Samstag, 8. März 2014

Was ist schlimmer - Schalentiere oder Homosexualität?

Sehr geehrter Herr TV-Evangelist,

ich habe mir endlich einen Kabelempfänger zugelegt und kann jetzt Bibel-TV schauen, so oft ich will. Ihre Sendung gefällt mir außerordentlich! Vielen Dank dass Sie sich so um die Volksbildung bezüglich der Gesetzes Gottes bemühen. Ich habe aus Ihrer Fernsehshow bereits eine Menge gelernt und gebe mir größte Mühe, mein erworbenes Wissen mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Wenn zum Beispiel jemand versucht, Homosexualität zu verteidigen, dann erinnere ich schlicht daran, dass sie in 3. Mose 18, 22 deutlich als Gräuel bezeichnet wird. Ende der Debatte. So einfach ist das. Klasse!

Bezüglich einiger anderer Elemente des göttlichen Gesetzes brauche ich jedoch von Ihnen noch Ratschläge, damit ich völlig im Einklang mit der Bibel leben kann.

1. Das Wort Gottes in 3. Mose 25, 44 gestattet es mir, Sklaven zu halten; männliche und weibliche, solange sie von benachbarten Völkern gekauft werden. Einer meiner Freunde behauptet, das gelte nur für Polen, aber keineswegs für Holländer oder Französinnen. Können Sie da Klarheit schaffen? Warum darf ich keine Holländer besitzen?

2. Ich würde meine Tochter, so wie es in 2. Mose 21, 7 erlaubt ist, gerne in die Sklaverei verkaufen. Welcher Preis wäre heutzutage dafür angemessen?

3. Ich weiß, dass ich Frauen nicht berühren darf, während sie sich in der Phase ihrer monatlichen Unreinheit befindet - das lese ich in 3. Mose 15, 19-24. Mein Problem als Personalreferent in einem Industriebetrieb: Wie kann ich wissen, welcher Kollegin ich die Hand geben darf? Ich habe schon vor der Begrüßung nachgefragt, aber die meisten Frauen reagieren ziemlich eingeschnappt darauf.

4. Wenn ich auf dem Altar in meinem Garten einen Stier verbrenne, dann ist das dem Herrn, wie er in 3. Mose 1, 9 bestätigt, ein Wohlgeruch. Aber meine Nachbarn machen mir Ärger. Sie behaupten, dass der Geruch ihnen nicht angenehm wäre. Soll ich sie totschlagen?

5. Ich habe einen Nachbarn, der an jedem Sabbat arbeitet. In 2. Mose 35, 2 steht die klare Anweisung, dass er getötet werden muss. Bin ich moralisch verpflichtet, ihn persönlich umzubringen? Oder darf ich diesbezüglich die Polizei herbeibitten?

Foto: Gemeinfrei von Wikipedia6. Aus 3. Mose 11, 10 geht klar hervor, dass der Genuss von Schalentieren ein Gräuel ist. Ein Freund behauptet, das sei ein weniger schlimmes Gräuel als Homosexualität. Ich bin anderer Meinung. Können Sie hier Auskunft geben? Gibt es tatsächlich Gräuel-Abstufungen?

7. Wenn ich eine Sehschwäche habe, darf ich mich gemäß 3. Mose 21, 20 dem Altar Gottes nicht nähern. Nun bin ich aber Brillenträger. Gilt das Tragen der Brille, mit der ich ja dann klar sehen kann, als Ausgleich oder darf ich trotzdem nicht zum Altar des Herrn vortreten?

8. Die meisten meiner Freunde lassen sich die Haare schneiden, einschließlich der Haare an den Schläfen, obwohl das in 3. Mose 19, 27 ausdrücklich verboten ist. Auf welche Weise sollen diese Freunde sterben?

9. Dass mich das Berühren der Haut eines toten Schweines unrein macht, entnehme ich aus 3. Mose 11, 6-8. Darf ich trotzdem Handball spielen, wenn ich Handschuhe trage? Und meine gefütterten Winterstiefel kann ich doch weiter tragen, da das Leder nicht direkt die Haut berührt, oder?

10. Mein Onkel ist Landwirt. Er verstößt gegen 3. Mose 19, 19, indem er zwei verschiedene Saaten auf das gleiche Feld ausbringt. Ebenso seine Frau, indem sie gleichzeitig Kleidung aus verschiedenen Stoffen trägt (Baumwolle/Polyester zum Beispiel). Beide fluchen auch immer wieder. Müssen wir wirklich gemäß 3. Mose 24, 10-16 die ganze Stadt zusammenrufen, um die beiden zu steinigen? Können wir sie nicht einfach in einer privaten Familienzusammenkunft auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wie man es laut 3. Mose 20:14 mit Menschen tut, die mit angeheirateten Verwandten ins Bett gehen?

Sehr geehrter Herr TV-Evangelist, ich weiß, dass Sie das Gesetz des Herrn intensiv studiert haben und sich deswegen exzellenter Weisheit in solchen Angelegenheiten erfreuen. Daher bin ich voller Zuversicht, dass Sie mir Rat geben können.

Vielen Dank noch einmal dass Sie uns immer wieder daran erinnern, dass das Wort Gottes ewig gültig und unveränderlich ist.

Ihr begeisterter Zuschauer und Nachfolger

Günter J. Matthia

P.S.: Es wäre wirklich sehr schade, wenn ich keine holländischen Sklaven besitzen dürfte!

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Quelle: Der Ursprung ist unbekannt. Im Internet kursieren seit Jahren ähnliche englische Texte in etlichen Variationen, die für diesen Beitrag zweifellos als Inspiration dienten, insbesondere die »Dear Dr. Laura« Variante, die ich hier als Vorlage genommen habe. Eine deutsche Version gab es meines Wissens noch nicht - nun habe ich sie geschrieben.
Foto von Wikipedia.