Mittwoch, 17. Dezember 2008

Linda

»Jemand sollte Linda aufhalten«, murmelte einer in unser Gruppe am Tresen. »Sie hat eine Pistole in der Handtasche und ist auf dem Weg zu ihrem Verlobten.«
Linda war schon durch den Ausgang der Bar verschwunden. Keiner von uns bewegte sich, obwohl wir wussten, dass wir etwas hätten unternehmen sollen. Oder rechtzeitig den Schnabel halten, aber niemand hatte bemerkt, dass Linda in die Bar gekommen war, und wir plauderten unbekümmert miteinander.
Eigentlich war das Gespräch nur zufällig darauf gekommen, dass Lindas Verlobter mit Jenny geschlafen hatte. Haben sollte. Eventuell. Keiner wußte etwas, alle mutmaßten und ein Wort gab das andere, wie es eben so ist, wenn man an der Bar sitzt und schon ein paar Bierchen intus hat.
Jetzt war Linda wieder weg.
»Er weiß ja noch nicht einmal, dass sie auf dem Weg zu ihm ist«, meinte ich, »sie klopft an die Tür und peng!«
»Was ist nur aus dieser Welt geworden...«, sagte der ältere Herr mit der braunen Mütze, von dem keiner so recht wusste, wer er war. Er saß so gut wie jeden Abend in der Bar, wie wir alle.
Mein Vater hatte mir immer gesagt, dass zwischen Liebe und Hass nur eine hauchdünne Grenze existieren würde. Ist die erst einmal überschritten, gibt es kein zurück mehr. Vielleicht stand ich deshalb nicht auf, um Linda zu folgen, nahm ich deshalb nicht das Telefon in die Hand, um ihren Verlobten zu warnen.
»Früher«, sagte Jack, »gab es noch Treue. Heute gilt das alles nichts mehr. Man kann gar nichts machen.«
»Das geht nicht gut aus«, mutmaßte Paul. Paul meinte immer, er sei eben Realist, wir hielten ihn für einen unverbesserlichen Pessimisten. »Ich habe da ein ganz böses Gefühl, der Typ sollte auf der Hut sein, Linda hat eine Knarre und Linda ist stinksauer.«
Ich entgegnete: »Warum muss er auch mit Jenny rummachen, er hat ja die Kiste der Pandorra selbst geöffnet!«
»Jemand sollte Linda aufhalten«, murmelte wieder einer, ich glaube, es war Jack. Seine Stimme klang aber nicht so wie sonst. So, als kämpfte er mit den Tränen. Ausgerechnet unser harter Jack!
Paul meldete sich wieder zu Wort, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hatte: »Es sind immer die Frauen, die den Männern zum Verhängnis werden.«
»Simson wegen Delilah, Ahab wegen Jezebel, König David wegen Bathseba«, stimte ich zu. Ich gab gerne mit meiner Bildung ein bisschen an. Die anderen kannten das nicht anders.
Paul nickte: »Und steckte nicht auch eine Frau dahinter, als Johannes der Täufer geköpft wurde?«
»Linda hat geweint«, sagte die tränenschwangere Stimme. Es war tatsächlich Jack. »Die ganze Schminke verschmiert, und sie hat sich noch nicht einmal das Gesicht gewaschen, ist einfach losgestürmt. Hat in ihre Handtasche geschaut, die Pistole halb rausgezogen, wieder reingesteckt und weg war sie. Jemand sollte Linda aufhalten!«
Ich ergänzte: »Eine Beretta, sie hat eine Beretta.«
Wir nickten, alle, glaube ich. Der Wirt stellte volle Gläser auf den Tresen.
Ich trank einen großen Schluck.
Sandra quetschte sich zwischen mich und Paul. »Hast du schon was vor?«, fragte sie mich.
»Wie, vorhaben?«
»Na ja, ich würde jetzt nach Hause gehen und bin so alleine.«
»Lass mich noch austrinken, dann gehen wir«, meinte ich und legte ihr den Arm um die Schultern.

P.S.: Das floss mir neulich aus den Fingern, nachdem ich wieder einmal Wyclef Jean mit »Linda« von dem wunderbaren Album »Preacher's Son« gehört habe. Plagiat? Nee. Interpretation! Und tiefe Verbeugung vor Wyclef Jean.
P.P.S.: Falls der Text zu lang erscheint: Morgen gibt es hier einen Beitrag zum Micro-Blogging. Mehr oder weniger.

10 Kommentare:

  1. also die Linda,die ich kenne hat bestimmt keine Pistole und braucht auch keine,denn obwohl sie durch einen Verkehrsunfall an den Rollstuhl gefesselt ist,steht Lindas Freund, natürlich ein Dylan-Fan,ihr treu zur Seite... ;-)

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  2. ich habe den text bis zu ende gelesen und fand es interessant. raue liga

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  3. @barbara: MEINE linda ist nun mal ziemlich stinksauer. man sollte ihr wohl aus dem weg gehen...

    @overcome: schön, dass ich dich fesseln konnte! das war meine absicht...

    :-)

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  4. spannend finde ich es auch,wenngleich ich am Namen Linda und meiner Verknüpfungskette hängen geblieben bin!

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  5. Ja, Günter,
    nette, lakonische Erzählung. Kneipenepisodenmoment, ohne quälende Moralitäten.
    Da du ja aus der Bibel schöpfst
    ´Simson wegen Delilah, Ahab wegen Jezebel, König David wegen Bathseba, Johannes der Täufer wegen Salome, so gibt es doch eine schöne Ausnahme. Josef nicht wegen Maria!
    Und ausserbliblich kommt jetzt hinzu.
    ´Günter wegen Sandra!
    Gerne gelesen die Geschichte.
    M...

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    Lieber Günter,

    eine schöner Einblick, lebendig geschildert. /images/smile.gif
    Ich habe deine Geschichte gern gelesen.

    Liebe Grüße
    A.

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    ...Es sind immer die Frauen, die den Männern zum Verhängnis werden...
    Hallo, lieber Günter, mir hat sehr gut gefallen, wie Du so ganz "locker" eine Gesprächskultur eingefangen hast. Auch so nach dem Motto: Irgendwer wird es schon richten /images/rolleyes.gif , ich gehe jetzt erst einmal mit Sandra...
    Gerne gelesen und liebe Grüße
    K-H

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    Lieber Günter,

    da kriegst Du von mir auch zwei Daumen nach oben! Besonders schön kam die Theatralik und gleichzeitige Untätigkeit des Betrunkenen am Tresen rüber. Erinnerte mich ganz stark an die Aussagen der Nachbarn, wenn mal wieder ein Kind im Kühlschrank gefunden wurde. Heulen und Kerzen und niemand hat über Monate/JAHRE etwas mitbekommen?

    Deine Protagonisten holen sich schon vorher einen auf die (eventuelle) Tat der Frau runter...und gehen dann ihren Vergnügungen nach.

    Was meinst Du, wie sie alle am nächsten Tag, wenn sie von dem Tod der Beiden (Mord/Selbsttötung) erfahren...da können sie dann die nächsten Wochen drauf heulen und trinken und jammern ( und ich wollte doch noch hinterher gehen *zwinker*).

    Super geschrieben, tolle Geschichte

    Liebe Grüße
    A.

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    Ja, so sind die Leute eben. Schon ein bischen unbequem, wenn man so einenen Spiegel vors Gesicht gestellt bekommt. Gut eingefangen und sehr gut in in Buchstaben wieder gegeben.
    Viele Gruesse
    O.

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  6. Ich hatte überlegt, das ganze ins Präsenz zu verlegen, schwanke eigentlich immer noch. Vor allem die Sache mit Jacks Stimme kommt im Imperfekt etwas irritierend an, finde ich. Mein Erzähler weiß ja inzwischen, dass die Stimme Jack gehört...

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  7. nun noch mal ernsthaft:
    Einerseits kommt die Gleichgültigkeit am Stammtisch andererseits die Doppelmoral super rüber...

    Das gefällt mir am besten!

    Natürlich lässt es sich auch umdrehen, und Männer können einem zum Verhängnis werden... ;-)

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  8. @barbara: welcher mann wäre je verhängnisvoll gewesen?

    ;-)

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  9. stimmt,jedes Verhängnis hat ja auch was abenteuerliches... ;-)

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