Beim virtuellen Schubladenstöbern habe ich unter anderem in ein Fragment mit großem Interesse hinein gelesen, das (laut Dateiinfo) am 15. Juni 1995 um 8:21 Uhr letztmalig von mir bearbeitet wurde. Die Geschichte einer 15jährigen, die ihre totgeglaubte Mutter in der U-Bahn vorbeifahren sieht und dann in den nächsten Wochen und Monaten...
Im 5. Kapitel schreibt diese Schülerin, einstweilen heißt sie Sophia, oder Hilde, aber doch eher Sophia, einen Aufsatz:
Sophia schrieb den Titel Dürfen wir denken? und verharrte nur einen Augenblick, dann begann der Text aus ihrer Hand auf das Papier zu fließen.Macht sich ja ganz schön tiefschürfende Gedanken, die Sophia. Für eine 15jährige recht erstaunlich. Irgendwie mag ich das Mädchen...
Sie kennen das Lied von den Gedanken, die frei sind, so daß niemand sie ermessen kann. Eventuell kennen Sie auch Paul Simon’s »Maybe I think too much«? Die Gedanken sind nicht frei genug. Sie sind gefesselt durch unsere Prägung, durch das, was wir ungeprüft als Wahrheit akzeptieren. Wir denken nicht zu viel, lieber Paul Simon, sondern viel zu wenig.
In unserem Biologieunterricht waren wir auf ein sachfremdes Thema gekommen, um am Ende doch bei der Biologie, speziell bei der Evolution, zu landen. Eigentlich begann unsere Diskussion durch eine hingeworfene Bemerkung eines Mitschülers: »Ich habe so viel Arbeit, ich kann nicht noch ein Referat bis übermorgen anfertigen.« Unser Lehrer bezweifelte, daß Markus tatsächlich »arbeitete«. Wir beschlossen, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen, so kamen wir zum Thema: Die Philosophie der Arbeit
Bevor Sophia fortfuhr, fragte sie sich ernsthaft, ob Philosophie nicht ein zu großes Wort sei. Aber der Begriff war in der Diskussion mehrfach gefallen, und sie beschloß, ihn zu verwenden, da auch Gert Werder daran nicht Anstoß genommen hatte.
Die Frage, die Sie berechtigterweise zunächst stellen, ist: »Wozu brauchen wir eine Philosophie der Arbeit?« Die Antwort, die Sie von mir erhalten, ist ein wenig länger, als die Frage. Die Entwicklung meiner Gedanken, die Sie hier mitverfolgen können, birgt die Beantwortung des »wozu« in sich.
Ich fordere Sie heraus, sich durchaus kritisch mit den Vorstellungen, die Ihnen hier begegnen werden, auseinanderzusetzen. Dies ist nicht die absolute Wahrheit (gibt es die?), sondern ein Modell, das darauf wartet, ausgestaltet und mit Leben erfüllt zu werden. Dem Modell darf und soll widersprochen werden, Sie können es ergänzen, gar verwerfen und verreißen, wenn Sie meinen. Solange Sie sich damit auseinandersetzen, werden Sie meiner Meinung nach auch Gewinn für sich persönlich, für Ihre Zukunft, und auch (wie vermessen!) für die ganze Gesellschaft haben. Denn automatisch befassen Sie sich mit Ihrer eigenen Situation und Ihrer möglichen weiteren Entwicklung.
Möglicherweise werden Sie Ihr Leben ein wenig ändern. Erwarten Sie jedoch keine Rezepte nach dem Verständnis einer ärztlichen Verordnung. »Drei Mal täglich zwei Seiten und Ihr Leben blüht.« Das geht nicht gut, und wer immer Ihnen so etwas verspricht (ja, es gibt viele, die das tun), wird von mir wegen fehlender Seriosität öffentlich und hier gescholten.
Erwarten Sie des weiteren bitte keine Wissenschaft. Dazu sind andere berufen, ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin einfach jemand, der sich fragt, ob wir uns damit zufriedengeben müssen, was wir vorfinden, oder ob wir nicht eine Verantwortung haben, im Rahmen unserer Möglichkeiten tätig zu werden. Ich bin eine 15jährige Schülerin, die nicht bereit ist, das, was man ihr vorsetzt, ungefragt als Wahrheit zu akzeptieren.
Erwarten Sie zum dritten auf keinen Fall eine neue politische Richtung oder gar die »Sekte der Religion der Arbeit«. Ich werde politische und religiöse Themen ansprechen, aber wie Sie sehen werden, bleibt es Ihre ganz private Entscheidung, was Sie glauben und vertreten wollen und was nicht.
Erwarten Sie jedoch, daß Ihre Vorstellungen in Frage gestellt werden. Ich will Sie nicht von etwas überzeugen, sondern ich möchte, daß Sie sich selbst überzeugen, ob entweder Ihr bisheriges Bild von der Arbeit und damit vom Leben richtig war, oder ob es möglicherweise von Ihnen selbst korrigiert werden sollte.
Wer arbeitet? »Was für eine merkwürdige, dämliche Frage«, wird manch einer, je nach Temperament, sagen. Vielleicht etwas vorschnell, werter Zwischenrufer! Oder können Sie aus dem Stehgreif definieren, ob die Ameise dort hinter dem Tannenzapfen arbeitet? Arbeitet der Mönch im Kloster, wenn er die heiligen Schriften seiner Religion studiert? Arbeitet der Beton, der die Autobahnbrücke zum Einsturz bringt? Fragen Sie mal den Arbeiter am Fließband in der stickigen Werkshalle, ob er der Meinung ist, daß der Inhaber des Unternehmens weiß, was Arbeit ist. Und dann fragen Sie eben diesen Unternehmer, ob der seit acht Wochen krankgeschriebene Kraftfahrer, wegen dessen Fehlens zwei Aushilfskräfte eingestellt werden mußten, arbeitet.
Welche Antworten werden Sie wohl erhalten? Ist die junge Frau, die ihr Baby wickelt und zum Kinderarzt trägt, arbeitslos, nur weil sie alle 14 Tage Geld von der entsprechenden Bundesanstalt auf ihrem Bankkonto vorfindet? Wenn der Popstar vor die Kameras tritt, um seinen Grammy abzuholen, dann verdient er in wenigen Minuten einen beachtlichen Haufen Geld - aber ist das wirklich Arbeit, was da entlohnt wird?
Sie sehen schon, ganz so leicht fällt die Antwort auf die »blöde Frage« nicht, wenn wir unseren persönlichen, subjektiven Blickwinkel verlassen, so gut das eben geht.
Adam und Eva schlendern durch den Garten Eden und benennen Tiere. Dabei pflücken sie Bananen (erlaubt!) für das Abendbrot. Wir schauen ihnen über die unbekleideten Schultern und stellen fest, daß bereits vorher eine ganze Menge an Arbeit erledigt worden ist: Die Physik lehrt uns, daß in der Natur keine Ordnung entstehen kann, ohne daß Energie - Arbeit - von außen in das System eingespeist worden ist. Also hat jemand - der Schöpfer dieses Gartens und seiner Bewohner - bereits sein Pensum geleistet. Wenn wir beim Modell der Schöpfung bleiben (wobei Sie natürlich das unbestrittene Recht haben, einer anderen Theorie anzuhängen), dann haben wir jetzt den gefunden, der die erste Arbeit verrichtet hat: Gott.
das ist zwar ein guter text, aber ich nehme ihn keiner fünfzehnjährigen ab. das ist wohl eine der schwierigeiten an fiktionaler literatur, die ich als verfasser theologischer arbeiten nicht habe: die unterschiedlichen sprachebenen in einem roman.
AntwortenLöschenbei einer fünfzehnjährigen würde ich mehr pathos und weniger tiefe erwarten. zudem mehr verwickelte gedanken und lange sätze.
zumindest sind die meisten texte (inkl. meiner eigenen), die ich aus diesem lebensabschnitt kenne, so geschrieben.
ist es eigentlich okay, so was zu kommentieren, oder nervt das? du bist ja jemand der viel wert auf stil legt, deswegen denke ich, dass dir das genauso hilft, wie inhaltliche kritik mir hilft.
storch, solche kommentare sind sehr willkommen - oft genug merkt der autor (in diesem fall ich) selbst nicht, wo die schwächen liegen, während anderen lesern sofort etwas ins auge springt.
AntwortenLöschenim fall sophia mag aus dem gesamten roman deutlich werden, dass sie ihrer altersgruppe (denken, empfinden, ausdrücken können) weit voraus ist, aber dennoch werde ich, falls ich an dem buch arbeite, deinen hinweis unbedingt beachten und ihren stil noch mal sehr genau unter die lupe nehmen.
jedenfalls: solche kommentare immer gerne.
15-jährige Mädchen, noch dazu wenn sie Sophia heißen, ;-)
AntwortenLöschenhaben durchaus solche tiefgründigen Gedanken!
Gleichzeitig beschäftigen sich sich in
diesem Alter viel mit sich selbst und sind gefühlsmäßig oft zerissen und auch widersprüchlich.
Den Absatz "Wer arbeitet", finde ich persönlich recht spannend.
Wenn das alles so messbar wäre...,
was Arbeit ist und was nicht...
Sophia=Weisheit. Eine "zufällige" Metapher, oder steckt vielleicht mehr dahinter?
AntwortenLöschenDon Ralfo, da steckt eine Menge mehr dahinter. Eine ganze Menge....
AntwortenLöschen»You may call my love Sophia, I call my love Philosophy« - um es auf einen möglichen Punkt zu bringen.
:-)