Mittwoch, 7. April 2010

Martin Walser: Mein Jenseits

Mein Jenseits, Martin Walser, Schicksale & ErfahrungenIch betrachtete, rund vierzig Jahre ist das nun her, mit leichtem Gruselgefühl in einer Basilika Skelette in reicht verzierten Glaskästen. Das war in Ottobeuren, nicht weit von Memmingen, unserer gerade gegen Berlin getauschten neuen Heimat. Mein Bruder, drei Jahre älter als ich und dreißig Jahre klüger schon als Kind, erklärte mir, dass es sich um Reliquien handle. Den Sinn, die Knochen von Toten in einer Kirche auszustellen, verstand ich nicht recht, aber ich war fasziniert vom Anblick der goldverzierten Skelette.
Daran dachte ich zurück, als ich jetzt Martin Walsers Novelle »Mein Jenseits« las. Professor Augustin Feinlein, Leiter einer Klinik, blickt in diesem Buch auf Episoden seines Lebens zurück, während er darüber nachdenkt, nach seiner Pensionierung Messner in der örtlichen Stiftskirche zu werden. Dort gibt es eine Reliquie, die einige Tropfen des Blutes Jesu enthalten soll. Der Professor, in seiner Freizeit auch Reliquienforscher, plant Ungeheuerliches mit diesem kostbaren Stück.
Martin Walser hat ein Buch über die Liebe geschrieben, trotz des Titels »Mein Jenseits« kein frömmelndes Buch, denn die Liebe, über die Feinlein nachsinnt, ist so aussichtslos, so ungreifbar wie auch das Jenseits, das er immer wieder neu oder anders definiert. Das Alter bringt es mit sich, jenseitige Fragen zu erwägen, während die Erfüllung des Liebestraumes in unüberbrückbare Distanz gerät. Glaube und Liebe - zwei Lebenspole werden in dieser Novelle meisterhaft zusammen- und ausgeführt.
Ich weiß, dass ich Unmögliches vorhabe. Ich bin dreiundsechzig. Seit längerem. Ich werde nie älter sein als dreiundsechzig. Ich sage jetzt nicht, seit wie vielen Jahre ich jetzt schon dreiundsechzig bin. Ich sage nur, dass ich mit dreiundsechzig aufgehört habe zu zählen. Das war möglich. Mein Umgang mit Zahlen hat es möglich gemacht. Ich glaube nicht an Zahlen. Ich weiß, was man alles machen kann mit Zahlen, aber ich weiß auch, was man mit Zahlen nicht machen kann. Und doch macht. Ich habe aufgehört, das mitzumachen.
Die Novelle birgt viel Humor. Professor Feinlein wird langsam wunderlich, sein Umgang mit dem Zählen der Lebensjahre ist nur eine von vielen Facetten des Skurrilen. Dass er im Flugzeug nach Rom seinen Hut vergisst, und wie er hutlos in Rom am Verlust der Kopfbedeckung leidet, sein ewiger Kampf mit seinem Nachfolger Dr. Bruderhofer als Klinikleiter, seine Erinnerungen an Eva Maria, jene aussichtslose Liebe - all das hat Martin Walser liebevoll und meisterhaft mit Augenzwinkern zu Papier gebracht.
Ich sitze ja immer wieder ohne Anlass im Kirchendämmer und lasse Zeit vergehen.
Auch ich ließ Zeit vergehen, nicht im Kirchendämmer, aber doch bewusst, um länger die Lektüre genießen zu können. Dies ist eines der schmalen Bücher, die ich langsam gelesen habe, damit die unvermeidliche letzte Seite nicht allzu schnell erreicht wird.

Mein Fazit: Ein herrlich unzeitgemäßes Buch, unterhaltsamer und oft erheiternder Lesestoff, meisterlich erzählt. Langeweile kommt nicht auf, auch wenn gerade nicht viel Handlung stattfinden sollte. Die Kauzigkeit des Protagonisten wird dem Leser so liebenswert, dass er den Professor Feinlein schließlich zu kennen meint. Und was der am Schluss mit dem Reliquar anstellt...
Martin Walser: Mein Jenseits
119 Seiten, 19,90 Euro
ISBN-13: 978-3940432773
Direkt bestellen: Mein Jenseits

P.S.: Die Version, die mir der Osterhase gebracht hat (1. Auflage) enthält einige, oder besser gesagt viele Druckfehler. Ich habe den Verlag darauf angesprochen, man bot mir sofort den kostenlosen Austausch gegen ein Exemplar der korrigierten 3. Auflage an. Ich werde jedoch mein fehlerbehaftetes Buch behalten, wer weiß, ob es nicht als Rarität eines Tages Sammlerwert bekommt…