Freitag, 29. August 2014

Die Kunst der Lebenskunst - fällt ein Meister vom Himmel?

Auf deinem Teller liegt eine saftige, dunkelrote Erdbeere. Du nimmst sie behutsam auf, legst sie auf deine Zunge und fängst an, den vollen aromatischen Geschmack zu genießen. Du weißt bereits, wie Erdbeeren schmecken, und ausgerechnet dieses Exemplar ist etwas überreif und nicht so ganz nach deinem Geschmack. Du verziehst leicht das Gesicht und schluckst die Erdbeere schnell herunter. Vielleicht ist sie aber auch genau richtig gereift und schmeckt genau so, wie du es erwartet hast - keine große Überraschung also. Du verspeist sie und wendest dich wieder dem Tagesgeschehen zu.

Im ersten Fall bist du enttäuscht, weil deine Erwartungen nicht erfüllt wurden. Im zweiten Fall war der Vorgang langweilig, weil du nichts anderes erwartet hast. Beides ist keine Lebenskunst.

Aber stell dir einmal vor, du hättest keinerlei Erwartungen bezüglich dieser Erdbeere gehabt, weil dir solche Früchte unbekannt waren. Du wärest neugierig gewesen, offen für eine große Bandbreite von möglichen Empfindungen. Säuerlich? Süß? Fest oder weich? Mit Kernen oder nicht? Sättigend? Saftig oder trocken? Du nimmst die Frucht in die Hand, riechst das einzigartige Aroma. Im Mund spürt deine Zunge die unterschiedlichen Texturen, die relativ feste Haut, das weiche Fruchtfleisch. Komplexe Geschmacksempfindungen entfalten sich, während du isst. Du hattest keine Ahnung, was dich erwarten würde - nun bist du begeistert, weil Geschmack und Aroma so exquisit sind.

Normalerweise erleben wir solche eindrücklichen Erfahrungen nur als Kinder, die täglich neu die Welt entdecken beziehungsweise Neues in der Welt aufspüren. Der Geist eines Kindes ist noch frei von Erwartungen - Alltägliches kann mannigfache Überraschungen in sich bergen. Ist es nicht schade, dass wir irgendwann alles zu kennen und zu wissen meinen? Dass die Erdbeere so langweilig wird?

Sieh, das ist Lebenskunst: Vom schweren Wahn des Lebens sich befrein, fein hinzulächeln übers große Muß. –Christian Morgenstern

Die Erdbeere kann für alles mögliche in deinem Leben stehen: Menschen, Ausflüge, eine Mahlzeit, ein Kaffee, ein Konzert, eine CD, eine Tätigkeit ... bis hin zur morgendlichen Dusche. Wenn du voller vorgefasster Erwartungen durch den Tag gehst, kommt es zu jeder Menge langweiligen bis enttäuschenden Empfindungen, weil die Erdbeere genau so oder sogar weniger gut schmeckt als erwartet. Die meiste Zeit bemerkst du deine Empfindungen noch nicht einmal bewusst.

Aber wenn du jedem Menschen, jeder Aufgabe, jedem Ereignis ohne bereits fertige Erwartungen entgegen gehst, den Moment, die Person als etwas Neues betrachtest, dann kann eine ganze Menge mehr an Lebensqualität entstehen. Natürlich ist es nicht sinnvoll, dabei den Verstand auszuschalten: Die Kerzenflamme ist heiß und bleibt heiß - das darfst du ruhig auch zukünftig erwarten. Aber in vielen Bereichen besteht die Kunst des Lebens darin, offen zu sein und zu bleiben. Dann tut sich dir plötzlich eine ganz neue Welt auf - dein Leben und Erleben wird sehr positiv verändert.

Ein paar Beispiele? Bitteschön:

  • Nehmen wir als Stichwort das schöne Modewort Prokrastination (früher als Aufschieberitis bekannt). Da gibt es eine Aufgabe, die du hinausschiebst und hinausschiebst und hinausschiebst. Ein großes Projekt womöglich, von dem du dich schon vorher überfordert fühlst. Und tatsächlich bedeutet es einen Haufen Arbeit, womöglich auch noch eine Art von Arbeit, die dir nicht liegt, die dir schwer fällt, in der du sogar schlechte Erfahrungen hast. In solchen Fällen heißt das Fallenlassen der Erwartungen, dass du zuerst einmal beschließt, dass du nicht weißt, wie und ob dir die Aufgabe gelingen wird. Du fängst einfach damit an und bist bezüglich des Ergebnisses und des Tempos offen. Einfach anfangen und schauen, was funktioniert, wie es funktioniert und falls es nicht funktioniert, wie du es besser oder anders versuchen kannst. Selbst wenn alles schief geht, lernst du ja etwas aus dem Erlebnis, so wie Edison hunderte von Fehlversuchen beim Entwickeln der Glühlampe als Gewinn betrachtete: »Jetzt kenne ich tausend Möglichkeiten, wie es nicht funktioniert«, soll er einem Reporter nach vielen Fehlschläge gesagt haben.
  • Gute Vorsätze eignen sich leider auch hervorragend als Hindernisse für ein erfülltes und zufriedenes Leben. Du unternimmst voller Begeisterung und Hoffnung einen Anlauf, überflüssiges Fett abzubauen und deinen Körper in Form zu bringen, indem du zu einem Dauerlauf aufbrichst. Das willst du, so der gute Vorsatz, ab sofort mindestens zweimal wöchentlich tun. Und dann stellst du beim ersten Lauf bereits fest, dass du weit weniger schaffst, als du dachtest. Hinterher spürst du leicht schmerzhaft deine Muskeln und am Fuß hast du eine Blase, weil der Schuh gerieben hat. Beim zweiten Dauerlauf ein paar Tage später fängt es auch noch an zu regnen ... und du bist so frustriert, dass das Thema Jogging für dich beerdigt ist. Obwohl du weißt, dass es dir letztendlich gut tun und deine Lebensdauer sowie -qualität erheblich steigern könnte. Schade.
    Du könntest das Erlebte aber auch als Erfahrung betrachten: So geht es nicht, mal sehen, wie es dann eben anders funktioniert. Mir jedenfalls ging es so, als ich vor einigen Jahren beschloss, endlich Laufen zu gehen. Der erste Versuch endete atemlos und entkräftet nach wenigen Minuten. Der zweite Versuch brachte nicht viel mehr, außer dass zusätzlich Schmerzen im Knie auftauchten. Anstatt zu sagen »Dauerlauf ist eben nicht mein Ding«, besorgte ich mir einen Trainingsplan für Anfänger und passendes Schuhwerk. Immer wieder gab es Rückschläge und »miese Tage«, aber ich blieb dran. Und das war auch gut so, wie mir etliche Ärzte später attestiert haben. Du solltest auch an gute Vorsätze nicht mit übersteigerten oder von vorne herein festgelegten Erwartungen herangehen, sondern offen sein für das, was sich bei der Verwirklichung entwickelt.
  • Und mit dem Sport sind wir bei einem generell wichtigen und gleichzeitig schwierigen Bereich: Dein Körper, magst du ihn so, wie er ist? Oder siehst du lauter Mängel? Hier sollte die Haut straffer sein, dort ist eine unschöne Verfärbung, die Nase ist zu groß oder zu klein oder schief, die Augenbrauen zu buschig oder zu dünn, der Bauch zu dick, die Beine zu stämmig ... und so weiter. Du bist unzufrieden, weil dein Körper nicht perfekt ist. Du hast abweichende Idealvorstellungen. Und so schade es auch ist - je weniger ein Mensch seinen Körper so akzeptiert, wie er im Moment ist, desto weniger wird dieser Mensch für die Gesundheit des Organismus tun, das wurde in zahlreichen Forschungsprojekten immer und immer wieder beobachtet. Man sollte meinen, dass die Unzufriedenheit gerade Ansporn wäre, etwas zur Veränderung des Zustandes beizutragen, aber in der Regel ist genau das nicht der Fall. Statt dessen werden immer mehr Ausreden und Ausflüchte angeführt, warum es sowieso hoffnungslos wäre, beispielsweise etwas gegen die überzähligen Pfunde zu unternehmen. Das wäre nämlich anstrengend. Das wäre unbequem. Unser Geist will uns daher weismachen, dass es sowieso sinnlos wäre.
    Wenn du dich von den übersteigerten Erwartungen an deinen Körper (die wahrscheinlich tatsächlich nicht realistisch sind) trennen kannst und erst einmal akzeptierst, dass du so bist, wie du bist, wenn du sagen kannst »das bin ich und das ist auch gut so«, dann ist der erste und entscheidende Schritt getan. Dadurch wächst dein Selbstvertrauen. Mehr Selbstvertrauen bedeutet mehr Durchhaltevermögen, wenn etwas schwierig und unbequem wird. Und siehe da - Veränderungen werden möglich. Dauerhafte Veränderungen. Nicht sofort, aber nach und nach, weil du dir zu jeder Zeit beim Blick in den Spiegel zurufen kannst: »Das bin ich, und das ist auch gut so. Ich bin nicht Adonis oder Venus, aber das muss ich auch nicht sein. Ich bin ich. Ein glücklicher und selbstbewusster Mensch.«

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. –Die Bibel, Matthäusevangelium

Foto: https://www.pinterest.com/pin/206180489160809556/Jesus hielt es offensichtlich für normal und richtig, sich selbst zu lieben, sonst hätte er das nicht als Vorbild für die Liebe zu anderen genannt. Kannst du dich selbst lieben? So, wie du aussiehst? Gilt das folgende alttestamentarische Wort auch für dich?

Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn. –Die Bibel, Genesis

Falls du an den Schöpfer glaubst, sollte es dir möglich sein, auch dieses Zitat ernst zu nehmen. Falls du nicht gläubig bist, versuch es trotzdem: Liebe dich selbst.

Der Dichter Matthias Claudius hat es so ausgedrückt:

Selig ist der Mensch, der mit sich selbst in Frieden lebt. Es gibt auf Erden kein größeres Glück. –Matthias Claudius, Pseudonym Asmus

Mit dir selbst in Frieden leben kannst du, sobald du dich so akzeptierst, wie du bist und aussiehst. Lass diese Erfahrung in allen Bereichen deines Lebens zu, nicht nur bei der physischen Erscheinung. Sei dankbar für den Augenblick und gespannt auf die Zukunft - das ist die Grundlage der wahren Lebenskunst.

Und wie wird man nun zum Meister?

Ganz langsam, nach und nach. Übung macht den Meister, sagt das Sprichwort, und das Sprichwort trifft zu. Man kann und muss es erst lernen, bewusst und achtsam zu leben und die Gegenwart zu akzeptieren, jeden Augenblick, jeden Tag. Natürlich haben wir unsere Idealvorstellungen, Wünsche, Träume ... und die werden nicht immer wahr. Im Leben kommt es auch weiterhin zu Enttäuschungen, Rückschlägen, Umwegen, Trauer, Frustration, Wut und Sackgassen. Die betrachtest du dann, wenn du ein paar Mal tief durchgeatmet hast und ein wenig zur Ruhe kommst, als Indizien für übersteigerte oder ungerechtfertigte Erwartungen. Und dann gehst du weiter, um eine wertvolle Erfahrung reicher.

Und irgendwann beerdigst du auch die Vorstellung, dass du perfekt in der Lebenskunst sei kannst und wirst. Es genügt dir, auf dem Weg zu sein und schon wieder hast du etwas gelernt, bist der Meisterschaft ein Stück näher gerückt. Immer besser gelingt es dir, dein Leben und dich selbst anzunehmen und zu genießen. Und das ist etwas Wunderbares.

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