Samstag, 19. September 2009

John Matthews in Hamburg

Da er gestern auf diesem Blog musikalisch in Erscheinung treten durfte, habe ich ein wenig über John Matthews, mein abgelegtes alter ego, nachgedacht und ein wenig in meinem Buch »Es gibt kein Unmöglich!« gestöbert, in dem John Matthews, der Musiker, eine nicht unerhebliche Rolle spielt.
Dabei stieß ich auf die folgende Szene, die mir in Hamburg widerfahren ist. Ich war auf dem Weg von Amsterdam nach Berlin, drogensüchtig, halb verhungert, am Ende der Kräfte. Und dann traf ich eine Familie, die anders war als viele andere. Wer weiß, ob ich heute noch am Leben wäre, ohne diese Begegnung.
Das Buch erzählt meine Geschichte in der dritten Person - wenn es »er« heißt, bin das ich. Gewesen. Damals in Hamburg:

Er landete in Hamburg, streifte einsam durch die Straßen. Mehr als der Hunger, an den er längst gewöhnt war, quälte ihn der Durst. Er betrat eine Apotheke und bat um ein Glas Wasser, bekam es, dazu ein paar Traubenzuckerstücke. Die Apothekerin war besorgt wegen seines Aussehens und bot an, einen Arzt zu rufen.
„Nein, danke”, murmelte er und ging wieder.
An einer Ecke lehnte er sich an einen Gartenzaun und sank langsam auf den Boden. Es ging nicht mehr weiter.
Johnny schloss die Augen und versuchte, das Schwindelgefühl abzuschütteln. Hinter den geschlossenen Lidern tanzten weiße Punkte in der Dunkelheit.
„Möchtest du einen Keks?” fragte eine ängstliche Stimme.
Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Vor ihm stand ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, und hielt ihm eine Tüte mit Gebäck hin.
„Nein, ich sterbe lieber. Lass mich in Ruhe.”
Der Junge schüttelte empört den Kopf. „Man stirbt nicht auf der Straße. Dazu geht man ins Krankenhaus. Das hat mein Opa auch so gemacht.”
„Hau ab, verdammt noch mal. Lass mich in Ruhe.”
Der Junge blieb stehen. Energisch sagte er: „Nein. Wenn du sterben willst, dann nicht an unserem Gartenzaun. Das gehört sich nicht. Außerdem bist du gar nicht so alt wie mein Opa.”
Johnny schloss wieder die Augen. Er fror trotz der Sonne und hatte keine Kraft mehr, zu widersprechen.
Die Stimme klang auf einmal sehr ängstlich. „Du stirbst doch nicht wirklich? Oder? Du machst doch nur Spaß?”
Nach Spaß war Johnny nun absolut nicht mehr zumute. Er schüttelte langsam den Kopf.
„Warte mal hier, lauf nicht weg.”
Das Kind verschwand um die Ecke. Johnny lachte müde, selbst wenn er weglaufen wollte, kam er momentan nicht auf die Beine.
Er hörte nach einer Weile, wie die Stimme des Kleinen aufgeregt plappernd wieder näher kam. Er redete auf jemanden ein, dass da ein langhaariger Typ am Gartenzaun saß und sterben wollte, was aber gar nicht gut sei.
Johnny fühlte eine Hand auf seiner Stirn, es griff jemand nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls. Mühsam bekam er die Augen auf.
Man sah auf den ersten Blick, dass dies die große Schwester des Jungen sein musste, die Ähnlichkeit war verblüffend. Die flachsblonden Haare, die Stupsnase, die blauen Augen, die hohe Stirn.
„Können Sie aufstehen?” fragte das Mädchen. Sie mochte dreizehn sein, höchstens.
„Ich weiß nicht. Ich kann es versuchen.”
Sie stützte ihn und er kam wieder auf die Füße, hielt sich am Zaun fest. Alles drehte sich.
„Tobias, hilf mir mal.” sagte sie und die beiden Kinder führten ihn langsam zum Gartentor und in ihr Haus.
„Er wollte keinen Keks”, erklärte Tobias bekümmert, „ich habe es versucht.”
„Setzen Sie sich da auf den Stuhl”, befahl das Mädchen, als sie in die Küche kamen. Johnny war froh, dass er nicht mehr stehen musste.
„Ich laufe schnell zu Mama”, sagte sie zu ihrem Bruder, „warte hier”.
„Und wenn er doch stirbt, was mache ich dann?”
Johnny sagte: „Keine Angst, Tobias, es ist schon besser. Gleich geht es mir wieder gut.”
„Du hast nicht so eine Trobodingsbums wie Opa, oder?”
„Nein, bestimmt nicht. Wie heißt denn deine Schwester?”
„Antje. Sie holt Mama, die kennt sich aus.”
Johnny hielt sich tapfer aufrecht, er wollte dem Kleinen keine Angst machen, der ihn so besorgt musterte. Antje kam nur fünf Minuten später mit ihrer Mutter zurück. Sie trug eine Arzttasche und musterte forschend den Schützling ihrer Kinder.
„Drogen, junger Mann?” fragte sie.
„Zur Zeit nicht. Seit drei Tagen nüchtern.”
Sie leuchtete ihm in die Augen und nickte. Routiniert überprüfte sie den Blutdruck, zählte den Puls und legte ein Stethoskop auf seine Brust.
„Sie haben lange nichts gegessen, oder?”
„Ja. Ist ‘ne Weile her.”
„Legen Sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer, ich rufe einen Krankenwagen an.”
„Nein, bitte nicht. Ich verschwinde gleich wieder.”
„So gehst du nirgends hin, mein Junge.” Sie ließ das Sie beiseite und redete wie zu einem unvernünftigen Kind.
Johnny ließ sich zum Sofa führen und war dankbar, dass er liegen durfte.
„Also keinen Krankenwagen?”
„Bitte nicht. Ich möchte nur kurz ausruhen, dann geht es weiter. Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser haben?”
Antje rannte schon los in die Küche.
„Wie alt bist du eigentlich? Und hast du einen Namen?”
„Ich werde am 23. September siebzehn und heiße John. John Matthews.”
„Ich bin Dr. Weinhold. Trink nur einen kleinen Schluck, sonst wird dir vielleicht schlecht.”
Er nahm das Glas und folgte ihrem Rat. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
„Ich muss zurück in meine Praxis. Tu mir einen Gefallen und bleib hier liegen. In einer Stunde bin ich wieder da und kümmere mich um dich. Ich gebe dir jetzt eine Spritze zur Stärkung.”
Sie schob den rechten Ärmel des Pullovers hoch, dann den linken. „Wenigstens kein Heroin”, meinte sie zufrieden und injizierte eine klare Flüssigkeit.
Johnny versprach, liegen zu bleiben, und sie ging zurück in ihre Praxis.
Die beiden Kinder hielten Wache, versuchten, ihn aufzumuntern, und langsam ging es ihm etwas besser. Er wollte sich hinsetzen, aber Tobias verlangte unnachgiebig, dass er den Anordnungen der Mutter gehorchte.
Als die Ärztin nach Hause kam, fühlte sie kurz den Puls, fragte, wie er sich fühlte und meinte: „Du stinkst, John Matthews. Ich mache dir eine Suppe, danach kommst du in die Wanne. Wenn mein Mann dich so sieht, ruft er den Kammerjäger.”
Während er die Suppe löffelte, fragte Johnny: „Warum tun Sie das eigentlich für mich? Sie kennen mich doch gar nicht.”
Frau Weinhold erklärte: „Weil du ein Mensch bist, der Hilfe braucht. Ganz einfach.”
„Danke. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht lange zur Last falle. Morgen früh verschwinde ich.”
„Das wird sich finden. Nun iss in Ruhe auf, dann ab in die Wanne. Sei ein braver Junge.”
Die Suppe war gut, eigentlich hätte er noch mehr vertragen können, aber er ließ es dabei.
Frau Weinhold führte ihn ins Bad, wo sie schon Wasser eingelassen hatte. Sie wartete, bis er sich ausgezogen hatte und half ihm in die Wanne.
„Deine Klamotten kommen in die Maschine, ich gebe dir etwas von meinem Mann zum Anziehen. Es wird alles zu weit sein, aber das ist wohl zu verschmerzen. Ich lasse die Tür hier auf, falls du merkst, dass dir schwindelig wird, rufst du bitte sofort. Tobias schaut ab und zu rein, ob du noch da bist.”

Johnny blieb über eine Woche bei Familie Weinhold. Er kam wieder zu Kräften, erzählte ein paar von seinen Erlebnissen und dass er nach Berlin zu seinem Großvater wollte.
Sie waren freundlich und hatten keine Bedenken, ihn allein in ihrem Haus zu lassen, wenn die Kinder in der Schule und die Eltern bei der Arbeit waren. So viel Vertrauen wollte er nicht enttäuschen und die Besitztümer der Familie blieben tabu.
Am Wochenende arbeitete er einen Teil der Schuld ab, indem er im Garten Kartoffeln aus der Erde klaubte, eine ungewohnte und im Nachhinein durch den Muskelkater schmerzhafte Erfahrung, aber er tat es gern. Seine Kleidung hatten sie gewaschen, zum Teil aber auch kurzerhand in den Müll geworfen. Er erhielt neue Unterwäsche und drei gebrauchte Hemden, die Herrn Weinhold zu eng geworden waren.
Beim Abschied versprach er, wirklich zu seinem Großvater zu reisen und neu anzufangen. Tobias wollte ihn gar nicht gehen lassen, er war stolz und inzwischen felsenfest überzeugt davon, dass er dem Gast das Leben gerettet hatte, was ja auch vielleicht nicht ganz abwegig war. Johnny versprach dem Jungen, ihm zu schreiben, sobald er zu Hause sei.
Herr Weinhold drückte ihm noch einen Fünfzigmarkschein in die Hand und brachte ihn mit dem Wagen zur Autobahn nach Berlin.
„Mach’s gut, Junge. Wir haben dich nicht aufgepäppelt, damit du doch noch in der Szene endest.”
„Danke für alles. Ich kann es kaum glauben, dass es Menschen wie Sie gibt.”
„Glaub es ruhig und komm auf die Beine.”
Johnny war entschlossen, es zu versuchen. Die DDR mit den scharfen Grenzkontrollen lag zwischen ihm und seinem Großvater.
Er sah dem Auto hinterher und murmelte: „Kann es sein, dass eure Kinder Engel sind?”

Soweit der Ausschnitt, bei dem mir, als ich ihn jetzt las, innerlich wieder sehr wunderlich zumute war. Na ja, nicht wunderlich, sondern tief bewegt und dankbar. Einschließlich Kloß im Hals.

Wer das ganze Buch lesen möchte, darf es gerne tun: Es gibt kein Unmöglich!