Sonntag, 20. August 2017

Gastbeitrag Leo Babauta: Loslassen. Kapitel 20

Ich habe, regelmäßige Blogbesucher wissen das bereits, kürzlich ein weiteres Buch aus der Feder des Leo Babauta übersetzt. Das Buch kann man als Taschenbuch oder als E-Book für den Kindle erwerben. Um die Druck-, Vertriebs und Distributionskosten kommen wir nicht herum – daher kostet das Taschenbuch nun einmal fünf Euro und neun Cent und das E-Book zwei Euro und neunundneunzig Cent.

Das Taschenbuch: http://amzn.to/2van3Ar
Das Kindle-Buch: http://amzn.to/2uGrf7C

Loslassen._Eine_einz_Cover_for_KindleDa Leo Babauta sein Buch genau wie die Beiträge auf seinem Blog vom Copyright ausdrücklich ausgenommen hat und zur unentgeltlichen Weiterverbreitung auffordert, stelle ich die einzelnen Kapitel meiner deutschen Übersetzung hier auf dem Blog zur Verfügung.

Wer lieber ein »richtiges« Buch in der Hand hat beim Lesen oder gerne seinen Kindle benutzt, der kann die entsprechende Ausgabe bestellen. Wer kein Geld ausgeben kann oder will, der möge hier auf dem Blog lesen, was Leo Babauta zum Thema Loslassen eingefallen ist.

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Kapitel 20

Beispiele für das Loslassen

Also was bedeutet Loslassen im Alltag? Werfen Sie einen Blick auf einige Beispiele, wie Sie in verschiedenen Situationen ganz praktisch handeln können.

Ihr Kollege ist gemein zu Ihnen. Ihre erste Reaktion ist Verärgerung. Sie sind beleidigt, weil Sie ein Wunschbild darüber haben, wie andere Menschen mit Ihnen umgehen sollten. Die Wut wird die Situation nur noch schlimmer machen, und Sie werden bitter und unglücklich.
Also lassen Sie Ihre Idealvorstellung los und versuchen, das Leid zu sehen, durch das der Kollege gehen muss. Sonst würde er so nicht handeln. Entweder er ist gerade heute unter enormem Druck und rastet ausgerechnet bei Ihnen aus (seine Probleme hat er offenbar nicht im Griff) oder er benimmt sich immer so daneben, was bedeutet, dass er sein ganzes Leben lang leidet. Sie haben sicher auch schon an einer Situation gelitten und deshalb falsch reagiert. Sie wissen, dass so etwas ein sehr menschlicher Fehler ist. Wenn Sie die Situation des Kollegen einfühlsam erkennen, können Sie entsprechend reagieren, womöglich sogar das Leid lindern. Später, wenn er sich beruhigt hat, können Sie versuchen, auf mitfühlende Art und Weise klar zu machen, dass Sie ungerecht und ungehörig behandelt wurden und versuchen, mit ihm an einem besseren Umgang miteinander zu arbeiten.

Ihr Sohn räumt sein Zimmer nicht auf. Sie sind genervt und wütend, weil er sich anders verhalten sollte. Er benimmt sich rücksichtslos und Sie haben ihm das schon tausend Mal gesagt … ein unverschämter Bengel! Ihre Wut wird nicht von Ihrem Sohn verursacht, sondern von Ihrer Wunschvorstellung, wie er sich verhalten sollte. Seine Handlungen entsprechen nicht Ihren Idealen, daher sind Sie frustriert. Die Wut vergiftet Ihre Beziehung zu Ihrem Sohn: Sie zeigen ihm, wie unzufrieden Sie mit ihm sind. Er reagiert defensiv und hat Ihr Ausrasten satt. Sie sind auch nicht glücklich.
Sie könnten aber stattdessen Ihr Idealbild für den Moment beiseitelegen, sich beruhigen, und Ihren Sohn sehen wie er ist: ein guter Mensch, der glücklich sein möchte, aber nicht ausschließlich richtige Gewohnheiten hat (Sie übrigens auch nicht) oder vielleicht andere Prioritäten setzt als Sie. Seine Art, glücklich zu sein ist anders als Ihre. Sie können ihn liebhaben und ihn schätzen, weil er der ist, der er ist, Sie können erahnen, was ihn glücklich macht, Sie können ihn umarmen und gerne Zeit mit ihm verbringen. Weil Sie ihn akzeptieren, wie er ist. Und wenn es nun einmal ein echtes Problem mit seinen Reinigungsgewohnheiten gibt – vielleicht können Sie beide ganz ruhig darüber reden und eine Lösung finden, die für beide funktioniert. Möglicherweise erkennen Sie sogar, dass er wahrscheinlich diesbezüglich noch Hilfe und Anleitung braucht und gerne Ihre Unterstützung annimmt.

Ihre Tochter hat einen Wutanfall. Ihr Verhalten entspricht nicht dem Wunschbild, das Sie von einem perfekten Kind haben, also sind Sie enttäuscht. Sie explodieren, handeln aus Wut, die Ihnen und ihr weh tut.
Stattdessen könnten Sie Ihr Ideal des Verhaltens einer Tochter loslassen und ihr »schlechtes« Verhalten akzeptieren. Dann sehen Sie, dass sie frustriert ist und dass dies das einzige Verhalten ist, das sie kennt, wenn sie frustriert ist. Sie müht sich mit den gleichen Problemen beim Loslassen ab wie Sie – und es gelingt ihr nicht. So können Sie erstens ihr Leiden erkennen, zweitens das Kind trösten und drittens beginnen, dem Mädchen in aller Ruhe bessere Möglichkeiten aufzuzeigen, mit Frust, Ängsten oder Enttäuschungen umzugehen. Aber bedenken Sie, dass Ihr eigener Umgang mit solchen frustrierenden Situationen genau das ist, was Ihre Tochter lernen wird, egal, was Sie ihr sagen. Also mit gutem Beispiel vorangehen, indem Sie Ihren eigenen Ärger loslassen … und Ihre Tochter wird daraus lernen.

Ihr Vater wird an Krebs sterben. Das ist eine tragische Situation und Sie spüren bereits jetzt den Schmerz des Verlustes und die Trauer. Monatelang sind Sie traurig und kraftlos, weil er unheilbar krank ist. Sie wünschen sich, dass es ihm besser geht. Sie wünschen sich, dass er nicht sterben muss. Diese Idealvorstellung (ein gesunder Vater, der nicht stirbt) steht natürlich leider nicht im Einklang mit der Wirklichkeit.
Was können Sie tun? Versuchen Sie, diese Wunschvorstellung loszulassen, und Ihren Vater, so wie er jetzt ist, zu akzeptieren. Akzeptieren Sie auch Ihr und sein Leiden. Verbringen Sie Zeit mit ihm, in Akzeptanz der tragischen Wirklichkeit, schätzen und ehren Sie ihn auch in seinem jetzigen Zustand. Seien Sie dankbar für Ihr bisheriges Leben mit ihm und für alles, was er Ihnen gegeben hat. Versuchen Sie, ihn einfühlsam durch sein Leiden zu begleiten. Denken Sie über die Vergänglichkeit des eigenen Lebens nach und nutzen Sie die begrenzte Zeit in der bestmöglichen Weise. Anstatt an dem vergeblichen Wunsch zu leiden, es wäre alles anders als es ist, investieren Sie Ihre Lebenszeit in den Aufbau von Beziehungen und versuchen Sie, Glück zu finden, indem Sie andere glücklich machen.

Ihre Lebenspartnerin oder Ihr Lebenspartner wirkt distanziert. Sie sind verärgert oder verletzt, weil das nicht Ihrer Idealvorstellung entspricht, wie man immer liebevoll miteinander umgehen und einander Wärme schenken sollte. Dadurch benehmen nun Sie sich schlecht, die Beziehung leidet noch mehr, und Sie sind weiter unglücklich.
Versuchen Sie stattdessen, die Wunschvorstellung vom Handeln Ihres Gegenüber loszulassen und erkennen Sie den Grund für die Distanz und Kälte: Leiden. Ihre Partnerin beziehungsweise Ihr Partner könnte gerade etwas Schweres durchmachen, und vielleicht können Sie mit Ihrem Mitgefühl sogar helfen. Vielleicht können Sie darüber sprechen, vielleicht will er oder sie aber auch Raum für das Alleinsein. Erinnern Sie sich an Zeiten, in denen Sie Abstand brauchten, um irgendetwas zu verarbeiten oder zu bewältigen. Es geht jetzt gar nicht um Sie, sondern um etwas, was Ihre Partnerin oder Ihr Partner gerade durchmacht. Wenn sich ruhige Minuten finden, sollten Sie auf jeden Fall ein Gespräch darüber führen, was vor sich geht und wie Sie gemeinsam eine Lösung finden können.

Sie haben heute viel zu viel Arbeit. Das löst Ängste und Stress aus, weil Ihre Wunschvorstellung so aussieht, dass Sie genau die richtige Menge an Aufgaben haben und dass Sie immer alles gut, in Ruhe und komplikationslos erledigen können. Der Stress verursacht Ihnen einen schlechten Tag, und vielleicht misslingt einiges von dem, was Sie tun, weil Sie sich nicht richtig konzentrieren können.
Versuchen Sie stattdessen, Ihre Wunschvorstellung loszulassen. Akzeptieren Sie die Situation: Sie haben eine riesige Menge Arbeit und viel zu wenig Zeit. Verwenden Sie die begrenzte Zeit klug. Erledigen Sie einen Schritt nach dem anderen, so gut Sie es können, ohne sich wegen der noch offenen Dinge unter Druck zu setzen. Dann kommt das nächste dran. Wenn es offensichtlich wird, dass Sie Termine nicht einhalten können, dann geben Sie Bescheid und vereinbaren neue Zeiträume, die dem Arbeitspensum gerecht werden. Sie können nicht mehr als eine Sache gleichzeitig tun, wenn Sie Ihre Arbeit konzentriert und effektiv erledigen wollen. Sie müssen, schon um sich selbst zu schützen, Ihre Grenzen akzeptieren. Und wenn Sie konsequent immer nur eine Aufgabe nach der anderen erledigen, anstatt mehrere Dinge gleichzeitig zu versuchen, können Sie lernen, mit Konzentration und Ruhe viel effektiver und mit besseren Ergebnissen zu arbeiten. Und dann macht Ihnen Ihre Arbeit mehr Freude.

Sie möchten Sport treiben, aber Sie schieben es immer vor sich her. Sie entsprechen nicht Ihrem Wunschbild von sich selbst, wie diszipliniert und fit und gesund Sie sein sollten … das frustriert Sie und Sie fühlen sich schlecht. Sie trösten sich mit Essen und Ablenkungen, weil Sie so »schlecht« sind. Das führt dazu, dass Sie sich auf lange Sicht immer schlechter fühlen, weil Sie sich einfach nicht aufraffen können.
Stattdessen könnten Sie das Idealbild, wie diszipliniert Sie sein sollten, einfach loslassen. Akzeptieren Sie, dass Sie matt sind, dass Sie eine Menge zu tun haben, müde werden und deshalb die Lust auf Bewegung fehlt. Haben Sie Mitleid mit diesem Leiden. Und erkennen Sie dann die Übungseinheit als ein vernünftiges Mittel gegen das Leiden. Sportliche Betätigung lindert Stress, steigert die Zufriedenheit und das Befinden. Lassen Sie schlechte Gefühle über Ihre vergangenen Fehler hinter sich und finden Sie einen besseren Plan für das Training, der Ihnen hilft, Ihre Hindernisse zu überwinden (früher schlafen wenn Sie müde sind, mittags trainieren, wenn Sie es nicht nach der Arbeit schaffen und so weiter). Trainieren Sie bewusst, anstatt ein Wunschbild aufzubauen, das nicht der Realität entspricht, nämlich dass alles einfach und komfortabel gelingen müsste.

Sie sind unzufrieden mit Ihrem Körper. Er entspricht nicht Ihren Idealvorstellungen, wie er aussehen sollte – schlank, mit großartigen Muskeln oder Brüsten oder was auch immer. Also fühlen Sie sich unglücklich über sich selbst, und um sich über dieses Unglück hinweg zu trösten, essen Sie vielleicht Süßigkeiten … und alles wird noch schlimmer. Ihr Wunschtraum macht Sie unglücklich. Lassen Sie stattdessen das Idealbild einmal los.
Uns werden Fantasien vorgegaukelt. Die Realität unseres Körpers zu akzeptieren tut gut – er ist wirklich toll, wie er ist. Lernen Sie, das Großartige zu erkennen. Machen Sie sich all die erstaunlichen Dinge bewusst, die Ihr Körper tun kann! Denken Sie daran, wie er Ihnen jeden Tag dient. Das ist gewaltig! Das ist fast schon ein Wunder! Zugegeben, Ihr Körper gleicht wahrscheinlich nicht dem Bild eines Cover-Models, aber das wurde sowieso nur entwickelt, um den Verkauf einer Zeitschrift oder von irgendwelchen Produkten anzukurbeln.
Seien Sie barmherzig mit Ihrem Leiden. Akzeptieren Sie zum Beispiel, dass Sie übergewichtig sind, um dann besonnen herauszufinden, was Sie dagegen tun können. Sie werden vermutlich nie die Figur eines Fotomodells haben (das ist ein unrealistischer Wunschtraum). Lernen Sie zuerst, dankbar für Ihren Körper zu sein, so wie er ist, und dann konzentrieren Sie sich auf die Gesundheit. Ernähren Sie sich mit viel Gemüse und wenig (oder ohne) Fleisch statt mit Fertiggerichten und Fast-Food, fangen Sie an mit Bewegung und Meditation. Das ist produktiver, als Ihren Körper an einer Fantasie zu messen.

Es gibt natürlich Dutzende weitere Beispiele, die ich nennen könnte, aber wenn Sie die oben genannten Beschreibungen sorgfältig lesen, erkennen Sie das eine gemeinsame Muster in den Beispielen. Sie werden bald in der Lage sein, dieses Muster auf so gut wie jede Situation anwenden:

1. Erkennen, wie ein Wunschbild Leiden verursacht.

2. Begreifen, dass diese Idealvorstellung die Situation noch schlimmer machen wird (Ihre Wut schadet Ihrer Beziehung, Ihre Depression bringt Sie dazu, sich mit Essen zu trösten und so weiter).

3. Versuchen Sie, Ihr Wunschbild und den Ärger loszulassen.

4. Machen Sie sich Ihr Leiden bewusst, akzeptieren Sie das Leiden als Tatsache und sprechen Sie sich Trost zu.

5. Sehen Sie andere Menschen oder Situationen, wie sie wirklich sind. Begreifen Sie, dass (auch) die andere Person zu leiden hat. Akzeptieren Sie den Mitmenschen, wie er ist, akzeptieren Sie die Situation, wie sie ist.

6. Schenken Sie anderen Menschen Mitgefühl.

7. Reagieren Sie angemessen auf die Situation, in aller Ruhe. Finden Sie Wege, um die Situation zu verbessern, wenn ein Problem gelöst werden kann. Seien Sie dankbar für Ihre Lebenswirklichkeit, wie sie ist.

Natürlich werden Sie nicht immer diesem idealen Muster entsprechend handeln. Sie werden mit Situationen schlecht umgehen und falsch reagieren, wie wir alle. Auch das ist in Ordnung. Schauen Sie dann im Nachhinein an, was passiert ist, und erkennen Sie, wie Sie es beim nächsten Mal anders machen können. Das oben genannte Muster könnte dazu beitragen. Dann üben Sie das neue Verhalten geduldig ein, beim nächsten Mal, beim übernächsten, und immer so weiter.

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Fortsetzung folgt.

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