Montag, 10. September 2012

Tempest–Bob Dylan. Ja. Und nein.

Vorschusslorbeeren sind nicht immer angebracht, mitunter enttäuscht das vorab hoch gelobte tatsächliche Ereignis oder Ergebnis – was ohne all den Vorabjubel vielleicht nicht der Fall wäre.
Selten hat es in den letzten Jahren so viel Rummel um ein noch gar nicht erschienenes Album gegeben wie in den letzten Monaten und Wochen bezüglich »Tempest« von Bob Dylan. Noch nie war ein Album, das es noch nicht gab, auf Platz 1 der Amazon Verkaufshitparade. Noch nie wurde unter den Fans so viel spekuliert und gemunkelt über die Lieder, die noch niemand gehört hatte.

Und nun dreht sich die CD im Abspielgerät, bei mir und bei all den anderen, denen das Warten lang wurde. Immerhin gab es ein paar Tage vor dem Album schon »Duquesne Whistle« als Video zu sehen und zu hören und ein Ausschnitt aus »Early Roman Kings« sickerte über einen Werbespot noch früher durch. Und was soll man nun zum Album sagen? Waren all die Vorschusslorbeeren zu Recht ausgeschüttet worden?

Ja. Und nein.

Ja: Bob Dylan ist ein großartiges Album gelungen, das all die Komponenten enthält, auf die ich gehofft habe. Zitate aus der Bibel, von Edgar Allan Poe, Shakespeare, John Lennon, Robert Zimmermann … alles reichlich vorhanden. Musikalisch abwechslungsreich, die Band in bester Spiellaune, Bob Dylans altersraue und brüchige Stimme erstaunlich vielfältig im Ausdruck und – anders bei den Konzerten – er kann tatsächlich noch Melodien singen, wenn er nur will (woran ich nie ernsthaft gezweifelt habe). Live will er eben nicht, im Studio wollte er. Das ist fein.

Großartig auch die vielen kleinen und großen Geschichten, die er in den Liedern erzählt. Da kann ich die Augen schließen, mich entspannt auf das Sofa legen und auf eine abwechslungsreiche und abenteuerliche Reise begeben. Mord und Totschlag, bittere Abrechnungen, romantische Träume, hoffnungsvolle Aussichten, zerbrochene Hoffnungen … alles ist da, alles ist stimmig, alles ist noch dazu technisch perfekt aufgenommen.
tempest
Und nein: Es ist nicht DAS Bob Dylan Album, das eine, das große, das unvergleichliche. Es unterhält, es reißt mit, aber es ist nicht die große und letztendliche Offenbarung, die manche Vorabkritiker angekündigt hatten. Es ist womöglich, der Mann ist 71 Jahre alt, das letzte Studioalbum (wobei es garantiert wieder zahlreiche »Outtakes« gibt, die sich prima als Bootleg Nummer soundso vermarkten lassen), aber es ist kein Vermächtnis des großen Bob Dylan an die Welt. Den Anspruch erhebt er nicht, das haben die enthusiastischen Fans ihm unterstellt.

»Time out of Mind«, das war schon eher DAS Album, oder »Street Legal«. Womöglich auch »Infidels«, unter Umständen. Aber »Tempest« nicht, nicht für mich zumindest.

Die sogenannte Deluxe Edition enthält neben der CD im Schuber noch ein Notizbüchlein mit Platz für eigene Aufzeichnungen und Abbildungen von Titelseiten, auf denen Bob Dylan im Lauf der 50 Jahre zu sehen war. Nett, aber na ja – was soll man ernsthaft damit anfangen? Da wären mir die Texte der Lieder wesentlich lieber gewesen! Die fehlen. Da muss man nun warten, bis BobDylan.com sie nach und nach ergänzt. Es gibt schon für jedes Lied eine Seite, aber die sind noch leer. Die 2 Euro Aufpreis für die Deluxe Ausgabe halte ich denn doch für etwas übertrieben.

Mein Fazit: Ein gut gelungenes und hochkarätiges Album, das dokumentiert, dass Bob Dylan auch mit 71 Jahren keineswegs zum alten Eisen zu zählen ist. Er beherrscht sein Handwerk nach wie vor wie kaum jemand sonst. Es ist zwar nicht das Super-ober-Meisterwerk, von dem mancherorts die Rede war und ist, aber es lohnt sich allemal, zuzugreifen. Diese CD wird oft und auch nach Jahren noch den Weg in das Abspielgerät finden.

Bestellen kann man zum Beispiel bei Amazon:
Tempest