Sonntag, 20. März 2011

Jessika – ein Verhängnis /// Teil 16

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Dann die Fortsetzung:

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»Bernd war Autor«, stellte Johannes ausweichend fest.

»Das weiß ich. Und du?«

Statt zu antworten fragte Johannes: »Was tust du denn? Ich meine, wie lebst du deinen Alltag, gehst du einer Beschäftigung nach?«

»Ich habe eine Ausbildung gemacht – ach, das weißt du ja sowieso. Die Sache mit dem Giftzwerg hast du mir ja schon an den Kopf geworfen. Im kaufmännischen Bereich habe ich mich nicht wohl gefühlt, also habe ich Linguistik studiert, das war dann aber langweilig, inzwischen bin ich Fotografin. Wenn mir danach ist, nehme ich Aufträge an, sonst arbeite ich für eigene Projekte.«

»Und Geld spielt ja bei euch Nephilim keine Rolle, oder?«

»Das habe ich erst nach und nach herausgefunden. Ich hatte zwar Eltern, aber die hatten mich adoptiert. Daher hatte ich anfangs niemanden, der mir mein Erbe hätte erklären und mich in die Gemeinschaft hätte einführen können. Nitzrek war keine große Hilfe.«

»Erzählst du mir davon?« fragte Johannes und steckte zwei Zigaretten an. Eine reichte er Jessika hinüber.

Sie nickte. »Ich habe das noch niemandem erzählt, aber da du sowieso mehr weißt als du wissen kannst … warum auch nicht.«

 

Jessika hatte erst mit 14 Jahren erfahren, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern war. Eines Abends wachte sie auf, spürte Durst und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Im Wohnzimmer, dessen Tür angelehnt war, saßen ihre Eltern. Jessika hörte auf dem Rückweg in ihr Zimmer ihre Mutter sagen: »Aber irgendwann müssen wir es ihr doch sowieso sagen. Sie wirf Fragen stellen, ganz bestimmt.«

»Sie ist noch ein Kind«, brummte ihr Vater.

»Sie ist 14!«

»Ja, das weiß ich. Aber wer weiß, wie sie darauf reagiert, vielleicht fühlt sie sich dann ungeliebt oder verunsichert? Vielleicht fragt sie ja auch nicht.«

Jessika stand im Flur und fragte sich, welches Geheimnis ihre Eltern da besprachen. Sollte sie ins Wohnzimmer gehen und fragen? Oder abwarten? Sie schlief wie immer nackt und hatte sich für den Ausflug in die Küche nichts angezogen, aber das war kein Problem, in ihrer Familie musste sich niemand seines Körpers schämen, auch ihre Eltern gingen von der Dusche ins Schlafzimmer, ohne sich zu verhüllen. Aber Jessika wusste nicht, ob sie erfahren würde, worum es bei dem Gespräch ging, wenn sie jetzt auftauchte oder eher, wenn sie weiter lauschte.

»Warum sollte sie sich weniger geliebt fühlen? Wir lieben sie doch schon 14 Jahre und daran ändert sich auch nichts.«

Jessikas Vater klang nachdenklich: »Aber ihre Psyche – vielleicht würde sie es anders empfinden?«

»Das glaube ich kaum«, entgegnete ihre Mutter, »Jessika ist ein stabiles und selbstbewusstes Mädchen. Sie hat vor zwei Jahren den Mordanschlag der Hausmeisterin sehr schnell und bewundernswert tapfer verarbeitet. Ich habe viel länger gebraucht, um über den Schock hinwegzukommen. Mein Kind wird beinahe erstochen worden, während wir auf einer Party sind! Das geht mir noch heute oft durch den Kopf, wenn Jessi alleine zu Hause ist.«

Jessikas Vater seufzte. Dann, nach einer kurzen Pause, sagte er: »Sie ist unser Kind und sie hat uns lieb. Dass wir sie lieben, das weiß sie und das hat ihr Halt damals gegeben, meinte der Psychologe. Das gibt ihr auch heute, zwei Jahre später, noch Halt. Warum sollten wir daran rütteln, oder das gefährden?«

Nun trat Jessika ins Wohnzimmer und fragte: »Worum geht es eigentlich?«

Beide schauten überrascht auf, schickten sie aber nicht fort. Im Gegenteil. Zwischen ihre Eltern in eine Wolldecke gekuschelt erfuhr sie in jener Nacht, dass sie ein Findelkind war. Ein Obdachloser hatte bei seiner Suche nach weggeworfenen Pfandflaschen eine abgewetzte Reisetasche im Gebüsch bemerkt und in der Hoffnung auf brauchbaren Inhalt hineingeschaut. Als er ein Neugeborenes sah, das wie tot wirkte, ließ er vor Schreck die Tasche fallen, worauf ein leises Wimmern zu hören war. Er besaß kein Telefon, kurzerhand nahm er die Reisetasche und machte sich auf den Weg aus dem Park zum nächsten Supermarkt, wo er seinen Fund einer Kassiererin zeigte. Minuten später waren Notarzt und Polizei vor Ort.

Jessikas Eltern hatten einen Ordner, in dem sie die Zeitungsausschnitte aufbewahrten, die sich mit dem ausgesetzten Neugeborenen beschäftigten. Der Obdachlose wurde als Held gefeiert, die Rabeneltern nie ermittelt. Viele Paare hatten sich damals um die Adoption des »Tiergarten-Babys«, wie die Boulevardpresse das Mädchen schnell getauft hatte, bemüht, gelandet war Jessika schließlich da, wo sie noch immer wohnte.

»Und warum habt ihr mir das nicht schon längst erzählt?«, fragte sie.

Ihr Vater legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Was hättest du denn an unserer Stelle gemacht? Geschwiegen oder dem Kind, das man liebt wie sein eigenes, erzählt, wo es herstammt, bevor es erwachsen ist?«

»Ich weiß es nicht, Papa.«

Keiner darf Jessika noch mal pieksen.»Wir hätten es dir wohl in den nächsten Tagen gesagt«, erklärte ihre Mutter. »Du musst wieder zur Blutuntersuchung, wie alle fünf Jahre, und du hast beim letzten Mal schon gefragt, warum und wozu, weil du ja überhaupt nicht krank warst. Da warst du neun und ziemlich schnell wieder abgelenkt oder zufrieden mit der Erklärung, das sei eine reine Routineuntersuchung.«

»Ist es und war es aber nicht?«

»Ja und nein«, sagte ihr Vater. »Dir fehlt nichts, das weißt du selbst, im Gegenteil, du bist so gesund, dass es schon fast unheimlich ist. Keine Grippe, keine Erkältung, kein Bauchweh … seit wir dich haben. Als du gefunden wurdest hat man dich natürlich im Krankenhaus sehr genau untersucht, und dabei haben die Ärzte in deinem Blut etwas festgestellt, wofür sie keinen Namen oder keine Erklärung hatten. Ich bin ja kein Mediziner, vielleicht habe ich es auch bloß nicht verstanden. Jedenfalls haben sie zuerst halbjährlich, dann jährlich und nun inzwischen alle fünf Jahre auf einer Untersuchung bestanden.«

Jessikas Mutter ergänzte: »Sie wollen einfach sicher gehen, dass das, was mit deinem Blut los ist, keinen Schaden anrichtet. So hat man es uns jedenfalls erklärt. Es gibt da einen Professor am Klinikum, der ist der Sache auf der Spur, sagt er, es hätte irgendwas mit deiner Abstammung zu tun … und da du jetzt mit 14 natürlich ganz andere Fragen stellst und sicher auch die Ärzte anders mit dir reden, haben wir vorhin darüber gesprochen, ob und wann wir dir erklären sollen, dass du unsere liebe Tochter bist, obwohl ich dich nicht geboren habe. Wenn die Abstammung zur Sprache kommt, musst du vorher wissen, dass wir nicht deine leiblichen Eltern sind.«

Es hatte sich nach dieser Nacht nichts im Verhältnis zu ihren Eltern geändert. Jessika fragte bei der Untersuchung zwei Wochen später die Ärzte aus, aber was mit ihrem Blut oder an ihrem Blut nun eigentlich nicht stimmte und welche Auswirkungen das haben konnte, konnten oder wollten ihr die Mediziner nicht sagen. Es ging um die Zusammensetzung und vor allem darum, dass ihr Blut sich anders »verhielt« als es normal gewesen wäre. Die Gerinnung stimmte nicht mit der Schulmedizin überein, die Viskosität war anders, die Erythrozyten transportierten einen Stoff, den man noch nicht benennen konnte, Granulozyten und Monozyten waren im Verhältnis zum normalen Befund viel zu zahlreich in Jessikas Blut zu finden.

Der eine Wissenschaftler, der die Abstammungstheorie verfolgte und mit dem frisch entnommenen Blut weltweit Vergleiche anstellen wollte, ein gewisser Professor Doktor Jochen Stieß, verschwand am Abend nach Jessikas Untersuchung spurlos.

 

»Der Teltowkanal ist an manchen Stellen ganz schön tief«, sagte Jessika und öffnete das Fenster einen Spalt, rutschte ein wenig hin und her auf dem Sitz.

Johannes hatte aufmerksam zugehört und Jessika nicht unterbrochen. Nun schwieg sie, schien auf seinen Kommentar zu warten.

»Ich vermute, dass die Besonderheit deines Blutes bis heute nicht wissenschaftlich erklärt oder erforscht wurde?«, fragte er.

»Richtig. Das war übrigens mit 14 Jahren die letzte Untersuchung, der ich mich ausgesetzt habe. Ich kannte ja Nitzrek schon zwei Jahre; obwohl er bezüglich meiner Abstammung keine Hilfe war, hatte ich ja bereits einen Auftrag erledigt und wusste, dass ich nicht so ganz wie andere Menschen war. Fünf Jahre später begriff ich schon einiges mehr über meine Herkunft und selbstverständlich werde ich keinem Arzt mehr die Gelegenheit geben, stutzig zu werden.«

»Bei der nächsten Raststätte wäre eine Pinkelpause ganz nett«, meinte Johannes. »Nur so nebenbei bemerkt.«

»Na klar.«

»Weißt du denn inzwischen, was in deinem – in eurem – Blut nun anders ist?«

»Das Blut sei ein besonderer Saft, hat ja schon Herr Goethe gemeint. Ohne sich darüber auszulassen, wie es zusammengesetzt ist.«

»Und dein Blut ist ein ganz besonders besonderer Saft.«

»Ja.«

Johannes war immer noch neugierig: »Dieser Blutaustausch – wenn ich das mal so nennen soll – mit Luca, das war ja nun keine Transfusion. Ich meine, wenn man eine Wunde auf die andere legt, fließt ja nicht das Blut des Spenders in den Körper des Empfängers. Das war wohl irgendwie mehr – äh – eine symbolische Handlung?«

Jessika lachte vergnügt und meinte: »Bin ich denn symbolisch zum Leben zurückgekehrt?«

»Nein. Also dann rituell statt symbolisch?«

»Hast du als Junge mal Karl May gelesen?«, fragte sie.

»Du meinst Winnetou und Old Shatterhand als Blutsbrüder?«

»Ja. Zum Beispiel. Das ist bei Karl May ein Symbol für Freundschaft und Treue, aber es geht weit darüber hinaus. In vielen Sagen und Erzählungen findet man entsprechende Passagen über den Blutsbund. Aus menschlicher Sicht in der Regel. Und immer seltener, je aufgeklärter die Menschheit ist.«

Johannes zündete wieder zwei Zigaretten an und sagte: »Die menschliche Sicht ist begrenzt.«

Jessika nahm einen tiefen Zug und antwortete: »Die Menschen begrenzen ihre Sicht selbst, durch Vernunft, Bildung, Wissenschaft und Kultur … oder man setzt die religiöse Brille auf. Was nicht ins Weltbild passt, darf eben auch nicht stimmen oder wird als unerklärlich wegerklärt. Man nennt es dann Aberglaube, Esoterik, ein Wunder, Magie, was auch immer.«

»Manches kann ich nicht erklären, glaube es aber trotzdem. Ohne es gleich in eine Schublade sortieren zu müssen.«

Jessika nickte und rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Offensichtlich musste sie dringender als Johannes. Aber es war keine Raststätte in Sicht, nicht mal ein Hinweisschild hatten sie in der letzten halben Stunde passiert.

»Zur Not können wir ja ins Gebüsch pinkeln«, sagte Johannes.

»Kennt dein schlaues Navigationsgerät keine Raststätten? Dann wüssten wir, wie lange es noch dauert.«

»Klar kennt es Raststätten und Restaurants.« Johannes beugte sich vor und wählte aus dem Menü die Übersicht. Das Gerät fand eine Raststätte, 20 Kilometer entfernt.

Jessika war beruhigt. »Bis dahin halte ich noch durch.«

»Ich auch.«

Die beiden wussten noch nicht, wie lange es dauern kann, 20 Kilometer Entfernung zu überwinden, wenn auf der Straße Unvorhergesehenes auf die Reisenden wartet.

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Und schließlich die Frage an das geschätzte Publikum:

Vor der Raststätte ...
... gibt es eine Begegnung mit der Polizei.
... tauchen die Rocker auf, deren Kumpel tot am See liegt.
... geschieht ein Unfall oder eine Panne.
Auswertung

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