Donnerstag, 23. April 2015

Weltbuchtag 4–Es gibt kein Unmöglich!

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
-Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Hier nun der vierte Beitrag – ein Auszug aus dem autobiografischen Roman »Es gibt kein Unmöglich!«, der kürzlich in überarbeiteter vierter Auflage auf den Markt zurückgekehrt ist:

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4 – Let It Bleed

We all need someone we can lean on
And if you want it, you can lean on me
~The Rolling Stones (Let It Bleed)

Johnnys Bedarf an Haschisch und gelegentlich einem Trip wuchs. Er war nicht sofort körperlich abhängig, aber er suchte in immer kürzeren Abständen den Rauschzustand. Es hatte mit einem Joint zum Wochenende begonnen, Trips nur bei besonderen Gelegenheiten, aber sein entschlossener Vorsatz, stets die Kontrolle über die Drogen zu behalten, hatte keinen dauerhaften Bestand.

Im Frühjahr 1969 war seine Großmutter verstorben und sein Großvater zog wieder nach Berlin, um dort den Ruhestand zu genießen. Die Gemeinde bekam einen neuen Pastor, der aus Hamburg kam, Emanuel Erolts. Er war ein sehr väterlicher und geduldiger Mann, mit dem Johnny eigentlich gut zurechtkam. Aber er besuchte, da der Großvater nicht mehr dort zu finden war, immer seltener Veranstaltungen der Kirche. Bei einem ungerechtfertigten Vorwurf kam es zum Bruch. Irgendjemand hatte in den Minuten nach dem Gottesdienst den Opferkasten, in den die Gläubigen ihre Spenden steckten, aufgebrochen und geleert. Da es ein simpler Sperrholzbriefkasten mit einem lächerlichen Schloss war, konnte das unbemerkt geschehen.

Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen Johnny zum Gottesdienst gegangen war. Er hatte das Geld nicht gestohlen, was er sachlich und ruhig erklärte. Der neue Pastor und drei Älteste saßen ihm gegenüber, Johnny kam sich vor wie vor einem Tribunal. Sie begnügten sich nicht damit, dass Johnny sagte, er sei es nicht gewesen. Sie wollten genau wissen, wo er zur fraglichen Zeit nach der Versammlung gewesen war, ob es Zeugen dafür gebe. Es war offensichtlich, dass sie ihm nicht glaubten. Johnny beteuerte mehrmals, nichts davon zu wissen, und dann wurde er stinksauer. Sie wollten ihm nicht glauben, er war das schwarze Schaf, der Sündenbock, und das machte ihn wütend. Er war geschickt im »Organisieren« von Geld oder Sachen, die man zu Geld machen konnte, aber das hier war er nicht gewesen. Vor dem Geld einer Kirche hatte er immer noch Respekt.

»Verdammt noch mal! Ich habe das Geld nicht geklaut! Aber ihr wollt es mir anhängen, weil es so einfach ist!« Verbittert rannte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Es war sein letzter Besuch im Gemeindehaus für lange Zeit.

Es war auch das vorläufige Ende von Summerthunder in der ursprünglichen Besetzung, denn weder Hanna noch Robin durften weiter mitmachen in der Band dessen, der den Opferkasten ausgeraubt hatte. Der Täter wurde nie gefunden und so blieb die Sache an Johnny hängen.

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Buchumschlag VorderseiteIm Herbst und Winter 1968 waren die Drogen für ihn überwiegend kostenlos gewesen. Später hatte Sigi, der stets für Nachschub sorgte, ihn ohne Vorwurf, nur zum darüber nachdenken, darauf aufmerksam gemacht, dass er auf Kosten der anderen rauchte und ins Traumland reiste. Ein Joint kostete ungefähr 20 Mark, ein Trip kam je nach Angebot und Nachfrage auf dem Mark auf bis zu 100 DM.

Susanne schlug vor, dass Johnny wie Sigi als Dealer das nötige Geld verdienen sollte. Sie erklärten ihm, worauf man achten musste, damit man weder über das Ohr gehauen noch erwischt wurde. Johnny stieg in das Geschäft ein. Sigi machte ihn mit dem Großhändler bekannt, der einmal wöchentlich aus München mit einem schicken BMW kam. Treffpunkt war der Gasthof Köhler, was Johnny von Anfang an dumm fand. Jeder, auch die Polizei, wusste Bescheid über die Kundschaft und die heimlichen Geschäfte. Dass die Razzien bisher nie erfolgreich gewesen waren, hielt Johnny für reine Glückssache.

Der Großhändler, Pusher-George genannt, überließ Johnny Drogen im Wert von knapp 5000 DM in Kommission, da Sigi für ihn bürgte. Er erklärte: »Nächste Woche bezahlst du das, was du verkauft hast, und gibst mir deine neue Bestellung. Ganz einfach. Was du selbst verbrauchst, ist nicht billiger, das sind sowieso schon Großhandelspreise.«

»Ich bin doch nicht blöd, natürlich bezahle ich. Aber wir treffen uns nicht hier, das ist mir zu heiß.«

»Hör mal, ich habe hier acht Leute, die aufpassen, ob Bullen in die Nähe kommen. Das System funktioniert.«

»Bis es mal schief geht. Nee, hier nicht. Pass auf, ich bin am nächsten Samstag um fünfzehn Uhr im Rathauscafé. Da findest du mich.«

George nickte. Einen Versuch würde er machen. Vielleicht wurde der Gasthof Köhler wirklich langsam etwas zu heiß.

»Okay, ich schaue rein. Ist das direkt am Marktplatz?«

Johnny erklärte ihm die Lage. Das Rathauscafé war ein richtiges Alte-Leute-Etablissement, mit Plüschmöbeln, Stofftapete, schweren Tischdecken und kostbarem Geschirr. Und es lag nur zwei Minuten zu Fuß von der Polizeiwache entfernt.

Johnny und Elfi hatten kürzlich das Café für sich entdeckt, es gab zwar ein paar erstaunte Blicke, da die beiden wirklich nicht aussahen, als seien sie über 60 Jahre alt, aber sie wurden zuvorkommend bedient und fanden es schick, in einem Omacafé zu sitzen. Der größte Vorteil im Vergleich zum Köhler war jedoch, dass man durch die großen Scheiben sehr gut und rechtzeitig sehen konnte, wer sich dem Lokal näherte, und dass es einen Notausgang neben den Toiletten gab, der auf eine Altstadtgasse führte. Die Tür war zwar verschlossen, aber der Schlüssel steckte von innen – sonst wäre das als Notausgang auch nicht durchgegangen.

Die Schule lief nur noch nebenbei. In Deutsch und Englisch hatte Johnny Einsen, ansonsten sah es traurig aus mit seinem Notendurchschnitt. Er drehte gerade eine Ehrenrunde, weil er das letzte Klassenziel nicht erreicht hatte. Es interessierte ihn nicht, ob er es nun erreichen würde. Seine Mutter hatte die Kontrolle über ihn längst verloren. Vorwürfe, Strafen, Belohnungen, ernste Gespräche, Ablenkungen, sie hatte alles ausprobiert. Es nützte nichts.

Da der Großvater wieder in Berlin war und der lose Kontakt zur Gemeindejugend nach dem Vorwurf des Kollektendiebstahls abgerissen war, suchte Johnny seinen Halt und seine Orientierung anderweitig. Er hatte, wie damals in Berlin, eine Gruppe um sich geschart, aber es war kein Kinder-Abenteuerclub mehr. Thomas und Elfi gehörten dazu, Sascha, ein zweiter Thomas und Rainer.

Sascha war der Sohn eines Psychologen und davon überzeugt, dass sein Vater die größte Macke von allen hatte. Er konnte herrliche Geschichten erzählen über die Anfälle seines Vaters, die seinen Worten nach auf Zustände geistiger Umnachtung schließen ließen. Sascha selbst war allerdings auch gelegentlich etwas merkwürdig, zugleich ungeheuer faszinierend. Johnny hatte beschlossen, sich genauer mit den Hintergründen seines Verhaltens zu beschäftigen.

Thomas der Zweite war Arztsohn, Einzelkind, reich, verwöhnt, dabei jedoch kein bisschen hochnäsig. Er war jederzeit zu jedem Unsinn bereit, sie trafen sich oft bei ihm zu Hause, da er ein riesiges Zimmer mit eigenem Fernseher und hervorragender HiFi-Anlage hatte.

Rainer kam von einem Dorf vor der Stadt, seine Eltern waren Bauern. Er konnte hart zuschlagen, weshalb ihn Johnny, der selbst auch nicht zimperlich war, sozusagen als Bodyguard engagiert hatte. Rainer hatte eine 12jährige Schwester, Sabine, wegen der er gelernt hatte, zu kämpfen. Er war seit Jahren der Beschützer des Mädchens.

Die sechs nannten sich Carnifex, das lateinische Wort für Henker. Sie ließen sich, was Thomas der Zweite problemlos finanzieren konnte, Lederjacken herstellen, auf deren Rücken eine Krake mit Totenkopfgesicht ihre Tentakel ausstreckte, der Schriftzug Carnifex zog sich oberhalb des Bildes im Halbkreis über die Schulterpartie. Unter dem Oktopus stand »Wir kriegen euch alle!«

Sie trugen scharfe Fahrtenmesser am Gürtel, Sascha und Rainer besaßen sogenannte Totschläger, schwere Schlagwaffen, die einem Faustschlag verheerende Wirkung verleihen konnten. Es machte Carnifex ungeheuren Spaß, auf dem Schulhof oder in der Fußgängerzone zu patrouillieren wie eine Handvoll Sheriffs.

Irgendwann bot ihnen ein Mädchen, dreizehn Jahre alt, Geld dafür an, dass Carnifex sie nach Hause begleitete, weil sie auf dem Weg regelmäßig von vier älteren Jungen belästigt wurde. Sascha und Johnny übernahmen den Auftrag. Mit vier Kerlen konnten sie zu zweit spielend fertig werden.

Sie folgten dem Mädchen in gehörigem Abstand und schlenderten auf die Jungen zu, die in einem Hauseingang auf ihr Opfer gewartet hatten. Zunächst taten sie, als hätten sie nichts mit der Sache zu tun und wollten vorbeigehen, dann, als sie auf gleicher Höhe waren, schlugen sie ohne Vorwarnung zu. Ein fairer Kampf war es nicht. Sascha und Johnny traten zuerst in den Unterleib und ließen den fast erwachsenen Jugendlichen keine Atempause. Nur etwa zwei Minuten später war alles vorbei, zwei von den Jungen hatten gebrochene Arme, alle vier bluteten aus Platzwunden, lagen am Boden und wehrten sich nicht mehr.

Sascha grinste auf sie hinunter. »In Zukunft lasst ihr -« Er drehte sich zu ihrem Schützling um. »Wie heißt du eigentlich?«

»Ulrike.« Sie war weiß im Gesicht, einen solch durchschlagenden Einsatz hatte sie sich wohl nicht vorgestellt.

»In Zukunft lasst ihr Ulrike in Ruhe. Sonst werden wir euch wirklich verprügeln. Das hier war nur eine Kostprobe.«

Sie nahmen Ulrike in die Mitte und gingen langsam weiter.

Sie kramte einen Fünfzigmarkschein hervor und reichte ihn Johnny.

Er schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass wir uns bezahlen lassen. Steck dein Geld ein und vergiss alles, was passiert ist. Du hast uns oder die Kerle nie getroffen.«

»Danke. Äh, war das denn nötig, sie dermaßen fertig zu machen?« fragte sie zaghaft. »Die sehen wirklich ziemlich kaputt aus.«

»Wir waren zwei gegen vier, was soll’s. Aber wenn dich jemand fragt, hast du uns nicht gekannt, okay? Wir sind dir zufällig zur Hilfe gekommen und dann wieder verschwunden.«

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Es fragte nie jemand. Die vier hatten der kurz darauf eingetroffenen Polizei etwas von Rockern erzählt, die mit Motorrädern abgehauen seien. Ulrike hatte ihre Ruhe, und Carnifex stieg im Ansehen der jüngeren Jugendlichen ringsum.

Es hatte Spaß gemacht. Johnny war zufrieden. Spaß war wichtig. Aus Spaß hatten sie begonnen, in Kaufhäusern und kleinen Geschäften einzukaufen, ohne zu bezahlen. Sie waren geschickt und trauten sich immer mehr zu.

Zwei Wochen nach der Prügelei lernte Johnny Rainers Schwester Sabine kennen. Rainer hatte ihn eingeladen, sie fuhren mit dem Zug hinaus aufs Dorf und Johnny sah Sabine beim Mittagessen in der Bauernstube.

Sie war schmächtig und für ein Mädchen vom Land ungewöhnlich blass, trug zwei geflochtene Zöpfe, ein Dirndlkleid und weiße Kniestrümpfe. Sie sah aus wie aus einem Album des vorigen Jahrhunderts, so brav, so unschuldig, so kindlich. Johnny musterte sie und versuchte, nicht allzu auffällig auf ihre Brust zu starren, die zwei noch kaum sichtbare Wölbungen zeigte. Ihre haselnussbraunen Augen ruhten wiederholt auf ihm, ein Lächeln, bei dem ihm schwindelig vor Glück wurde, ließ ihn unruhig auf der Holzbank hin und her rutschen.

Sabines linker Arm hing kraftlos herab, eine Behinderung, mit der sie geboren worden war. Rainer schnitt ihr das Fleisch auf dem Teller in Stücke. Sie kam ansonsten gut zurecht, solange sie nur einen Arm brauchte.

Sie erledigten ihre Hausaufgaben, dann beschlossen sie, nach Memmingen ins Hallenbad zu gehen. Johnny wollte nicht extra vorher nach Hause, eine von Rainers Badehosen passte ihm, Handtücher und Seife waren auch vorhanden.

Im Zug saß er neben der Angebeteten und griff zaghaft nach ihrer Hand. Sie zog sie nicht weg, sondern lehnte sich sogar an ihn. Rainer saß ihnen gegenüber und schmunzelte vor sich hin. Das hatte er nicht geahnt, als er seinen Freund einlud. Aber es war okay.

»Kannst du eigentlich schwimmen, mit dem gelähmten Arm?«, fragte Johnny.

Rainer blickte erschrocken hinüber und hielt gespannt die Luft an, er wusste, dass seine Schwester sauer werden konnte, wenn man sie auf ihre Behinderung ansprach. Das sanfte und schüchterne Mädchen konnte sich in solchen Momenten zur Furie entwickeln.

Doch sie sah Johnny verliebt in die Augen und fragte: »Rettest du mich, wenn ich untergehe?«

»Darauf kannst du dich verlassen.«

Es zeigte sich, dass sie eine gute Schwimmerin war. Es sah etwas merkwürdig aus, wie sie mit nur einem Arm ruderte, aber es klappte. Sie wartete, bis Johnny in ihrer Nähe war, als sie sicher sein konnte, dass er sie beobachtete, riss sie entsetzt die Augen auf, wedelte mit dem gesunden Arm in der Luft herum und gurgelte, schon halb unter Wasser: »Ich versinke!«

Er tauchte hinab und nahm sie in die Arme. Sie ließ sich locker treiben, als sei sie besinnungslos, und er brachte sie zurück an die Oberfläche.

»Mein Retter«, hauchte sie dankbar und ließ sich wieder in die Tiefe sinken. Johnny tauchte hinterher. Sie sahen sich unter Wasser grinsend an. Sabine zog ihn mit dem gesunden Arm an sich und drückte ihre Lippen auf seine.

Es blieb bei drei Unterwasserküssen an diesem Nachmittag. So eng, wie sie sich umschlungen hielten, musste sie fühlen, dass Johnny äußerst erregt war, aber beide ignorierten es.

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Sascha stieg anstelle von Robin bei Summerthunder ein. Das Keyboard blieb unbesetzt. Da Sascha das ganze Repertoire erst lernen musste, traf er sich häufig mit Johnny zum Üben, meist bei Sascha, weil sie dort nachmittags die ganze Wohnung für sich hatten und niemanden störten.

In Saschas Zimmer gab es ein riesiges Bücherregal. Während Sascha die Gitarren stimmte, sah sich Johnny beim ersten Besuch die Buchtitel an. Es waren ausnahmslos mystische und okkulte Werke.

»Liest du das Zeug?«

»Sonst stünde es nicht hier, oder?«

»Was um Himmels Willen ist das sechste und siebte Buch Mose, ich dachte, es gibt nur fünf.«

»Es gibt eine Menge Bücher, die kaum jemand kennt. Nur die Eingeweihten.«

»Aha. Und du bist einer davon.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich kann dir gerne mal was ausleihen. Aleister Crowley ist interessant.«

»Ich schau mal rein. Welches ist es?«

Sascha zog einen Band aus dem Regal. »Keine leichte Lektüre«, meinte er.

»Ich hasse leichte Lektüre.«

Das stimmte, Johnny las Heinrich Böll, Günther Grass, Wolfgang Borchert und Klassiker von Goethe bis Dostojewski. Sein Deutschlehrer hatte ihn vor Jahren auf den Geschmack gebracht.

Er steckte das Buch in seine Schultasche und sie spielten zwei Stunden Gitarre, rauchten Gras und Zigaretten, tranken dazu Cola mit einem Schuss Wodka.

Später erzählte Johnny begeistert von Sabine.

»Wie alt ist die? Hast du wirklich zwölf gesagt?« fragte Sascha.

»Ja, richtig gehört.«

Der Freund schüttelte den Kopf. »Da ist aber garantiert noch nicht viel dran an ihr. Was willst du mit einem solchen Kind?«

»Sie ist meine Freundin, wo liegt das Problem?«

Sascha überlegte, ob Johnny tatsächlich so naiv war oder nur so tat. »Hast du schon mal das Wort Sex gehört?«

»Ach du liebe Güte. Daran denke ich überhaupt nicht. Wir haben uns geküsst, das war alles.«

»Und dein kleiner Freund in der Hose ist ganz still und ruhig geblieben, ja?«

»Natürlich nicht. Ich bin ja nicht impotent.«

»Aber sie ist zwölf.«

»Sascha, ob du es glaubst oder nicht, ich bilde mir ein, verliebt sein zu können, ohne gleich an Sex zu denken. Oder nein – denken ja, klar, aber man muss ja nicht gleich zur Praxis schreiten.«

Saschas Miene sagte deutlich, dass er sich genau das nicht vorstellen konnte. Er nickte jedoch und erklärte: »Klar, wenn du meinst. Die Liebe ist ein seltsames Spiel.«

Trotz des Aufklärungsunterrichtes, den mit vielen Umschreibungen und sichtlichem Unbehagen ein Pfarrer in der Klasse durchgeführt hatte – oder vielleicht wegen der verschrobenen Umschreibungen – hatte Johnny noch keine klare Idee von dem, was zwischen den Geschlechtern bei der sexuellen Vereinigung ablief. Zu Hause war das kein Thema, alles unterhalb der Gürtellinie war tabu. Im Kreis der Dreizehn- und Vierzehnjährigen kicherte man über Andeutungen und Witze, aber Johnny hatte, wie die meisten Freunde, noch nicht mal eine konkrete Vorstellung, wie ein unbekleideter Frauenkörper aussehen mochte. Sascha schien das zu spüren. Er fragte: »Hast du überhaupt eine Ahnung, wovon wir reden?«

Johnny wurde rot, gab aber ehrlich zu, dass er so gut wie nichts wusste. Schließlich war Sascha sein Freund, und Sascha lachte ihn tatsächlich nicht aus. Aber er ließ seinem Humor freien Lauf.

»Also, da gibt es die Biene, die fliegt von Blume zu Blume, um den Nektar zu sammeln«, erklärte er fröhlich.

»Ah ja. Das ist also Sex.«

»Genau. Dir werden demnächst Flügel wachsen und die paarungsbereiten Mädchen stehen dann auf der Wiese herum. Warte mal.«

Er verschwand und kam mit einem Buch zurück, in dem an freizügigen Fotos kein Mangel herrschte. Die Sprache war Schwedisch, sie konnten kein Wort entziffern, aber das war auch nicht notwendig, um in allen Details zu studieren, was die abgebildeten Paare trieben.

Damals waren selbst für Illustrierte wie den Stern Frauen in Bikinis schon so ziemlich das Gewagteste, was man sich als Titelbild zu drucken traute. Es gab freizügigere Zeitschriften, aber die hingen, zumindest in Memmingen, nicht in den Auslagen.

Johnny verschlang die Bilder in der schwedischen Fibel mit den Augen, Sascha lächelte verständnisvoll. Wenn sein Vater auch eine Macke hatte: dieses Thema war nie ein Geheimnis gewesen. Er wusste schon lange, wie Frauen aussahen und wie Sex funktionierte.

»Wenn es in deiner Hose zu eng wird, tu dir keinen Zwang an«, meinte er trocken.

Johnny war viel zu perplex, um anders als mit einem knallroten Kopf reagieren zu können. Es war peinlich eng in seiner Hose geworden, aber darüber sprach man doch nicht.

Sascha bemerkte seine Verwirrung. »Sag mal, ich glaube, ich habe das total falsch eingeschätzt. Wie du mit Elfi auf der Bühne die Sexmaschine spielst, ohne rot zu werden, das passt gar nicht zu dem, wie du jetzt aussiehst. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr in Verlegenheit gebracht. War nicht meine Absicht.«

»Nein, ist schon okay. Ich habe nur echt keine Ahnung. Das hier -«, er deutete auf das Buch, »das ist also das, was in den Schlafzimmern passiert?«

»Mein Gott, du singst darüber und weißt es nicht? Squeeze me baby, until the juice runs down my legs. Was, meinst du, soll denn damit gemeint sein?«

»Na ja, – also – ich habe nie überlegt, was es genau bedeutet.«

»Und I'm going red and my tongue's getting tired…« Sascha blätterte ein paar Seiten um und zeigte dann auf ein Paar beim Oralsex. »Das sieht in der Praxis so aus.«

Johnny schaute sich die Bilder an und verstand endlich, worum es in Let’s spent the night together bezüglich der Zunge ging.

Sascha schüttelte erheitert den Kopf. »Aber du weißt wenigstens, was du selbst mit deiner Hosenmaus anfangen kannst, wenn sie munter wird.«

Natürlich hatte er die Masturbation schon längst entdeckt und es verging kaum ein Tag ohne. Aber darüber reden? Kurz angebunden sagte er nur: »Ja. Das weiß ich.«

Sie ließen das Thema fallen. Johnny war froh darüber, er empfand es als ungeheuer peinlich. Er hatte bisher bezüglich Sabine nicht weiter gedacht als an die köstlichen Küsse und das Kribbeln im Bauch in ihrer Gegenwart. Die Fotos in dem schwedischen Aufklärungsbuch, falls es denn ein Aufklärungsbuch war, öffneten die Tür in eine Welt, die er noch nicht gedanklich betreten hatte. Susannes Angebot, ihm das hier beizubringen, hatte er genauso wenig wirklich verstanden wie die Texte mancher Lieder, die sie sangen. Sein Interesse für das Thema war einfach noch nicht wach – oder noch nicht erwachsen genug – gewesen. Er fand es auf einmal faszinierend, genau wie die magischen Bücher, die Sascha besaß.

»Darf ich das ausleihen? Ich verstecke es garantiert so gut, dass meine Mutter es nicht findet, und in den nächsten Tagen bringe ich es zurück.«

»Klar. Lass dich nicht erwischen. Und vielleicht willst du den Aleister Crowley auch mitnehmen?«

Johnny steckte beide Bücher ein. Den Bildband wollte er in Ruhe und ungestört allein noch einmal durchschauen, das andere Buch schien ebenfalls etwas zu sein, was man möglichst geheim hielt.

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Blick ins BuchSascha wurde ihm der vertraute Freund, vor dem man keine Geheimnisse haben muss. Sie trafen sich fast täglich, um die Nachmittage und Abende zusammen zu verbringen, meist zum Musizieren. Die Band war nach wie vor das Wichtigste, aber auch wenn keine Probe anstand, verbrachten sie viel Zeit zusammen.

Johnny machte es Sascha nie zum Vorwurf, dass er ihn in den Okkultismus hineinbrachte. Der Junge hatte es nicht besser gewusst, er war damit großgeworden und hielt alles für spannend, aber völlig ungefährlich.

In den Sommermonaten 1969 hatte Johnny die meisten Bücher aus Saschas Regal über magische Rituale und okkulte Bünde gelesen und wollte ausprobieren, ob das alles funktionierte. Er verwarf die ängstliche Stimme im Inneren aus längst vergangenen Zeiten in der Kinderstunde der Kirche und hatte schließlich keine Bedenken, um Mitternacht mit seinem Freund zusammen beim Kerzenschein einem Ritual zu folgen, dessen Verlauf sie aus einem der Bücher entnommen hatten. Umgeben von magischen Symbolen unterschrieben beide mit ihrem Blut einen Pakt mit dem Teufel:

Diese Seele gehört dem Satan. Dem Leib darf er nichts antun, dem Leben muss er Erfolg verschaffen. Die Wünsche wird er erfüllen, so sie den Gesetzen des Bundes nicht entgegenstehen. Sein ist von diesem Tage an die Seele.

Sie setzten ihre Namen unter die identischen Exemplare des Vertrages, die sie mit einer echten Feder mit echtem Blut auf echtes Pergament geschrieben hatten. Dann wurden die Blätter gefaltet, bis sie in die kleinen Amulette passten, die Sascha bei einem speziellen Versand bestellt hatte. Es waren goldene, ovale Medaillons, die so fest schlossen, dass kein Wasser eindringen konnte. Man trug sie an einer ebenfalls goldenen Kette um den Hals.

Es passierte nichts, absolut nichts Ungewöhnliches in dieser Nacht. Keine Geister, die irgendwo polterten, nicht einmal die Kerzen flackerten geheimnisvoll. Keiner der Jungen fühlte sich verändert, keine Erschütterung, Kälte, Wärme … sie hatten irgendetwas erwartet, aber es geschah nichts. Gemäß den Vorschriften in dem magischen Buch war über die Zeremonie unbedingt Stillschweigen zu bewahren. Die beiden Freunde waren sich einig, dass sie dieses Geheimnis hüten wollten.

Das andere Geheimnis war die gemeinsame Selbstbefriedigung. Johnny vermied das Thema Sex in Gesprächen nach wie vor und hatte keinerlei Ambitionen, es einmal mit einem Mädchen zu versuchen. Er war sicher, dass er nicht schwul war, denn es zog ihn nichts zu anderen Jungen oder zu Sascha hin, sie genossen nur ab und zu gemeinsam ihr Tun und schauten einander gerne zu. Das brauchte niemand zu wissen, und niemand wusste es. Es hatte sich so ergeben eines Morgens, als Sascha ein neues Buch mit noch interessanteren Fotos ausgepackt hatte.

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Sabine sah er regelmäßig an den Wochenenden und gelegentlich während der Woche. Meist kam sie nach Memmingen, da auf ihrem Dorf noch weniger los war als in der verschlafenen Kleinstadt. Sie gingen ins Kino, machten Ausflüge, hörten Musik, redeten. Es zeigte sich, dass ihnen die Küsse und die Umarmungen vollständig genügten. Sie waren stundenlang allein und unbeobachtet, aber nie kamen sie auf die Idee, jetzt schon mehr als gute Freunde und Kameraden zu sein.

Johnny begleitete sie manchmal zu ihrem Physiotherapeuten, wenn sie die schmerzhaften Übungen machen musste, die wenig Erfolg für den gelähmten Arm zeigten. Der Therapeut erklärte, dass es noch Jahre dauern könne, bis Fortschritte erkennbar sein würden. Der Arm würde nie wie ein gesunder funktionieren, aber es gab Hoffnung, dass er nicht auf Dauer nur tot an ihr herabhängen musste.

Sie war sehr tapfer, aber oft liefen ihr die Tränen über das Gesicht und sie war dankbar für die Schulter, an der sie weinen konnte, wenn die Schmerzen zu grässlich wurden. Verbissen trainierte sie, seit sie zurückdenken konnte. Zu ihrem Geburtstag im August konnte sie stolz vorführen, dass es ihr bereits gelang, den Arm einige Zentimeter zu heben.

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Er war nicht in ihrer Nähe gewesen, als sie ertrank, und das quälte ihn am meisten. Er war innerlich überzeugt, dass er sie hätte retten können. Sie hätte retten müssen. Er hatte es ihr einst, am Nachmittag der ersten Begegnung, versprochen.

Sie war weit hinausgeschwommen und das Wasser des Weihers war trüb. Rainer und einige Freunde waren in Ufernähe. Sabine bekam vermutlich einen Krampf in ihrem gesunden Arm. Ihr Kopf sank unter Wasser. Verzweifelt strampelte sie sich hoch, schnappte nach Luft und schrie. Einige Gäste, die auf der Terrasse des Cafés am Ufer saßen, hörten ihre Hilferufe und sahen unentschlossen hinüber, nur zwei Männer sprangen prompt direkt vom Kaffeetisch ins Wasser, aber sie fanden den schmalen Körper zu spät. Rainer war ebenfalls sofort hinausgeschwommen. Sie tauchten und suchten, der Notarztwagen kam an, sie hatten sie immer noch nicht gefunden. Man konnte einfach nichts sehen in dem trüben Wasser. Man konnte nur tauchen und blind tasten. Die Feuerwehr kam mit Tauchern und Schlauchbooten. Einer der Männer aus dem Café fand den leblosen Körper schließlich nach über 30 Minuten. Alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Normalerweise wäre Johnny dabei gewesen, sie waren im Sommer oft in Buxheim, einem kleinen Ort vor Memmingen, saßen dort bei Cola oder Bier auf der Terrasse, nachdem sie sich im Wasser vergnügt hatten. Aber ausgerechnet an diesem Tag war er unterwegs gewesen, um neue Kunden zu finden.

»Das ist nicht fair, verdammt noch mal!«, schrie er, als Rainer ihm erzählte, was passiert war. »Warum ausgerechnet Sabine?«

Beide Jungen weinten und konnten einander keinen Trost spenden. Sie begriffen nicht, warum ausgerechnet das Mädchen ertrinken musste, das beide so liebten. Rainer hatte seine Schwester ebenso vergöttert wie Johnny seine erste Freundin. Rainer war ihr von Anfang an der starke Beschützer und Helfer gewesen, den sie brauchte, um sich gegen die Hänseleien der Kinder durchzusetzen. Wenn es um Sabine ging, kannte Rainer keine Gnade, er hatte so lange und so heftig Kinder verprügelt, die Sabine ärgerten, bis sie alle kapiert hatten, dass sie das besser bleiben ließen.

Bei ihrer Beerdigung stand Johnny neben Rainer, als hätte er zur Familie gehört. Die Worte des katholischen Priesters fand er albern und unpassend. Er konnte nicht erkennen, wo der »weise Ratschluss« liegen sollte, von dem der Mann redete, und er sah überhaupt keine Berechtigung, dass es »Gott in seiner Güte gefallen hatte, dieses junge Leben zu sich zu rufen«.

Bitter sah Johnny in die vielen leeren Gesichter. Von Sabines Schule waren jede Menge Kinder gekommen. Das halbe Dorf war versammelt. Es schien kein weiser Ratschluss erkennbar in dem Geschehen, für niemanden der Anwesenden. Warum durfte der Priester an Sabines Grab solchen Unsinn verzapfen? Das Wort Güte angesichts des Ertrinkens einer Dreizehnjährigen in den Mund zu nehmen … Johnny musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre er mit seinen Fäusten auf den Priester losgegangen.

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Soweit der Auszug aus dem Buch – wer weiterlesen möchte, darf bei Amazon einkaufen gehen: [Autorenseite Günter J. Matthia

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