Sonntag, 7. November 2010

Was der weise Nick erlebt und erzählt hat - Teil 1

Das alles ist lange her, und vieles aus seinem Leben ist vergessen und verloren. Anderes wird noch heute wieder und wieder erzählt, bedacht, interpretiert und geglaubt oder bezweifelt. Ich stieß neulich auf ein Dokument, das von manchen Fachleuten verworfen, von anderen verteidigt wird; verworfen meist, weil es nicht der offiziellen Linie, der sogenannten reinen Lehre entspricht. Es lagert – dem Internet sei es gedankt – nun nicht mehr nur in staubigen Archiven, sondern wer es lesen möchte, der braucht nur einen Computer und den Zugang zum weltweiten Datennetz. (Die Quellen werde ich am Schluss der Geschichte verlinken.)
Es geht um einen Prozess. Nicht den Prozess, den Franz Kafka zum Gegenstand eines hervorragenden Romanes gemacht hat, aber die Szenen, die in jenem Dokument geschildert werden, könnte Franz Kafka ersonnen haben, so grotesk, geradezu kafkaesk, erscheint dem Leser manches. Jedoch entstand das Dokument schon lange vor seiner Zeit. Wann die ersten Aufzeichnungen wirklich niedergeschrieben wurden, weiß wohl niemand zu sagen, von vielen Forschern wird das Jahr 425 oder 426 unserer Zeitrechnung angenommen. Die Geschichte zog mich in ihren Bann und so habe ich es unternommen, sie meinen Lesern anhand des Dokumentes, aber durchaus auch mit eigenen Worten ergänzt, zu erzählen. Manches ist uns heutzutage kaum verständlich, wenn es nicht ein wenig erläutert wird, das habe ich versucht, beim Erzählen zu tun.
Wie viel von diesem Bericht der Wahrheit entspricht, wie viel ersonnen ist, das wollen wir nicht untersuchen. Es ist eine – so meine ich und hoffe ich – für viele Leser spannende Erzählung, und darauf kommt es an. Fachbücher zum Thema mögen andere verfassen.

Am Beginn steht eine Begebenheit, die vielen Lesern wohl vertrauter ist als das, was später folgt, da der Bericht in den Kanon der als authentisch geltenden Schriften aufgenommen wurde.
Unter den Pharisäern, eine Partei unter den Juden, die auf strengste Auslegung und Beachtung der Gesetze bedacht war, gab es einen Mann mit Namen Nikodemus, er war ein Oberster der Juden. Die Obersten, das waren angesehene und reiche Menschen, einflussreich und geachtet. Darüber hinaus galten sie als gelehrt und weise, was ja auch notwendig war, denn die Pharisäer unterrichteten andere.
Dieser Nikodemus kam bei Nacht zu Jesus und sprach ihn an: »Mein Meister, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.«
ein weiser Rabbi - WikiCommonsMancher stutzt schon hier. Wir suchen niemanden mehr nach der Tagesschau auf, schon gar nicht jemanden, der nicht zur Familie oder den engsten Freunden gehört. Ein später Besuch war es tatsächlich, und ein offensichtlich höflicher Besucher. »Mein Meister«, das war eine sehr respektvolle Anrede für geistliche Lehrer im Spätjudentum. Die nächtliche Stunde erklärt sich daraus, dass es zu den Gepflogenheiten der jüdischen Gelehrten gehörte, sich bei Nacht mit den Geheimnissen der Tora, der heiligen Schriften, zu befassen. Dies rührte, so meinen die Forscher und Geschichtsschreiber, aus einem Psalm her, in dem es heißt: »Preiset den Herrn, alle Diener des Herrn, die ihr in den Nächten im Hause des Herrn steht.«
Ein Schüler der Tora fragte einst: »Was heißt: in den Nächten?«
Rabbi Jochanan, seinerzeit der führende Kenner und Ausleger, erwiderte: »Das sind die Schriftgelehrten, die sich nachts mit der Tora befassen. Die Schrift rechnet es ihnen an, als würden sie sich mit dem Opferdienst befassen.«
Nikodemus handelte also nicht ungewöhnlich, als er nachts zu Jesus kam, und auch Jesus war die nächtliche Beschäftigung mit den heiligen Schriften nicht fremd, sondern eine gute Gewohnheit. Er hatte zu seinen Jüngern einmal gesagt: »Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet später am hellen Tag.«
Nikodemus war nun sicher gespannt, wie Jesus angesichts des Widerstandes, den er gerade von den Schriftgelehrten gewohnt war, darauf reagieren würde, dass er, der Pharisäer, ihn als »Lehrer, der von Gott gekommen ist«, als geistlichen Lehrer, als seinesgleichen, anerkannte.
Jesus antwortete: »Ich sage dir etwas Unabänderliches: Wenn jemand nicht von oben her geboren wird, kann er die Königsherrschaft Gottes nicht sehen.«
Nun ja, das war zwar keine Reaktion auf die Anrede und die ehrenhaften Worte, aber doch ein Einstieg in ein Gespräch, wie es unter geistlichen Lehrern üblich war. Es ist auch durchaus denkbar, dass derjenige, der diese Begebenheit damals aufgeschrieben hat, so manche Floskeln und Höflichkeiten nicht erwähnte, sondern sich auf den Kern des Gespräches konzentrierte. Man schrieb, denn die Schreibmaterialien waren teuer und rar, nur das wirklich Wichtige auf.
Nikodemus reagierte mit einer rhetorischen Frage: »Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er etwa zum zweiten Mal in den Leib seiner Mutter hineingehen und geboren werden?«
Dass dieses Verfahren nicht möglich war, verstand sich von selbst. Der Gelehrte wollte eine genauere Erklärung hören, was Jesus mit dieser »Geburt von oben her« wohl meinen mochte, und er bekam auch eine Antwort.
Jesus erklärte: »Ich versichere dir bei Gott: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in die Königsherrschaft Gottes hineingehen. Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.«
In unserer, der deutschen Sprache, sind Wind und Geist verschiedene Worte, meist wird das Gesagte so wiedergegeben wie eben zitiert, weil mit dem Geist ein hörbares Sausen gedanklich eher nicht zusammenpasst. Doch was wissen wir schon vom Geist Gottes, von dem hier die Rede ist? In den heiligen Schriften ist auch von seinem Sausen, von großem Getöse wie bei einem Sturm gar, die Rede. Doch wollen wir hier nicht abschweifen.
Nikodemus, noch nicht so ganz zufrieden, antwortete wieder mit einer Frage: »Wie kann dies geschehen?«
Jesus reagierte nun etwas verwundert: »Du bist der Lehrer Israels und weißt das nicht? Ich sage dir mit Gewissheit: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und unser Zeugnis nehmt ihr nicht an. Wenn ich euch das Irdische gesagt habe, und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch das Himmlische sage? Und niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel als nur der, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn, einzig in seiner Art, gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn errettet werde. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des einzig geborenen Sohnes Gottes. Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Denn jeder, der Arges tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht bloßgestellt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind.«
Ob Nikodemus weitere Fragen hatte, oder ob er das alles durchdenkend nach Hause gegangen ist, um zu nächtlicher Stunde die Tora diesbezüglich zu studieren, ist uns nicht überliefert. Der Bericht über die Unterredung endet an dieser Stelle. Spurlos an Nikodemus vorbeigegangen ist dieses Gespräch jedenfalls nicht, denn er meldete sich später öffentlich zu Wort, als seine Kollegen Jesus loswerden wollten.

Die Feindschaft der Pharisäer und Schriftgelehrten hatte ihren Grund, denn was dieser Jesus tat und lehrte, gefiel zwar dem Volk, aber es widersprach allen gängigen Auslegungen der Tora. Der Messias, der von Gott versprochene Retter, sollte – so hatte es auch der Prophet Johannes vor einer Weile öffentlich verkündet – mit Feuer vom Himmel und eisernem Besen für Ordnung sorgen. Man ging selbstverständlich davon aus, dass der Messias das jüdische Gesetz bis auf das letzte Pünktchen und Komma beachten und halten, gegen keine einzige der Vorschriften verstoßen würde. Schon dadurch, dass er am Sabbat Menschen heilte, schied Jesus daher als Christus, als Erretter aus.
Das Volk hingegen jubelte. Jesus war nach Jerusalem gekommen, und er wurde mit Ritualen empfangen, wie sie nur einem König gebührten, mit Mänteln und Tüchern auf der Straße, mit Palmwedeln und Zitaten aus den Schriften, die auf einen normalen Menschen gar nicht angewendet werden durften. Davon werden wir noch etwas später, beim Prozess, noch mehr hören.
Das Volk versammelte sich inzwischen regelmäßig und in großer Zahl, um Jesus zuzuhören, wenn er öffentlich im Tempel lehrte. Einige aus der Volksmenge sagten, wenn sie ihn hörten: »Dieser ist wahrhaftig der Prophet.«
Andere gingen noch weiter: »Dieser ist der Christus.«
Wieder andere zweifelten: »Der Christus kommt doch nicht aus Galiläa? Hat nicht die Schrift gesagt: Aus der Nachkommenschaft Davids und aus Bethlehem, dem Dorf, wo David war, kommt der Christus?«
Es entstand seinetwegen neben all dem Jubel auch eine Spaltung in der Volksmenge. Einige von denen, die besonders frommen Verteidiger des Gesetzes waren, wollten ihn greifen, aber keiner legte die Hände an ihn.
Auch nicht die Abgesandten der religiösen Elite. Die Pharisäer und Priester hatten ihre Diener losgeschickt, um Jesus zu ergreifen. Es war ihnen zu Ohren gekommen, dass man ihn für den Christus, für den von Gott versprochenen Erlöser hielt. Und es blieb ihnen nicht verborgen, dass mit dem Zulauf zu Jesus ihr eigener Einfluss schwand. Die Kundschafter, die bei den Diskussionen und den Reden Jesu zugehört hatten, kamen jedoch mit leeren Händen zu den Hohenpriestern und Pharisäern zurück. Diese fragten ziemlich unwirsch: »Warum habt ihr ihn nicht gebracht?«
Die Diener antworteten: »Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch.«
Da schimpften die Pharisäer: »Seid ihr denn auch verführt? Hat wohl jemand von den Obersten an ihn geglaubt, oder von den Pharisäern? Diese Volksmenge aber, die das Gesetz nicht kennt, sie ist verflucht!«
Man hielt sich für etwas Besseres als das gemeine Volk, schließlich hatten die Pharisäer den Durchblick durch alle geistlichen Dinge und sie beherzigten alle Gesetze außerordentlich genau. Es ging ja nicht an, dass die ungelehrten Scharen nicht mehr dem folgten, was die studierten Lehrer zu sagen hatten, dass das Volk einem Lehrer aus Nazareth nachfolgte, der überhaupt kein ordentliches Torastudium vorzuweisen hatte. Nikodemus, der ja einer von ihnen war, musste an dieser Stelle des Gespräches allerdings widersprechen: »Richtet denn unser Gesetz den Menschen, ehe es vorher von ihm selbst gehört und erkannt hat, was er tut?«
Seine Kollegen wiesen ihn schroff zurecht und rieten ihm, seine Hausaufgaben zu machen: »Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht!«
Das hatte Nikodemus, so nehmen wir getrost an, bereits getan. Er hatte ja von Jesus selbst gehört, was er tat, statt sich auf das Hörensagen zu verlassen.
Immerhin war auf diesen Einwand von Nikodemus hin die Beratung erst einmal zu Ende und jeder ging in sein Haus.

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Fortsetzung folgt