Mittwoch, 14. Juli 2010

Der Garten des Teufels – Teil 2

Falls jemand heute zufällig hier auf den/das Blog gerät: Teil 1 dieser Erzählung findet man hier: [Teil 1]. Ach ja, und nur zur Beunruhigung der geschätzten Leserschaft: Es wird auch heute kein Ende der Geschichte geben und das Ende ist sowieso dann kein erfreuliches. Also don’t say I didn’t warn you. Weiterlesen? Bittesehr:

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Das Vermächtnis

Renate bereute den Tausch nie. Seit sie die Ananasblüte gegen den Koffer des Fremden getauscht hatte, war sie im Besitz eines unermesslichen Schatzes. Sie war schon vorher wohlhabend, seit frühester Jugend durch eine erhebliche Erbschaft, aber nun war sie reich. Unverschämt reich, genau genommen. In einem nicht materiellen Sinn.

Dass sie trotz ihres Vermögens Tag für Tag in ihrem Geschäft stand, Abend für Abend und manche Nacht im Gewächshaus zubrachte, lag daran, dass sie ihre Schützlinge liebte. Mehr als sie jemals für einen Menschen empfunden hatte konnte sie mit ihren Pflanzen fühlen, leiden, sich freuen.

Sie hatte, um das geerbte Geld irgendwie anzulegen, noch vier weitere Geschäfte eröffnet, in denen allerdings nur das übliche Sortiment an Schnittblumen und Topfpflanzen verkauft wurde, von allerbester Qualität zwar, aber nichts wirklich Ausgefallenes. In den vier Filialen arbeiteten 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, außerdem beschäftigte Renate für ihre Wohnung eine Haushälterin, damit sie selbst keine Zeit mit Putzen oder Einkaufen verschwenden musste. Jeder in ihrer Umgebung wusste, dass sie vermögend war, aber wie reicht sie wirklich war, wussten nur ihr Steuerberater und sie selbst. Das Finanzamt hatte keine Ahnung, aber das verursachte Renate kein schlechtes Gewissen. Es war Aufgabe des Steuerberaters, sich darum zu kümmern, dass möglichst viel Geld übrig blieb. Er war mehr ein Finanzmanager als ein Steuerberater, Renate überließ ihm weitgehend ihr Vermögen zur Verwaltung. Sein Honorar war fürstlich, und er leistete dafür hervorragende Arbeit. Details wollte sie von ihm nicht wissen, und wahrscheinlich wollte er sie sowieso lieber für sich behalten. Als vor einer Weile CDs mit Kontodaten deutscher Bürger bei ausländischen Banken seitens der Regierung angekauft wurden, hatte er nur gelächelt. Seine Methoden waren offensichtlich ausgefeilter als die Eröffnung von Bankkonten in der Schweiz.

Sie dachte gerne zurück an jenen Morgen, als sie den Koffer in das kleine Büro hinter den Geschäftsräumen stellte. Der Kunde war zufrieden mit dem sorgsam eingepackten Ananaskunstwerk seines Weges gegangen. Sie hatte es kaum erwarten können, den Laden am Abend zu schließen und sich mit dem Koffer in ihr Gewächshaus zurückzuziehen.

Schließlich war es so weit gewesen. Renate schloss die Türe hinter sich ab und legte den unscheinbaren Lederkoffer auf den Arbeitstisch. Sie schob die Arbeitsleuchte zurecht und öffnete dann bedächtig den Deckel, eine fast zeremonielle Handlung.

Sechsunddreißig kleine Leinenbeutel lagen darinnen. Die Beutel waren leicht, dünn, schlicht. Aber der Inhalt war kostbarer als es Juwelen oder Banknoten gewesen wären. In jedem der sechsunddreißig Beutel waren Samenkörnchen eingenäht. Die Beutel trugen Nummern, sauber mit einer verblassten Tinte auf die jeweils linke obere Ecke geschrieben, 1 bis 36. In dem Fach im Kofferdeckel steckte eine Klarsichthülle, und darin war ein handgeschriebenes Dokument verwahrt, das nicht nur alt, sondern antik war.

An der Echtheit zweifelte sie keinen Moment, die Schrift kannte sie aus einem Buch, das sie in einem Tresor bei ihrer Bank verwahrte. Es war, an einigen Eigenheiten unzweifelhaft zu erkennen, ein Dokument des Pater Petrus Datura Suaveolens. Der Autor des kostbaren Buches – und offensichtlich auch dieses Dokumentes aus dem Koffer – hatte das, was von ihm an Hinterlassenschaft bekannt war, stets mit einem charakteristischen Schriftzug unterzeichnet.

Datura Suaveolens (WikiCommons)»Pater Petrus Datura Suaveolens«, flüsterte Renate. Die Datura Suaveolens ist eine Zierpflanze, die überhaupt nicht seltene Engelstrompete, ursprünglich in Mexiko beheimatet, aber seit vielen Jahren bei Hobbygärtnern und städtischen Gartenämtern auch hierzulande geschätzt und weit verbreitet. Renate zweifelte daran, dass die Menschen, die diese Pflanze in ihren Gärten und Grünanlagen anpflanzten, eine Ahnung von der Wirkung der Blütenblätter hatten. Diese enthielten Atropin und Scopolamin, hochgiftige Alkaloide. In grauer Vorzeit hatte man damit Geisteskranke ruhiggestellt, heutzutage benutzte man die Pflanze als Zierde.

Der Pater hatte sich den Namen »Datura Suaveolens« sicher mit Überlegung zugelegt, das »Petrus« davor war vermutlich eine Konzession an die Kirche gewesen.

Sein Buch, das Renate einst von einer weiten Reise mitgebracht hatte, war alles andere als kirchliche Lektüre. Es enthielt für damalige Zeiten pure Hexerei, aus heutiger Sicht war das Werk ein Almanach der zerstörenden und heilenden Wirkungen von Pflanzen aller Art, vom unscheinbaren Moosgeflecht bis zum majestätischen Baum und seiner Rinde. Die exotischsten Gewächse wurden detailliert beschrieben, ihre Pflege anschaulich erklärt und die Wirkungen auf menschliche und tierische Organismen ausführlich erläutert.

Renate hatte sich oft gefragt, woher dieser Pater die Pflanzen gekannt haben mochte. Entweder hatte er weltweite Verbindungen gehabt oder er war selbst viel gereist. Das schien jedoch kaum vorstellbar, bei der seinerzeit üblichen Reisegeschwindigkeit hätte der Mann mehrere Leben benötigt, um all die Gegenden und Pflanzen zu erkunden, von denen er jedes Detail zu kennen schien.

Dieser Koffer, besser gesagt sein Inhalt, war nun das, was Renate für nicht existent gehalten hatte, obwohl die sechs mal sechs Leinenbeutel in dem Buch als Hinterlassenschaft erwähnt waren. Es waren sechsunddreißig Samenarten, sechsunddreißig Pflanzen, von denen sie in Petrus Buch gelesen hatte, die ihr aber völlig unbekannt und die in keinem botanischen Werk zu finden gewesen waren. Sie studierte das Verzeichnis und ließ ihre Fingerspitzen liebevoll über die Leinensäckchen gleiten. Es war unglaublich. Das höchste Glück, das sich Renate vorstellen konnte.

Auf dem Weg vom Geschäft zum Gewächshaus hatte sie aus ihrem Tresor das Buch geholt und sie blätterte nun mit größter Vorsicht durch die brüchigen Seiten zum Kapitel »6 mal 6 Gewächse aus dem Garten des Teufels«. Sie verglich Punkt für Punkt. Sorgfältig, gewissenhaft. Auf der Liste aus dem Koffer standen genau diese Bezeichnungen. Sie hatte das Vermächtnis des Paters in den Händen.

In den nächsten Wochen studierte sie geduldig zunächst die Zucht- und Pflegeanleitungen, dann besorgte sie die notwendige Ausstattung, was nicht immer einfach war. In einem Fall handelte es sich um Schlick aus einer von Pater Petrus genau bezeichneten Bucht an der Nordspitze Schwedens, in einem anderen um ein Gemisch aus Erde und Staub aus der Gegend knapp unterhalb der Baumgrenze des Himalaja.

Sie ließ von Technikern einen Anbau an ihr Gewächshaus konstruieren, in dem verschiedene Räume mit verschiedenen klimatischen Bedingungen entstanden, ein Computer steuerte die Beleuchtung für Tag- und Nachtwechsel, überwachte Feuchtigkeit, Temperaturschwankungen und steuerte die variable Länge der Tage und Nächte je nach Jahreszeit. Geld spielte für dieses Projekt keine Rolle.

Selbst bei den Pflanzgefäßen hielt sie sich penibel an die Anleitungen des Pater Petrus Datura Suaveolens, ließ einiges von einem Töpfer herstellen, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, dass er die vorgeschriebene Rezeptur für den Ton, die Trockenzeiten, die Temperatur des Ofens und viele weitere Details einhalten würde.

Gelegentlich fragte sich Renate, wie der Pater Petrus Datura Suaveolens in der Lage gewesen sein konnte, auch nur einen Bruchteil der notwendigen Bedingungen zu schaffen, damit diese Pflanzen gedeihen konnten. Es war schlichtweg unvorstellbar. Entweder er hatte sich auf die Beschreibungen beschränkt und die Samen für eine Zeit aufbewahrt, in der Dinge möglich wurden, die ihm unvorstellbar sein mussten, oder es war – mittelalterlich gedacht – Hexerei im Spiel gewesen.

In jedem Säckchen steckten sechs Samen, wenn alle aufgingen, hatte sie 6 mal 6 mal 6 Pflanzen. Sie wollte zunächst von jedem der Samen einen aussäen und fünf behalten, dann würde sie für Jahre Vorrat haben und gegebenenfalls eine misslungene Züchtung wiederholen können. Zeit musste sie sich ohnehin lassen, weil sogar der Stand des Mondes für die Pflanzzeit vorgeschrieben war.

Neun Monate nach dem Tausch Ananas gegen Koffer konnte Renate die ersten zarten Spitzen aus dem Erdreich sprießen sehen.

Als der Traum im Gewächshaus – besser gesagt in seinem Anbau – dann Gestalt annahm, als die ersten Blätter sichtbar wurden, trat der seltsame Kunde wieder in Renates Leben, in gewisser Weise zumindest.

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Fortsetzung folgt.