Donnerstag, 19. Juli 2012

Fehlstart in den Zyklus 4

Wenn Zytostatika neben dem Blutgefäß ins Gewebe laufen, kann es zu schweren Hautschäden mit nachfolgendem Absterben des Gewebes (Gewebsnekrose), störender Narbenbildung oder Minderdurchblutung des Unterarmes kommen.

So steht es eher nüchtern in den Unterlagen über Risiken und Nebenwirkungen der Chemotherapie, deren Kenntnisnahme ich vor Beginn der Behandlung unterschrieben habe. Als gestern das Infusionsgerät signalisierte, dass die Flüssigkeit restlos in meinen Körper transportiert worden war, ahnte ich noch nichts. Das lag daran, dass ich es einerseits seit dem ersten Zyklus gewohnt bin, dass die Infusionsgegend nach ein paar Stunden weh tut und dass ich andererseits gelesen habe, anstatt ständig meinen Arm zu beobachten.

Als die Arzthelferin kam, um die Nadel zu entfernen, fiel mir zuerst ihr erschrockenes Gesicht auf, noch bevor sie etwas sagen konnte. Sie meinte: »Tut das sehr weh? Das ist ja grausam geschwollen. Ich hole mal einen Arzt.« Es ist ein Vorteil, dass in der onkologischen Schwerpunktpraxis am Oskar-Helene-Heim fünf Onkologen arbeiten, denn mein behandelnder Arzt ist zur Zeit im Urlaub, eine Kollegin war jedoch in Minutenschnelle bei mir. Sie sah sich die Bescherung an, entschuldigte sich kurz, um in der Fachliteratur nachzulesen, was zu tun sei … und dann kam sie ziemlich bedrückt zurück.
Das obige Zitat, Anfang Mai gelesen und unterschrieben, hatte ich natürlich nicht mehr im Kopf, insofern war ich wohl der am wenigsten besorgte Mensch von uns dreien, Arzthelferin, Ärztin und ich.

»Es gibt leider«, sagte die Onkologin, »kein Gegenmittel beim Oxaliplatin. Wir können jetzt überhaupt gar nichts tun.« Sie wandte sich zur bleichen Arzthelferin: »Konnten sie noch etwas wieder herausdrücken?« »Nein«, erwiderte die junge Frau wahrheitsgemäß, »das habe ich gar nicht versucht.« Die Ärztin versuchte, meinem Arm durch Druck noch ein Paar Tropfen wieder zu entlocken, aber vergeblich. Der Effekt beschränkte sich auf rasende Schmerzen, die mir die Tränen in die Augen trieben.

circa 2 Stunden nach der Infusion »Sie dürfen auf gar keinen Fall kühlen. Wir legen jetzt einen leichten Verband an, damit die Haut ein wenig gegen Berührung geschützt ist, wenn der Arm aber weiter anschwillt und der Verband den Blutfluss abdrückt, müssen Sie ihn entfernen. Auf gar keinen Fall dürfen Sie kühlen. Versuchen Sie, den Arm möglichst ständig hoch zu lagern, wenig zu bewegen … und was immer Sie tun, kühlen dürfen Sie nicht.«

Das dreimalige Kühlverbot hatte ich begriffen. »Und nehme ich jetzt wie vorgesehen die Xelox-Tabletten nach dem Behandlungsschema?«

»Nein, auf keinen Fall. Xelox greift ja wie Sie wissen unter anderem die Haut an, und das wäre nun etwas, was wir nicht noch zusätzlich brauchen können. Setzen Sie die Tabletten aus, ich will Sie und ihren Arm spätestens übermorgen hier sehen, dann können wir entscheiden, ob es ein verkürzter Zyklus wird. Wenn die Schwellung noch erheblich zunimmt, wenn die Haut aufplatzt, wenn Sie Fieber bekommen, wenn die Schmerzen unerträglich werden, dann begeben Sie sich bitte unverzüglich in die Notaufnahme des Behring-Krankenhauses. Dort gibt es einen Gefäß- und Hautchirurgen, der auf solche Schäden spezialisiert ist. Ansonsten stellen Sie sich bitte am Freitag hier vor, und bitte versuchen Sie nicht, den Arm zu kühlen. Mir bleibt jetzt nichts, als Ihnen und uns alles Gute zu wünschen, zu hoffen, dass die Schwellung zurück geht und die Schmerzen nachlassen. Das kann dauern, aber es ist auch nicht ausgeschlossen.«

Erst zu Hause, nachdem ich mir die Risiken und Nebenwirkungen noch einmal durchgelesen hatte, begann ich dann, den möglichen Schaden zu begreifen. Schwere Hautschäden mit absterbendem Gewebe … chirurgische Entfernung des Gewebes … keine schönen Aussichten, wirklich nicht. Und die Schuldfrage? Hätte das Personal besser (beziehungsweise überhaupt) die Infusion während der dreieinhalb Stunden überwachen müssen? Hätte ich darauf achten müssen oder können, dass die Nadel nicht verrutscht, ob der Arm anschwillt? Eine müßige Frage, wenn der Schaden erst einmal eingetreten ist. Höchstens für die nächsten Infusionen wäre es wohl wichtig, sowohl die Arzthelferinnen regelmäßig um Begutachtung zu bitten als auch selbst den Arm kritisch zu beobachten.

Der Rest des Tages war ein sehr schmerzhafter, selbst wenn der Arm unbeweglich auf einem Kissen ruhte, tat er ringsherum weh, und jede Bewegung verursachte höllische Schmerzen, am schlimmsten war alles, was die Haut berührte, und sei es auch nur eine leichte Decke gewesen, die ich über mich legte, weil ich mehr und mehr fror. Inzwischen waren unsere Freunde und Verwandten via Facebook informiert und schickten je nach ihren Überzeugungen Gebete zum Himmel, gute Wünsche und positive Gedanken auf den Weg zu uns – es war wieder kostbar für mich, zu wissen, dass wir nicht alleine mit der Situation dastanden. Mein eigenes Gebet hörte sich ungefähr so an: »Ich bin mir sicher, Vater im Himmel, dass es für meinen Schöpfer kein sonderliches Problem darstellt, jetzt heilend einzugreifen. Ob das geschieht, weiß ich nicht, aber ich will dich herzlich bitten: Das Gift soll aus dem Gewebe, wo es nicht hin gehört, entweichen und dabei keine bleibenden Schäden an der Haut oder darunter verursachen. Die Schmerzen, da wäre ich sehr dankbar, sollten nicht noch schlimmer, sondern eher weniger werden. Falls du das Gebet erhören kannst und willst, bedanke ich mich sehr herzlich; falls nicht, dann hilf mir durch die Folgen des Infusionsunfalls hindurch.«

Als gegen 18 Uhr mein Chef zu Besuch kam, war das eine willkommene Ablenkung und Abwechslung für mich. Seit meiner Einlieferung ins Krankenhaus im März hatten wir zwar telefoniert und E-Mails geschrieben, aber gesehen hatten wir uns nicht. Ich freute mich sehr, dass er endlich zu Besuch kommen konnte. Die beste aller Ehefrauen hatte zwei Brote gebacken und Obatzda zubereitet sowie andere Leckereien, so dass der Besucher nach dem langen Bürotag zum Bierchen auch ein paar Bissen zu sich nehmen konnte, was er auch mit Freude tat, während ich diese und jene Neuigkeiten aus der Firma erfuhr. Wir plauderten natürlich auch über andere Dinge … Eva und ich freuten uns beide über die Zeit mit unserem Gast.

Am Abend beim zu Bett gehen sah der Arm eigentlich kaum dünner aus, und wenn ja, dann war da eher der Wunsch der Vater des Gedanken. Den Verband schnitt die beste aller Ehefrauen mir vom Arm, weil ich es nicht riskieren wollte, dass er womöglich im Schlaf einen Blutstau verursachte. Die Nacht war dann mit eher wenig Schlaf versehen, meistens wusste ich nicht recht, wie ich den Arm noch lagern sollte, um möglichst wenig Schmerzen zu verursachen … und weitere Tabletten gegen die Pein wollte ich nicht mehr nehmen. Es pulsierte ziemlich im Arm, was ich einstweilen als gutes Zeichen verbuchte. Als ich nachts gegen zwei Uhr die Toilette aufsuchte, war deutlich sichtbar, dass die Schwellung zurückging. Der Arm war noch nicht wieder wie vorher, aber die Besserung war nicht zu übersehen.

Heute Morgen, 8:30 Uhr Heute Morgen dann konnte ich erfreut sehen, dass kaum noch etwas an den Zustand von gestern erinnert. Der Arm ist nur noch ganz leicht geschwollen, die Haut zeigt zumindest optisch keine Veränderungen abgesehen von einer ganz leichten Rötung. Die Schmerzen sind kaum besser, aber diesbezüglich kann ich mich schon in Geduld üben und da ich ein in der Kindheit umerzogener Linkshänder bin, ist der Alltag auch quasi einarmig zu bewältigen.

Ich bin nun zuversichtlich, dass ich nach dem Arztbesuch morgen gute Nachrichten vermelden kann, dass die Chemotherapie (die ja in ihrer erhofften Wirksamkeit an gewisse zeitliche Abstände zur Operation gebunden ist) wie geplant weiter gehen kann und dass die Schmerzen wie die Schwellung möglichst bald das Weite suchen.

Und allen, die uns mit ihren guten Wünschen, Gebeten, poitiven Gedanken und ihrer Anteilnahme begleiten, will ich an dieser Stelle wieder einmal genz herzlich und aufrichtig danken. Das ist nicht selbstverständlich und es ist uns beiden ein kostbares Privileg, dass so viele Menschen mit uns sind.

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