Montag, 1. August 2011

Jessika–die Konfrontation /// Teil 10

Wir erinnern uns noch, liebe Leser? Immerhin war die Pause zwischen der letzten Folge und dieser länger als sonst. Hier kann man noch mal nachschauen: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9]

Und nun ohne weitere Vorrede gleich in medias res.

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»Was wird aus dir, wenn ich ablehne?«, fragte ich.

»Wenn du mich nicht lieben kannst oder willst, Johannes, dann kann es dir auch egal sein, was aus mir wird. Wenn du dir weiter einreden willst, ich sei nur ein Produkt deiner Fantasie, du hättest mich erdacht, erschaffen, dann spielt es doch für dich überhaupt keine Rolle, ob ich lebe oder sterbe, existiere oder ausgelöscht werde.«

Damit hatte sie so Unrecht nicht, aber mein Zwiespalt ließ sich natürlich nicht auf derart simple Art lösen. Ich brauchte Zeit, um irgendwie zu einem Schluss zu kommen, ob ich in dieser abstrusen Geschichte, die ich mir so noch nicht einmal hätte ausdenken, weiter mitspielen wollte.

Jessika schenkte mir noch einmal von dem Nektar ein, der mir auf so wundersame Weise zu neuen Kräften verhalf und wiederholte, was sie schon vorhin geflüstert hatte: »Wir haben Zeit, viel Zeit. Ich liebe dich, Johannes, aber ich will nichts erzwingen, was du nicht möchtest.«

 

Wäre dies eine erdachte Erzählung, dann würde ich als Autor an dieser Stelle einen Traum in der Nacht einfügen, der irgendwie dem Protagonisten den Weg weist oder – was angesichts des bereits angerichteten Tohuwabohu fast unmöglich wäre – alles auflöst. Oder ich würde mich, da dies ja eine Erzählung in der ersten Person wäre, am Morgen in der normalen Welt aufwachen lassen, um dann irgendwie den Lesern zu vermitteln, dass dies alles nur verwirrtes Träumen, meinetwegen unter Drogeneinfluss, oder eine kurzfristige mentale Störung gewesen sei.

Jedoch: Als ich am Morgen aufwachte, in Jessikas Schlafzimmer, lag sie neben mir und blickte mich liebevoll an. Sie, die es nicht geben konnte. Sie, in die ich inzwischen zutiefst verliebt war, ohne es zugeben zu wollen.

»Ausgeschlafen?«, fragte sie.

»Ich glaube schon. Und du?«

»Sowieso. Wir brauchen weniger Schlaf als ihr, auch so ein Vorteil unter vielen. Es sei denn, jemand ist eine passionierte Schlafmütze.«

Die Sonne schien durch die Ritzen der Jalousie, ich fühlte mich ausgeruht und wieder völlig hergestellt. Zu gerne hätte ich jetzt Jessika in die Arme genommen … aber ich wollte mir erst klar darüber werden, in welcher Situation ich eigentlich steckte, wo und wann ich den Verstand verloren hatte, bevor ich dem Drängen und Sehnen in mir nachgab.

Sie strich mir sanft über die Stirn und sagte: »Im Bad habe ich ein Duschgel und einen Rasierer für dich bereit gestellt, falls du die Stoppeln loswerden willst.«

»Danke.«

Ich wusste nicht, ob sie die Stoppeln im Gesicht meinte, oder die weiter unten am Körper. Da sie mich nur mit meinem regelmäßig auf 2 Millimeter gestutzten Bartwuchs kannte, vermutete ich letzteres.

»Und dein Elektrorasierer zum Drei-Tage-Bart-Wiederherstellen liegt unter dem Spiegel bereit«, ergänzte sie.

Nun wusste ich, welche Stoppeln sie gemeint hatte und stand auf, um ins Bad zu gehen. Ich wartete einen Augenblick, ob mir wieder schwindelig werden würde, aber das war nicht der Fall. Ich war wohl tatsächlich völlig wieder hergestellt. Der Bademantel war nirgends zu sehen, aber da Jessika mich zehn Tage lang gepflegt und gestern zum Klo getragen hatte, abgesehen von unserem nächtlichen Bad im See zuvor, gab es sowieso nichts an mir, was sie nicht schon gesehen hatte. Sie hatte mir am Vorabend auf meine Frage, wie sie mich denn so lange sauber gehalten hatte, unbekümmert erklärt, dass sie einen Katheder gelegt habe (»ich war auch mal ein paar Jahre, dreißig oder so, Krankenschwester«), ansonsten habe sie mich täglich gewaschen, abgetrocknet und die Haut eingekremt, außerdem regelmäßig umgelagert, um einem Dekubitus vorzubeugen, das sei ja wohl selbstverständlich.

Als ich unter der Dusche stand und das Prasseln des heißen Wassers auf der Haut genoss, kam mir plötzlich ein Gedanke, aus heiterem Himmel, ein Gedanke, der bereits ein kleines Stück Erkenntnis in sich barg: Jetzt bist du Jessika so hilflos ausgeliefert wie sie dir ausgeliefert war, als sie deine literarische Figur war. Und wie fühlt sich das an?

Es fühlte sich nicht gut an. Natürlich nicht. Den Personen in meinen Erzählungen konnte ich ihren Weg vorschreiben, selbst wenn sie mich manchmal überraschten – letztendlich war ich der Autor und hatte das letzte Wort. Und nun wurde auf einmal mit mir nach Gutdünken verfahren, seit sich Jessika vor dem Hotel Klika an meinen Tisch gesetzt hatte. Selbst mein Experiment mit dem Schwarzen Turm war nicht so ausgegangen, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern hatte zum Tod eines kleinen Mädchens geführt.

Mir fiel der Schluss der Erzählung über Jessika in Italien ein, während ich mit dem handlichen Rasierer die Stoppeln entfernte. Damals hatte ich geschrieben:

Jessika nahm ihre Zigaretten aus der Handtasche. Sie zündete sich eine Pall Mall an und spielte gedankenverloren mit dem Feuerzeug in der rechten Hand.

»Du sagst mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe«, sprach sie in die kühle Morgenluft. »Du nicht, Johannes – oder wie immer du auch heißen magst. Ich bin nicht dein Geschöpf, mit dem du nach Belieben umspringen kannst.«

Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und schritt dann zielstrebig auf die Tankstelle zu.

»Aber das war eine Erzählung. Und jetzt stehe ich hier in ihrer Wohnung in der Dusche«, belehrte ich die Kachelwand vor meiner Nase.

Bob Dylan fiel mir ein. How does it feel? How does it feel? To be without a home, with no direction home, like a complete unknown?

»Das fühlt sich Scheiße an«, erklärte ich der Wand. »Entschuldige den vulgären Ausdruck, liebe Duschkabine, aber so ist es.«

Ich drehte das Wasser ab und schob die gläserne Trennwand auf. Neben dem Waschbecken stand eine kleine Kommode, auf der ein Stapel flauschiger Handtücher bereit lag. Ich trocknete mich ab und überlegte erst dann, wo eigentlich meine Kleidung sein mochte. Mir jetzt züchtig ein Handtuch um die Hüften zu schlingen wäre albern gewesen, also ging ich im Adamskostüm zurück ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, auf der Tagesdecke lagen Jeans, T-Shirt und Unterwäsche bereit. Ich zog mich an und folgte dann dem Duft von frischem Kaffee in die Küche.

Auf dem Tisch standen eine Thermoskanne, eine Tasse, eine Karaffe mit Milch und es lag ein Zettel für mich bereit.

Solltest du wider Erwarten Hunger haben, bedien dich aus dem Kühlschrank. Normalerweise frühstückst du ja nicht, aber nach der langen unfreiwilligen Fastenzeit …
Ich bin gegen Mittag zurück.
Falls du nicht auf mich warten willst: Dein Gepäck steht im Wohnzimmer neben dem Kamin bereit, der Autoschlüssel ist im Reißverschlussfach. Dein possierliches Nitromonstrum steht in der Tiefgarage, das Tor öffnet sich beim Ausfahren automatisch.
Wenn du auf mich wartest: Danke!
Liebe Grüße, J.

Ich schenkte mir Kaffee ein und schaute aus dem Küchenfenster. Die Umgebung war mir fremd, aber ich kannte von Budweis ja auch nicht viel mehr als die Altstadt. Ich befand mich offenbar in einem ruhigen Neubaugebiet, auf der Straße unten war kaum Verkehr, die drei- bis vierstöckigen Häuser in meinem Blickfeld waren zum Teil noch nicht fertig.

Mit der Tasse in der Hand spazierte ich ins Wohnzimmer. Wie versprochen stand mein Koffer dort, mein Telefon lag darauf. Ich schaltete es ein, der Akku war frisch geladen. In der Außentasche des Koffers befanden sich meine Brieftasche und der Autoschlüssel. Ich öffnete das Gepäckstück, es schien alles drin zu sein, was mit gehörte. Allerdings waren die Kleidungsstücke ordentlicher zusammengelegt als ich es zu bewerkstelligen vermochte, und meine gebrauchte Wäsche war frisch gewaschen. Mein Notebook samt Ladegerät war ordentlich im Extrafach verstaut.

Sollte ich abreisen? Wollte ich abreisen? War dies der Weg zurück in ein normales Leben, in dem keine erdachten Figuren leibhaftig ihr Unwesen mit mir treiben konnten?

Vielleicht. Womöglich. Unter Umständen.

Ich ging zurück in die Küche und schenkte mir Kaffee nach. Dann las ich noch einmal Jessikas Zeilen und beschloss, auf sie zu warten. Sie hatte mir immerhin, wenn alles so geschehen war wie sie es mir erzählt hatte, das Leben gerettet. So ohne Abschied einfach verschwinden – nein, das wollte ich nicht.

Du willst gar nicht fort von ihr.

Stimmte dieser Gedanke? Ja. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, dann wollte ich nichts weiter als das Leben künftig mit Jessika zu teilen. Doch gleichzeitig hatte ich Angst, eine unbestimmte Furcht nagte an mir, vor etwas Unbekanntem, Unbestimmbaren. Ich hatte mir das Überleben der Nephilim bis heute und ihre Fähigkeiten ausgedacht, Nitzrek war meine Erfindung, aber wenn meine ebenso erfundene Jessika auf einmal Realität war, wie konnte ich dann sicher sein, dass der Rest Fantasie bleiben würde? Zumal ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Jessika ein kleines Mädchen tötete. Nicht in einer Erzählung, nicht in einem Traum, sondern ein paar Schritte von mir entfernt auf dem Turm über den Dächern von Budweis.

Trotzdem willst du nicht fort von ihr.

 

Als Jessika gegen 12:30 in ihre Wohnung zurückkehrte, saß ich auf dem Sofa und las in einem spannenden Buch. Die umfangreiche Bibliothek hatte ich entdeckt, als ich neugierig die Räume inspizierte, die ich noch nicht gesehen hatte. Neben der Eingangstür lag links ein Gäste-WC, daneben eine Art Büro oder Arbeitszimmer mit zwei Schreibtischen und einer ganzen Regalwand mit Aktenordnern. Die Beschriftungen verrieten mir nichts über den Inhalt, es waren nur Zahlen-Buchstabenkombinationen. So weit, einen Ordner zu öffnen, reichte meine Neugierde nicht. Auch den PC rührte ich nicht an. Die nächste Tür führte in die Küche, und geradeaus mündete der Flur ins Wohnzimmer. Rechts gab es das Schlafzimmer, das Badezimmer und einen Raum, dessen Wände mit Bücherregalen bis zur Decke ausgestatten waren, auch links und rechts des Fensters, das der Tür gegenüber lag. Über dem Fenster hing ein Gemälde, darunter stand ein Tisch, auf dem weitere Bücher lagen. Ich versuchte, zu schätzen, es mussten weit über 2000 Bücher in diesem Raum untergebracht sein. Tschechische, deutsche, englische, italienische Titel, eine ganze Menge ältere Lederausgaben in Latein und mehrere Regalmeter in einer Schrift, die hebräisch oder arabisch sein mochte. In einem Regal lagen Schriftrollen, die ich vorsichtshalber nicht anrührte, so zerbrechlich wirkte das Pergament. Manche Werke waren uralt, einiges auf dem Tisch hatte ich kürzlich bei den Neuerscheinungen auf Amazon gesehen.

Ich stand lange vor den Regalen, schmökerte in zahlreichen Büchern, schließlich nahm ich »Das Kind« von Sebastian Fitzek mit ins Wohnzimmer und machte es mir gemütlich. Als Jessika zurück kam, hatte ich das halbe Buch gelesen. So manche Formulierung, wie immer bei Fitzek, verursachte ein Stirnrunzeln, aber spannend erzählt war die Geschichte allemal. Die Idee, die der Handlung zu Grunde lag, war ähnlich der, die mein Freund Günter J. Matthia für seinen Roman »Sabrinas Geheimnis« verwendet hatte, aber die Geschichte war doch eine ganz andere.

Jessika warf einen Blick auf das Buch. »Spannend, nicht wahr?«

»Ja. Durchaus spannend.«

»Du bist also noch hier. Hast auf mich gewartet.«

»Offensichtlich.«

Ich legte das Buch weg, stand auf und nahm sie fest in die Arme. »Ich gebe es zu«, sagte ich. »Ich liebe dich.«

Sie drückte mich an sich. Die Welt ringsherum wurde unwichtig. Hätte einer der biblischen Autoren unsere Geschichte erzählt, wäre seine Wahl der Formulierung an dieser Stelle vermutlich auf »und er erkannte sie und sie wurden ein Fleisch« gefallen.

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Eine Frage an die geschätzten Leser gibt es ausnahmsweise nicht, denn es ist ja in der Fortsetzung noch die Entscheidung der Abstimmung aus Teil 9 umzusetzen, nachdem hier endlich das Abstimmungsergebnis von Teil 8 mit den letzten paar Worten verwirklicht wurde. Die Angelegenheit mit dem Bund soll dann in Teil 11 passieren – wie, weiß ich selbst noch nicht.

Fortsetzung folgt, irgendwann.