Freitag, 1. April 2011

Jessika – ein Verhängnis /// Teil 17

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Und nun die lang ersehnte Fortsetzung:

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Aus heiterem Himmel – urplötzlich – auf einmal – wie aus dem Nichts … allerlei Formulierungen fallen dem Menschen ein, wenn etwas nicht vorhergesehen oder auch nur geahnt werden kann. Für Unfälle gilt das in der Regel, denn könnte man das Geschehen voraussehen, würde man ja wahrscheinlich noch etwas tun können, um es abzuwenden.

Jessika war nicht unaufmerksam am Steuer, nicht abgelenkt, sie fuhr nicht zu schnell und sie missachtete auch keine sonstigen Verkehrsregeln. Als die Gestalt im Lichtkegel der Scheinwerfer auftauchte, trat sie sofort auf die Bremse, der Bordcomputer verrichtete tadellos mit seinem Anti-Blockier-System die ihm von den Ingenieuren übertragene Aufgabe, das Fahrzeug blieb lenkbar, während es rapide an Geschwindigkeit verlor. Vor dem Zusammenprall versuchte Jessika noch, nach links auszuweichen, jedoch vergeblich.

Warum der junge Mann zu nächtlicher Stunde und ausgerechnet in diesem Moment über die Autobahn hatte rennen müssen, wohin er eigentlich wollte, wovor er womöglich davon rannte, warum er überhaupt nicht in die Richtung schaute, aus der ein Fahrzeug kommen konnte, erfuhren Jessika und Johannes nicht. Mit noch etwa 40 Stundenkilometern erfasste das Auto den Körper, er landete auf der Motorhaube und wurde dann hoch durch die Luft etliche Meter in Richtung Grünstreifen zwischen den Fahrspuren geschleudert. Dort blieb er liegen.

Der Dodge Nitro stand still, leicht schräg zwischen zwei Fahrspuren, die Scheinwerfer beleuchteten die reglose Gestalt an der Leitplanke.

»Warnblinker«, murmelte Jessika, »Warnblinker, Verbandskasten. Warndreieck? Notruf?«

Aber sie rührte sich nicht, starrte nur durch die Windschutzscheibe. Johannes tastete nach dem Schalter für die Warnblinkanlage, während er fragte: »Ist der jetzt noch am Leben?«

Jessika löste ihren Sicherheitsgurt und stieg aus. Zögernd ging sie auf die Gestalt zu, beugte sich herab und legte zwei Fingerspitzen an den Unterkiefer des jungen Mannes, um nach dem Puls zu fühlen. Auch Johannes verließ nun das Fahrzeug und gesellte sich zu Jessika.

Sie blickte auf und nickte.

»Er lebt«, sagte sie, »aber er ist nicht bei Bewusstsein.«

»Das ist gut. Wir müssen verschwinden, bevor jemand kommt.«

Jessika sah sich um. Weit und breit waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen. Wie war das möglich? Es war kurz nach 23 Uhr, sie befanden sich auf einer der Hauptverkehrsadern Italiens, bis vor kurzem war der Verkehr zwar nicht dicht, aber doch rege gewesen.

Johannes betrachtete Jessika prüfend. Sie war jetzt eine attraktive Frau von etwa 40 Jahren, ihre dunklen Haare von grauen Strähnen durchzogen, die Gesichtshaut noch immer glatt, aber im grellen Licht der Scheinwerfer waren einige Fältchen, die das leben eingegraben hatte, unverkennbar.

»Du willst ihn hier so liegen lassen?«, fragte sie erstaunt.

»Sobald du ihn geheilt hast, verschwinden wir.«

Jessika richtete sich auf und trat dicht an Johannes heran. Ihre Stimme war nicht laut, aber wohl gerade deshalb umso eisiger und drohender: »Hör sofort damit auf. Was tust du hier mit mir? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

Er wich nicht zurück. »Kannst du ihn denn nicht heilen?«

So etwas wie plötzliche Erkenntnis leuchtete in Jessikas Augen auf. Du tauchst plötzlich in Parma auf … das Mädchen im Zug … die ganze Zeit fühle ich mich wie ferngesteuert … du meinst, du hältst die Zügel in der Hand, Johannes?

Sie starrte ihm zehn lange Sekunden in die Augen, dann drehte sie sich um und ging zum Auto zurück. Sie nahm ihre Handtasche vom Rücksitz, rief »ich gehe Pinkeln« und verschwand ohne ein weiteres Wort über die Böschung der Autobahn in den Wald. Johannes sah ihr nach. Er wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr los. Bis zur Raststätte konnte er noch mit der vollen Blase durchhalten.

Eine halbe Minute später hielt ein Notarztwagen neben dem Verletzten. Die Polizei traf kurz darauf ein und sicherte die Unfallstelle; der Verkehr staute sich binnen weniger Minuten fast drei Kilometer. Das Unfallopfer wurde mit einer Halsmanschette versehen und dann behutsam auf eine Trage gebettet. Mit Blaulicht und Sirene ging es ins nächstgelegene Krankenhaus, während die Polizisten noch dabei waren, die Spuren zu sichern, so gut das in der Dunkelheit möglich war.

 

Ich saß an meinem Schreibtisch und versuchte, Jessika einstweilen zu vergessen. Ein Unterfangen, das genauso erfolgreich war, wie nicht an den blauen Elefanten zu denken, wenn jemand sagt: Denken Sie jetzt nicht an einen blauen Elefanten. Da steht er dann vor dem geistigen Auge, blau und groß und zweifellos ein Elefant.

Draußen auf der Straße war mein Auto geparkt, die Unfallschäden unübersehbar. Das Gutachten eines Sachverständigen lag auf dem Schreibtisch und bezifferte die Reparaturkosten auf 4.600 Euro. Es gab genug Dinge, mit denen sich mein Geist hätte beschäftigen können, aber meine Gedanken waren bei Jessika. Hätte ich sie dort am See verbluten lassen sollen? Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende? Woran hatte sie plötzlich gemerkt, dass ich – dass Johannes – derjenige war, der ihr Schicksal bestimmte? Was hatte sie nun vor?

 

Jessika trat aus dem Wald und betrachtete das Dorf, das in der Morgendämmerung schlief. Eine Kirche stand etwas erhöht auf einem Hügel, ringsum breiteten sich die Häuser aus, von kleinen Gärten umrahmt, mit weiß getünchten Fassaden und dunklen Fenstern, hinter denen Menschen dem Tag entgegen träumten.

»Ich könnte das ganze Dorf auslöschen«, murmelte Jessika. »Warum eigentlich nicht?«

 

Das kann sie eben nicht, sagte ich mir, denn damit würde sie wie die Hausmeisterin damals aus reiner Mordlust töten. Sie muss Nitzrek gehorchen. Und Nitzrek hat nichts davon gesagt, dass ein ganzes Dorf ausgelöscht werden soll.

Meine Finger verharrten über der Tastatur. Ich wusste noch so vieles nicht über Jessika, obwohl mir einiges während der Italienreise klar geworden war: Dass sie eine Nephilim ist. Dass sie einem Blutsbund angehört. Dass sie auch Gutes tun kann, wenn ihr die Gelegenheit geboten wird. Dass es noch andere ihrer Art gibt. Dass deren Aufgabe, Menschen vom Diesseits ins Jenseits zu befördern, nicht einfach gut oder böse zu nennen ist.

Aber so vieles, was ich hatte erfahren wollen, fehlte mir nach wie vor: Wo sprudeln die offenbar unerschöpflichen Geldquellen? Was hat es mit dem Körperkontakt auf sich, der zur Heilung eingesetzt wird? Wenn Nephilim Kinder mit Menschen haben, sind diese dann zwangsläufig Nephilim oder können sie auch normale Menschen sein?

Jedenfalls kann sie nicht aus Mordlust töten, das wäre gegen alle Regeln. Wenn Jessika machen könnte, was ihr einfällt, dann hätte ich mir ja ein Verhängnis herbei geschrieben.

 

ohne WorteNeben der Kirche lag eine Tankstelle, auf deren Parkplatz zwei Tanklastzüge standen. Die Vorhänge der Fahrerkabinen waren zugezogen, vermutlich schliefen die Fahrzeugführer so tief und friedlich wie das ganze Dorf. Ob die Tanks leer oder voll waren, konnte Jessika aus der Entfernung nicht feststellen. Sie ging langsam über die Wiese, die zwischen Dorf und Waldrand lag.

Jessika nahm ihre Zigaretten aus der Handtasche. Sie zündete sich eine Pall Mall an und spielte gedankenverloren mit dem Feuerzeug in der rechten Hand.

»Du sagst mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe«, sprach sie in die kühle Morgenluft. »Du nicht, Johannes – oder wie immer du auch heißen magst. Ich bin nicht dein Geschöpf, mit dem du nach Belieben umspringen kannst.«

Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und schritt dann zielstrebig auf die Tankstelle zu.

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So, liebe Blogbesucher. Ich höre schon den entsetzten Aufschrei aus einigen Kehlen: »Hier und jetzt soll Schluss sein? Wehe! Das wagst du nicht!«

O doch, ich wage es. Einstweilen. Natürlich wird Jessika mich weiter beschäftigen, denn so manches Geheimnis will ich unbedingt noch aufdecken. Aber wann und wie das geschieht, sei erst einmal dahingestellt.

Ich bedanke mich für die fleißige Beteiligung an den jeweiligen Abstimmungen, für die Kommentare, für Lob und Tadel zu dieser Geschichte. Es hat mir Spaß gemacht, mich beziehungsweise den Fortgang der Geschichte den Lesern immer wieder auszuliefern.

Oder habe ich Jessika meinen lieben Lesern ausgeliefert? Das wäre vielleicht nicht so gut. Sie scheint so etwas übel zu nehmen. Vielleicht sollten wir alle uns in den nächsten Wochen lieber zwei Mal umsehen, bevor wir in eine dunkle Gasse treten?

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