Dienstag, 15. September 2009

Gott verstehen

Ich fühle mich nicht zu dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen. -Galileo Galilei
Mancher behauptet von sich, Gott zu verstehen. Daraus leitet er dann Rezepte und Anleitungen ab, wie der Rest der Menschheit Gott verstehen kann und soll.
Womöglich haben solche Gottversteher Erlebnisse gehabt und Erfahrungen gemacht, die durchaus echt sind. Anschließend gehen sie davon aus, dass ihnen ein Wissen zuteil geworden ist, das sie nun weitergeben sollen und müssen.
Ich halte es gar nicht für verkehrt, von solchen Ereignissen zu berichten, gefährlich wird es nur dann, wenn aus der persönlich erlebten und zutreffenden Erkenntnis etwas entwickelt wird, was allgemein verbindlich sein soll.
Warum sich über das Verstehen Sorgen machen? Wenn Du es verstehst, ist es nicht Gott. -Augustinus von Hippo
Gott lässt sich nicht so einfach in die Form zwängen, die wir ihm, den jeweiligen Umständen gemäß, gerne geben wollen. Nein, Moment mal, das ist falsch. Er lässt sich überhaupt nicht in Formen zwängen.

Der sprichwörtliche kindliche Glaube an den »lieben Gott« - wenn er im Leben nie erschüttert wird, dann kann man den Menschen, dem ein solches Leben beschieden ist, nur für einen ausgesprochenen Glückspilz halten. Doch das dürfte die Ausnahme sein. Die meisten Menschen werden irgendwann - und meist mehr als einmal - feststellen, dass Gott nicht so handelt, wie wir es gerne hätten oder wie er unserem Gottesbild gemäß eigentlich handeln müsste.
Selbst derjenige, dem selbst nichts derartiges widerfährt, muss zum Beispiel angesichts dessen, was William Stearns beziehungsweise seiner Familie zugestoßen ist, nachdenklich werden:

William und Amy Stearns sind die Autoren des Buches »2020 Vision: Amazing Stories of What God Is Doing Around the World«, neben zahlreichen anderen Publikationen. Sie haben weltweit Gemeinden gegründet und Mitarbeiter geschult, sind beteiligt an Projekten, die Menschen in der missionarischen Arbeit schulen. Vor einem Jahr konnten William und Amy nach glücklicher, aber lange kinderloser Ehe endlich und überraschend zwei Kinder adoptieren. Dann folgte eine Augenoperation, die William vor dem Erblinden bewahrte. Am 1. Juli 2009 wurde ein Hirntumor diagnistiziert, der schnell aggressiv wurde. Am 3. September bat Amy Freunde um Gebet, weil sich der Tumor auf das Gedächtnis und die Wortfindung auszuwirken begann - für William als Autor eine Katastrophe. Dann ging es sehr schnell, er starb vor wenigen Tagen. Zurück bleiben seine Frau, die beiden kleinen Kinder und viele Pläne für Missioneinsätze und Schulungen, die der Tod zertrümmert hat. (Mehr dazu bei Kerstin Hack: Trauer)

Im Grunde hat man zwei Möglichkeiten, wenn Gott mit seinem Handeln oder Nichthandeln unverständlich ist. Man kann entweder dem Verstand vertrauen und folglich nicht mehr an Gott glauben, oder man entscheidet sich, trotzdem und weiter an den zu glauben, der so unbegreiflich ist.
Dazu muss man den Verstand noch nicht einmal ausschalten, sondern im Gegenteil sogar benutzen. Man muss nämlich verstehen, dass Gott nicht zu verstehen, aber dennoch da und sogar bei uns ist.
Natürlich passt das nicht zur einfältigen »Theologie«, die von vielen Menschen verkündet wird, von solchen nämlich, die Rezepte parat haben, wie Gott »funktioniert«.
Diese Leute würden sagen, dass Amy und William Stearns »nicht genug Glauben« hatten, oder dass da eine »verborgene Sünde« das heilende Eingreifen Gottes verhindert hat. Sie würden, die deutsche Sprache verhunzend »Unvergebenheit« wittern oder zum letzten Strohhalm greifend behaupten, dass William durch diesen unzeitigen Tod »vor Schlimmerem bewahrt« wurde. So kann man nämlich den Schwarzen Peter ganz bequem weiterreichen und das eigene Glaubenskonstrukt bleibt stehen.
Falls Gott die Welt geschaffen hat, war seine Hauptsorge sicher nicht, sie so zu machen, dass wir sie verstehen können. -Albert Einstein
Mir sind Menschen wie Reinhard Bonnke lieber. In seiner zum Jahresende 2009 erscheinenden Autobiographie schildert er zahlreiche Heilungswunder, die seinen evangelistischen Dienst begleiten. Genauso schildert er den langsamen und für die ganze Familie qualvollen Tod seiner eigenen Mutter, die trotz jahrelanger Gebete keine Heilung erlebte. Er schildert auch die schleichende Krankheit seines eigenen Bruders, die sich nicht aufhalten lässt; beim Erscheinen des Buches ist sein Bruder, schreibt Bonnke, vermutlich bereits tot. Es ist der gleiche Reinhard Bonnke mit dem gleichen Glauben, der für die Mutter, den Bruder und diejenigen betet, die tatsächlich geheilt werden. Er schreibt unumwunden und ehrlich, dass er Gott nicht versteht. Und glaubt immer noch. Und geht weiter hinaus, um das Evangelium zu verkünden.

Ich nehme mir lieber an solchen Menschen - ob nun prominent wie Bonnke oder nicht - ein Beispiel, als an Gottverstehern, die ihre famosen Rezepte aus der Tasche ziehen und alles wissen. Oder zu wissen meinen.