weil er weiß, dass dieser Mann gar nicht über die Möglichkeit verfügt, eine einfache Antwort »ja, ich will gesund werden«, zu geben.
Jesus heilt ihn darüber hinaus ungefragt. Weder der Kranke noch sonst jemand hat darum gebeten. Niemand hat den Mann zu Jesus gebracht mit dem Wunsch, dass er ihn gesund machen würde.

Es geht im Johannesevangelium an dieser Stelle gar nicht so sehr um diese Heilung, sondern um den zweifachen Tabubruch: Der Mann trägt seine Matratze am Sabbat nach Hause und wird prompt damit erwischt. Aufgefordert zu diesem Gesetzesverstoß hat ihn derjenige, dessen Namen er nicht einmal erfragt hat und der jetzt verschwunden ist. Jesus hat wieder einmal die eisernen Gebote seiner Religion verletzt (indem er am Sabbat heilt) und noch dazu jemanden angestiftet, ein Gesetzesbrecher zu werden (indem er ihm aufträgt, die Matratze mitzunehmen, wenn er geht).

Auf etliche Fragen gibt dieser Text keine Antworten her:
  • Wieso wird nur dieser eine Mann geheilt, wenn dort »viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte« am Teil liegen?
  • Wie haben sich diejenigen gefühlt, die Jesus krank am Teich hat liegen lassen?
  • Kann dieser ominöse Engel, der gelegentlich eine Heilungslotterie in Form eines Wetterennens zum Teich veranstaltet, eigentlich ein Engel Gottes sein?
  • Wenn ja, ist das gerecht?
Aber eine Frage beantwortet der Text immerhin:
  • Muss man selbst, muss irgendjemand unbedingt Glauben haben, damit eine Heilung geschieht?
Wenn dir jemand wieder mal das Patentrezept zur Heilung anbietet, in dem Glaube als Verordnung vorkommt, dann ist die Antwort ein klares, lautes und unmissverständliches »Nein!«

Das heißt natürlich nicht, dass Glaube schädlich oder einer Genesung hinderlich wäre. Es heißt nur, dass es nicht an deinem mangelnden Glauben liegt, wenn das Patentrezept versagt, wenn du krank bist und auch bleibst.

Bildquelle: Hungertuch Betesda von Sieger Köder