Samstag, 20. September 2008

Mädchen vom Land - Teil 1

Ich hatte Lust, mal wieder einfach nur zu erzählen. Dabei ging mir »Brownsville Girl« von Bob Dylan nicht aus dem Kopf.
So was kommt dabei raus:

Ich sehe es noch heute vor mir, wie sie in ihrem ramponierten Ford Capri auf der Landstraße heranrollte, hinter meinem alten Käfer anhielt und ausstieg. Ihre Füße steckten in unglaublichen Schuhen, die Sohlen mochten gut und gerne 10 Zentimeter hoch sein. »Wie kann man mit so etwas Auto fahren, geschweige denn laufen?«, dachte ich.
Ich habe nie herausgefunden, warum wir uns ausgerechnet an diesem einzigartigen Ort trafen, aber es war richtig so. Keine Menschen außer uns weit und breit, links und rechts der Straße Maisfelder kurz vor der Ernte.
»Probleme?«, fragte sie.
»Kein Benzin mehr.«
»Hmm hmm.«
Es war die Zeit vor der Erfindung der mobilen Telefone. Die Zeit vor den Navigationsgeräten, die den Weg zur nächsten Tankstelle weisen würden. Die Zeit vor der Hektik und der Angst in der Welt.
Sie nickte und öffnete mir die Beifahrertüre. Ich stieg ein und sie nahm hinter dem Lenkrad Platz. Der Ford roch nach Blumen und Haschisch. Am Rückspiegel baumelten Plüschwürfel. Sie ließ den Motor an und wir fuhren an meinem vertrockneten VW vorbei ins Irgendwo.

Wir verließen Bayern und bei Anbruch der Dunkelheit ließ sie das Fahrzeug kurz vor Stuttgart bei einer Scheune ausrollen.
»Die Scheinwerfer sind kaputt.«
»Okay«, sagte ich, »besser als kein Benzin im Tank.«
Wir schliefen im Heu, ihre Haut war zart und weich.

In der Stadt am nächsten Morgen ließ sie mich auf dem Parkplatz am Hauptbahnhof zurück, um ein Geschäft abzuwickeln. Ich wäre ihr fast gefolgt, aber ich hatte keine Lust, mir eine Kugel einzufangen.
Auf dem Rückweg kamen die Berge bereits in Sicht, als sie fragte: »Hast du Geld bei dir?«
»Zwanzig Mark, ungefähr.«
»Das reicht.«
Die gewundene Landstraße mündet in ein Dorf, ein Dörflein. Kirche, ein paar Bauernhäuser, ein Kramladen, an dessen Tür »Geschlossen« stand und zwei Zapfsäulen vor einer Bretterbude.
Sie hielt an und ich zapfte Benzin, während sie eine Toilette suchen ging. Als die Preisanzeige 19 Mark erreicht hatte, hängte ich den Schlauch wieder ein und ging in die schäbige Hütte, um zu bezahlen. Es war niemand da. Auf der Theke stand ein Pappschild: »Bin gleich zurück, bitte warten.«
Sie kam herein. »Kein Klo«, sagte sie, »und kein Mensch weit und breit.«
»Ich müsste auch mal…«
Sie öffnete eine kleine Tür hinter der Theke. Tatsächlich war dort ein Abort untergebracht. Während sie sich erleichterte, schaute ich mich ratlos um. Die Kasse war offen und leer. Neben der Eingangstüre stand ein Display mit Tageszeitungen vom Vortag sowie ein paar gängigen Zeitschriften. Ein kleiner Kühlschrank barg drei Wasserflaschen und ein angebissenes Wurstbrot auf einem Pappteller.
Sie kam zurück und meinte: »Da drin stinkt es jetzt.«
»Macht nix. Ich kann nicht mehr warten.«
Ich ging pinkeln. Als ich in den Verkaufsraum zurückkam, sah ich durch die Scheibe, dass sie das Auto volltankte. Die zwanzig Mark steckten noch in meiner Tasche.
»Wir fahren gleich los, steig schon ein«, sagte sie, »mir ist hier unheimlich.«

»Nach Italien«, antwortete sie, als ich eine Stunde später fragte, wohin wir eigentlich unterwegs waren. Ihr Lächeln ließ die Zähne zwischen ihre Lippen wie Perlen im Licht der untergehenden Sonne schimmern.
»Schön«, antwortete ich, »Italien kenne ich noch nicht.«
Sie sang mit der Musik, die aus den Lautsprechern kam, nachdem sie eine Cassette eingeführt hatte. »There is a rose in Spanish Harlem…«
Sie hatte dem schwarzen Rhythmus tief in ihrer Seele eine Heimat geschaffen.

Wir hielten wenig später auf einem Waldparkplatz an. Es wurde zu dunkel, um ohne Scheinwerfer zu fahren. Kein Unterschlupf war in Sicht, aber die Nacht schickte sich an, lau zu werden. Ein Wegweiser versprach einen Bergsee in 1,5 Kilometer Entfernung.
Sie verschloss den Ford Capri und wir folgten dem Pfad. Sie hatte ihre hohen Schuhe gegen zerschlissene Sandaletten getauscht und wirkte nun schmächtig.
Eine Weile schwammen wir, schliefen dann am Ufer im Gras. Ihre Haut war zart und weich.

Wir überquerten die Alpen und fuhren Richtung Neapel. Sie wählte grundsätzlich Landstraßen und gelegentlich Feldwege. Die italienische Grenze hatten wir auf einer staubigen Straße voller Schlaglöcher passiert. Das Benzin ging wieder zur Neige. »Longostagno« stand auf einem verwitterten Ortschild. Zwei Kilometer außerhalb des Dorfes bog sie in einen Feldweg ein, der zu einem Gehöft führte.
Eine Frau sah uns zu, wie wir eine Staubwolke hinter uns herziehend vor das Haus rollten. Sie hatte ihre roten Haare zu einem Zopf zusammengebunden und war damit beschäftigt, Wäsche aufzuhängen.
Sie stellte mir die Frau vor: »Das ist Ruby.«
»Henry ist nicht hier«, sagte Ruby, »aber ihr könnt hereinkommen. Er ist bald zurück.«
»Ich bin Wolf«, sagte ich.
Ruby lächelte. »Ich würde gerne mit euch fahren, zurück nach Hause, aber na ja, einstweilen…«
Wir traten ein.
»Ein Bier, Wolf?« fragte Ruby.
Ich nickte.
»Und du, Melissa?«
»Auch eins.«
Jetzt wusste ich endlich, wie sie hieß. Und sie kannte meinen Namen. Es war bisher nicht notwendig gewesen, diese Informationen auszutauschen.
Ruby stellte drei Flaschen Bier auf den Tisch, wir stießen an und sie sagte: »Willkommen im Land der lebenden Toten.«
Ich spürte ein gebrochenes Herz.
»Sogar die Treffen für unsere Tauschgeschäfte werden hier inzwischen ziemlich korrupt«, meinte Ruby.
Melissa zog ein Briefchen aus der Jeanstasche und legte es vor Ruby auf den Küchentisch. »50 Gramm, wie immer«, erklärte sie.
Melissa nickte. »Henry tankt euer Auto auf, wenn er kommt. Das Geld legt er dann auf den Sitz.«
Wir tranken unser Bier und warteten.
»Wie weit fahrt ihr denn?«, fragte Ruby nach einem tiefen Seufzen.
»Wir fahren den ganzen Weg, bis die Räder abfallen und brennen. Bis die Sonne den Lack vom Dach pellt, die Sitzbezüge verblichen sind und die Mokassinschlange tot ist.«
Ruby lächelte nur und meinte: »Na ja, manche Kinder werden nie erwachsen.«
Ich dachte an einen Film mit Gregory Peck. Irgendwie war ich in dem Film, wusste aber nicht warum und welche Rolle ich eigentlich zu spielen hatte. Ich sah nur, wie die Menschen sich bewegten, und dass eine ganze Menge von ihnen die Augen auf mich gerichtet hielten.
Melissa stellte die leere Flasche ab und schüttelte ihre langen braunen Locken aus dem Gesicht. Zähne wie Perlen, wie Licht vom Mond am Himmel.
»Fahr mich um die ganze Welt«, bat ich sie.
Wir blieben im Gästezimmer, ihre Haut war zart und weich.

Der Rest folgt morgen.

3 Kommentare:

  1. Holla-astrein...solche Erzählungen ziehen den Leser aus der Alltagssituation heraus!
    Bin gespannt auf Teil 2 ...

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  2. Bin gespannt auf Morgen...

    ... Was anders...
    Ich wollte mal wissen was ihr von Ben Becker 2008 "Die Bibel"

    ich find sie genial von Ihm. (Von einem noch Nichtchristen)

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  3. @Barbara: Die Spannung wurde ja inzwischen beendet. :-)

    @Robert: Ich habe mich ja schon mal kurz über Ben Becker geäußert: Siehe hier.

    Da ich aber seine Projekte nicht aus eigener Anschauung kenne, verbietet sich einstweilen eine Rezension oder Kritik. Ob er ein Nichtchrist ist, vermag ich nicht zu beurteilen, ich halte ihn nach allen Interviews und Rezensionen, die ich gelesen habe, eher für einen Christen, der auch unbequeme Fragen stellt. Was für mich ganz und gar in Ordnung ist.

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