Dienstag, 6. Oktober 2009

Zum Weinen schön: Leonard Cohen live in London

Angesichts der Eintrittspreise (280 Euro pro Nase) hatten wir 2008 auf den Besuch des Konzertes in Berlin verzichtet. Irgendwo muss man eine Grenze ziehen, was noch zumutbar ist und was nicht, wenn es um die Freizeitgestaltung geht.

Nachdem ich nun diese zum kürzlichen Geburtstag auf dem Gabentisch vorgefundene DVD Leonard Cohen live in London genossen habe, gerät mein Grenzzaun ins Wanken. 120 Minuten in London - zum Weinen schön. Wie muss sich da ein »echter« Konzertbesuch anfühlen, der nie unter drei Stunden, oft genug vier Stunden dauert und dennoch viel zu kurz ist? Und wie lange wird dieser Künstler sein wiederentdecktes Musikerleben durchhalten? Bis er 80 ist wie B.B. King? Dann hätte ich ja vielleicht doch noch eine Chance auf einen Konzertbesuch...

Als 1968 Leonard Cohens erste LP erschien, war ich 13 Jahre alt. Mein Bruder spielte sie mir vor und damit war es um mich geschehen. The Stranger Song, Teachers und So Long Marianne spielte ich schon am gleichen Abend auf meiner Gitarre, ohne noch einen Blick auf den Text oder die darüber gekritzelten Griffe zu benötigen, die anderen Songs des Albums folgten in den nächsten Tagen. Und One Of Us Cannot Be Wrong gehört zu den Liedern, die ich noch heute spiele, wenn die Stimmung danach ist. So Long Marianne habe ich sogar dieses Jahr bei einer Hochzeit zu Gehör gebracht.
Mir war 1968 (und ist noch heute), als wäre meine Seele der des jüdischen Kanadiers oder kanadischen Juden Leonard Cohen irgendwie verwandt. Viele seiner Lieder und Gedichte drücken aus, was ich in bestimmten Stimmungen ausdrücken möchte. Allerdings gelingt ihm das wesentlich besser als mir.

Weil seine Managerin mit den Millionen durchgebrannt ist, die Leonard Cohens Altersversorgung darstellten, ist er im Jahr 2008 nach 15 Jahren Ruhestand auf die Bühnen der Welt zurückgekehrt. Darf man sagen, dass diese Unterschlagung eine ganz famose Sache war? Sonst hätten wir nie und nimmer zu hören bekommen, was diese DVD ausschnittweise widerspiegelt. Ein Mann, dessen Stimme nun ein dreiviertel Jahrhundert alt ist und nie ausdrucksvoller, intensiver geklungen hat. Ein Mann, der Geist, Leib und Seele einsetzt, wenn er seine Lieder singt. Ein Musiker, wie man ihn kaum noch zu finden hofft, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Ein Mann, der sein Publikum liebt, ehrt und ernst nimmt.

lclilDiese zwei Stunden DVD zeigen neben Cohen hervorragende Musiker und Sängerinnen, alles eingefangen in makelloser Ton- und Bildqualität, dank der Kameras so hautnah, wie der Konzertbesucher nie den Akteuren auf der Bühne kommen kann. Aber es ist nicht die Technik, die verzaubert. Es sind nicht die begnadeten Musiker, obwohl sie ganz erheblich dazu beitragen. Es ist Leonard Cohen, der Prophet, der Poet, der seine in Musik verpackten Schätze ausbreitet, Blicke ins Innerste gestattet, sowohl seine Seele als auch das Innerste des Zuhörers. Leonard Cohen, das ist nicht Unterhaltung, das ist erheblich mehr und geht wesentlich tiefer. Viele Zeitungen schrieben über die Auftritte 2008, dass sie eher Messen / Gottesdiensten / Andachten ähnelten als Konzerten. Selbst Männern standen die Tränen in den Augen und liefen an den Wangen herunter, den Berichten zufolge. Inzwischen, nach dem Genuss der DVD, glaube ich das, denn meine Wangen blieben vor dem TV-Gerät nicht ganz trocken.
Die DVD lässt ahnen, wie sich das live anfühlt, wenn Leonard Cohen auf der Bühne niederkniet beim Singen eines Psalms, wenn er den Hut vor den Musikern und dem Publikum zieht.
Die Stimmung ist durchgehend heiter, Leonard Cohen lacht häufig wie befreit und erleichtert, wenn ein Lied gesungen ist und der Beifall einsetzt, er erzählt kleine Anekdoten und Geschichten zum Schmunzeln. Dennoch - oder deshalb? - entsteht das Empfingen der Andacht, das Gefühl, Gott selbst durch diesen Menschen zu begegnen.
Eigentlich hat ein Leonard Cohen Konzert in diesen Tagen so ziemlich alles, was mancher charismatische Gottesdienst gerne hätte und doch nicht erreicht...

Wer weiß, wie sehr mein Kostenbegrenzungszaun ins Wanken gerät, falls 2010 oder 2011 Leonard Cohen nach Berlin kommt. Manchmal muss man die Vernunft ausschalten, um der Seele etwas Gutes zu tun. Einstweilen wird diese DVD des öfteren den Weg in unseren DVD-Player finden. Ich werde die Kopfhörer aufsetzen und zwei Stunden auf die Reise gehen in eine Welt der Musik, die zum Weinen schön ist.

Mein Fazit: Wer sich das entgehen lässt, der beraubt sich selbst.

Mein Tipp: Nicht »nebenbei« anschauen, sondern sich (möglichst mit Kopfhörer und ungestört oder zu zweit mit einem Glas Rotwein, soweit vorhanden aber unbedingt mit HiFi-Ausstattung) auf das Erlebnis einlassen.

Die DVD (und CD) gibt es zum Beispiel hier bei Amazon: Leonard Cohen - Live in London