Donnerstag, 16. Juni 2011

Jessika-die Konfrontation /// Teil 5

Der Blick zurück: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4]. Und nun Teil 5:

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Ich hatte eigentlich noch drei Tage Urlaub vor mir, das Hotel war entsprechend gebucht. Wäre ich mir über meine Situation klar gewesen, hätte ich einigermaßen verstanden, was vor sich ging … womöglich wäre ich in Budweis geblieben. Aber es waren so viele Unwägbarkeiten vorhanden, dass ich beschloss, nach Hause zu fahren. Ich hatte nichts verbrochen, abgesehen davon, dass ich nach dem Tod des Mädchens nicht sofort die Polizei gerufen hatte – und abgesehen davon, dass ich Jessika und das Opfer sozusagen an den Tatort geschrieben hatte. War so etwas strafbar? Welches Gericht würde darüber befinden wollen oder können?

Wenn ich das Geschehen seit Jessikas Auftauchen in einer Erzählung gelesen hätte, wäre ich versucht gewesen, dem Autor schreiben: Ganz ehrlich, der Plot ist schon reichlich schräg!

Ich erinnerte mich an UR, eine Geschichte, die Stephen King für den Amazon Kindle geschrieben hatte. Wesley, ein Lehrer, bekommt statt des normalen grauen Kindle ein Gerät, das aus einem anderen, parallelen Universum stammt. Das Lesegerät hat ein Menü, das den Zugang zu diversen, parallel und unabhängig von einander existierenden Wirklichkeiten gestattet. Wesley liest auf dem Bildschirm Ur Local is protected by all applicable Paradox Laws. Do you agree? Y N, bevor ihm Realität und Fiktion verschmelzen. Diese Frage hatte mir niemand gestellt. Jessika war einfach aufgetaucht. Ich kannte die Paradox Laws genauso wenig wie Wesley. Und ob es mir nun gefiel oder nicht, ich hatte es nicht mit einem Buch, sondern mit meinem Leben zu tun. Und mit der Möglichkeit, dass die Polizei nach mir suchen würde. Mochte auch der Panamahut mein Gesicht verdeckt haben, so war doch Jessika sicher gut zu erkennen, falls die Kameras auf dem Turm in Betrieb waren. Die Angestellten im Hotel hatten uns gemeinsam beim Abendessen und beim Frühstück gesehen. Meine Personalien waren bekannt, Jessika hatte vermutlich mit ihren unerschöpflichen Vorrat an gefälschten Papieren ihr Zimmer gebucht und war somit in der Lage, einfach zu verschwinden – während ich immerhin damit rechnen musste, dass die deutsche Polizei bei mir auftauchte, falls die tschechischen Behörden auf mich als Zeugen des Mordes kamen. Fragen wären zu beantworten, Zeugenaussagen zu machen, Erklärungen zu geben, warum ich zugesehen hatte, warum ich die Behörden nicht verständigt hatte, woher ich die Tatverdächtige kannte, was ich über sie wusste …

»Nun gut, ich reise auch ab«, sagte ich schließlich.

Wir schlenderten zurück zum Hotel. Der Nachmittag war angenehm warm, die Straßen belebt, heitere Stimmung herrschte ringsum. Ein Urlaubstag, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Unter anderen Umständen zumindest.

»Der Mercedes bleibt in Budweis«, sagte Jessika. »Er gehört einer – äh – einer Verwandten. Kann ich mit dir fahren?«

»Wohin willst du denn? Palermo? Paris? Panama?«

Sie lachte und sang: »Berlin Berlin, wir fahren nach Berlin!«

»So.«

»Na klar, und das wusstest du auch schon.«

»So.«

»Wenn du mich nicht mitnehmen willst, nehme ich einen Leihwagen, oder ich könnte auch ein Auto annektieren, damit nach Prag fahren und dann fliegen.«

»So.«

Wir gingen am Schwimmbad vorbei, unser Hotel kam in Sicht.

»Falls ich mit dir fahren darf, beteilige ich mich natürlich an den Benzinkosten.«

»So.«

Jessika blieb stehen und hielt mich am Arm fest. Sie blickte über das Wasser zum Hotel und murmelte: »Das kommt jetzt aber sehr ungelegen.«

Ein Polizeifahrzeug hielt neben dem Eingang, zwei Uniformierte stiegen aus und betraten das Klika.

»Vielleicht wollen die ja nur ein Bierchen trinken?«, mutmaßte ich, ohne mir selbst zu glauben.

»Du kannst also doch noch mehr sagen als ein einsilbiges Wort. Das freut mich.«

»So.«

»Johannes! Noch ein einziges so und ich werfe dich auf der Stelle hier in den Fluss.«

Eingedenk ihrer Kräfte wollte ich das nicht riskieren und antwortete: »Ach.«

»Blödmann.«

»Ja.«

Wir bogen links auf die Terrasse des Hotel Budweis ab, von dort konnten wir das Klika sowie das geparkte Polizeiauto im Blick behalten. Ich hoffte, dass die Anwesenheit der Beamten nichts mit uns beziehungsweise der Leiche auf dem schwarzen Turm zu tun hatte. Jessika war – zumindest ging ich davon aus – bewaffnet, und wenn es darum ging, ihre Haut zu retten, nahm sie keine Rücksicht auf Menschenleben. Falls sie, wie auch immer das zugehen mochte, tatsächlich die Person war, die ich für meine Erzählungen erfunden hatte. Falls nicht, dann war es um meine mentale Gesundheit schlecht bestellt.

Wir bestellten Bier und warteten ab. Nach einer viertel Stunde traten die Polizisten zusammen mit dem Chef des Hotels vor die Türe. Sie blieben ein paar Minuten stehen und plauderten miteinander, dann wurden Hände geschüttelt und der Streifenwagen fuhr davon.

»Wenn du das hier schreiben würdest«, fragte Jessika, »wäre die Polizei dann wegen uns hier gewesen oder nicht?«

Ich trank den letzten Schluck aus meinem Glas. Was würde ich an dieser Stelle schreiben, wenn dies eine Geschichte und nicht die Realität wäre? Beide Varianten hatten einen gewissen Reiz, ließen Spielraum für den weiteren Fortgang. Schließlich antwortete ich: »Wenn das eine Fortsetzungsgeschichte auf meinem Blog wäre, dann bekämen jetzt die Leser wieder einmal Gelegenheit zum Mitmachen. Ich würde die Frage zur Abstimmung stellen und dann je nach Leservotum weiter schreiben.«

Sie sagte trocken: »So.«

»Ich hätte eine Präferenz, aber meinen selbst aufgestellten Regeln folgend läge die Entscheidung bei den Lesern.«

»So.«

»Es sei denn, es ginge unentschieden aus. Dann müsste ich selbst wählen.«

»So.«

»Aber das hier ist ja keine Erzählung, leider. Also müssen wir wohl oder übel früher oder später die Rezeption aufsuchen und unsere Abreise ankündigen.«

»So.«

»Und dann wird sich zeigen, ob der Chef die Polizei holt, während wir die Koffer packen, oder nicht.«

»So.«

»Wenn du jetzt noch einmal so sagst, dann … äh … dann …«

»Was dann?«

»Dann darfst du mit mir im Dodge Nitro nach Berlin reisen.«

»So.«

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Die Frage an die geschätzte Leserschaft liegt ja nun sehr sehr nahe:

Die Polizei kam ...
... wegen des Mordes auf dem schwarzen Turm.
... aus einem ganz und gar anderen Grund.
Auswertung

Fortsetzung? Folgt.