Freitag, 26. September 2008

Wozu? Dazu?

Kürzlich in charismatisch-freikirchlicher Runde lasen wir das erste Kapitel des Epheserbriefes. Darin ist viel von der »Herrlichkeit Gottes« die Rede, von unserem »Erbteil« und vom »Geist der Weisheit und Offenbarung«.
Das anschließende Gespräch drehte sich zunächst um die Frage, wie man mehr davon erleben und bekommen könne. Es zeigte sich recht schnell, dass die meisten Anwesenden - in meinen Worten - gerne »geisterfülltere Lobpreiszeiten«, »wohltuendere Anbetungszeiten« und »größere Vollmacht« bezüglich der Schwierigkeiten und Probleme im eigenen Leben haben wollten.

Nun ist daran nichts auszusetzen. Gott freut sich, wenn seine Kinder ihn anbeten, Paulus wünscht sich in dem besagten Brief durchaus, dass die Gläubigen wissen, welchen »Reichtum« an Herrlichkeit und Vollmacht »über jede Gewalt und Macht und Kraft und Herrschaft« sie eigentlich zur Verfügung haben.

Nach einer Weile fragte ich den Gesprächsleiter, ob er denn noch zu der Frage »Warum eigentlich? Wozu das Ganze?« kommen würde. Da die Anwesenden mich einigermaßen kennen, witterten sie bereits, dass ich wohl anderes im Sinn hatte als noch gesalbteres Wohlbefinden in frommer Gemeinschaft. Hatte ich.

Storch schrieb neulich im Zusammenhang mit dem Epheserbrief:
Aber Paulus sagt noch etwas anderes über die Gemeinde und das ist mindestens genauso heftig: die Gemeinde ist die Fülle dessen, der alles erfüllt. Gottes ganze Fülle ist in der Gemeinde. Warum sind dann so viele Gemeinden kraftlos und es ist so wenig von Gott und seiner Kraft in ihnen zu spüren? Wenn Paulus recht hat, dann müsste es doch eigentlich sehr leicht sein, Gott in unseren Kirchen und Gemeinden zu finden. (Zitat aus »Wir haben einen König«)
Wenn die Gemeinde nicht so kraftlos wäre, müsste dann nicht beispielsweise unsere Stadt Berlin anders aussehen? Die nüchternen Zahlen:
In Berlin gehören 60% keiner Religion an, die weitaus größte Gruppe; 6,3% sind Muslime, weniger als 0,5% andere Weltreligionen inkl. Juden; 33,3 % sind nominelle Mitglieder christlicher Kirchen, darunter 21,5% evangelisch, 9,4% katholisch, 0,5% freikirchlich, 0,5% Migrationskirchen, 1,3% Orthodoxe. Berlin ist zweifelsfrei Missionsfeld mit einer Minderheit lebendiger Christen. (Aus dem lesenswerten Artikel »Minderheit mit Potential« von Axel Nehlsen)
Berlin hat nach amtlicher Bevölkerungsfortschreibung (Dezember 2007) 3.405.342 Einwohner. Das bedeutet, dass es rund 17.026 Christen aus dem freikirchlichen Lager gibt. Das pfingstliche-charismatische Segment ist nur ein Teil davon. Nimmt man großzügig an, dass es die Hälfte ausmacht, dann bleiben etwa 8.500 Gläubige dieser Frömmigkeitsausprägung übrig.

Ernüchternde Perspektiven, nicht wahr? Vor allem für die Gesprächsrunde, von der ich hier berichte, war es ein Schock, dass der Teil der Christenheit, dem man sich zugehörig fühlt, bei weitem nicht so bedeutend ist, wie man sich gerne fühlt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich gehöre genauso dazu.

Schnell wurde nun das Argument laut, es käme doch nicht auf Zahlen an, sondern auf die Intensität der Beziehung des Einzelnen zu Jesus: »Lieber zwei geisterfüllte vollmächtige Christen als 100 laue«, hörte ich. Was mich wieder zu meiner ursprünglichen Frage veranlasste: »Und wozu das Ganze? Was tun diese beiden geisterfüllten, vollmächtigen Christen für ihre Stadt, für die Menschen rings herum?«
Offensichtlich herzlich wenig. Sonst müsste die Gemeinde zwangsläufig wachsen.
»Aber ich muss doch zuerst meine Beziehung zum Herrn pflegen und aufbauen«, sagte eine Teilnehmerein, »damit ich überhaupt anderen von Jesus erzählen kann.«

Auch das ist richtig. Jesus hat nächtelang gebetet, Gemeinschaft mit seinem Vater im Himmel gepflegt. Diese Nächte hatten Ergebnisse: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was der tut, das tut ebenso auch der Sohn.« (Johannes 5, 19)
Bleiben wir vielleicht beim ersten Teil stehen? Wir betrachten, was der Vater tut und freuen uns daran. Bewundern es. Finden es gut. Loben ihn dafür. Jubeln in Anbetungsnächten und Lobpreisgottesdiensten. Produzieren Stapel von frommen Büchern, CDs, DVDs mit immer gesalbteren Inhalten.

Um uns herum leben in Berlin rund 2 Millionen Menschen ohne Glauben und 215.000 Moslems. Die kommen nicht zu unseren Gottesdiensten und Konferenzen. Na so was. Muss wohl an ihnen liegen, denn wir werden ja immer geisterfüllter und vollmächtiger...


6 Kommentare:

  1. Ich bin ja nicht sonderlich fromm, aber es gefällt mir, dass Du immer wieder den Finger auf die Wunde im eigenen Fleisch legst, anstatt auf andere zu zeigen.
    Bekommst Du da nicht Ärger? Ich könnte mir vorstellen, dass mancher aus dem/deinem Lager pikiert ist, wenn er so was zu lesen kriegt...

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  2. in charismatischen gemeinden predige ich immer gerne über die frage "wozu wurde uns der HG gegeben". die antwort kommt von lukas:
    ELB Luke 4:17 Und es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht; und als er das Buch aufgerollt hatte, fand er die Stelle, wo geschrieben war: 18 «Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit auszurufen und Blinden, daß sie wieder sehen, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, 19 auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn.»

    wenn du also mehr mit dem HG erleben willst, musst du mehr dienen. ist doch klar, es geht ja nicht um selbstbefruchtung oder -bespassung!

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  3. @Der Wolf: Da halte ich mich an das Motto von Bruce Springsteen, der bei einem Auftritt sagte: »The truth can be told, mama!«

    @Storch: Das Problem bei manchen Gläubigen aus dem genannten Umfeld ist, dass sie »mehr dienen« mit »mehr Gottesdienst« verwechseln. Die Armen, die Gefangenen, die Blinden und die Zerschlagenen sind einfach nicht im Blickfeld...

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  4. dann muss man sie ihnen zeigen. aber ich kenne dieses problem auch.

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  5. diesen Artikel habe ich bei glaube.de
    heute entdeckt, allerdings mit dem Brandenburger Tor versehen... ;-)

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  6. Na ja, Glaube.de hat die Generalgenhmigung, wie alle anderen, meine Artikel zu übernehmen. Freut mich, dass davon Gebrauch gemacht wird.

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