Gestern Eiswasser, heute hartgekochte Eier. Mich deucht, ich bin etwas restaurantlastig. Aber diese Geschichte wollte ich schon seit 1997 erzählen, ich bin bloß bisher nie dazu gekommen. Jetzt endlich, nachdem die lange Übersetzungsarbeit erledigt ist, berichte ich von jenem Mittag irgendwo, weißnichtmehrwo:
Es ist Mittag, ich bin in einer fremden Stadt, kenne mich nicht aus und kehre deshalb ein. Ich weiß zwar nicht, worauf ich Appetit habe, aber vielleicht weiß ich es doch, bin mir nur nicht ganz sicher. Die Kellnerin kommt mir entgegen, außer uns beiden ist niemand im Lokal. Ob heute ein Feiertag ist? Warum geht denn hier zu mittäglicher Stunde kein Mensch essen? Die Kellnerin betrachtet mich sehr genau, als ich mich hinsetze. Ein hübsches Gesicht hat sie, und sehr lange, schimmernde, hellhäutige Beine. Bei all dem dunklen Holz, das Wände verkleidet und aus dem die Möbel bestehen, schimmern sie um so heller. Wie mag sie heißen? Sie trägt kein Namensschild, wie man es sonst gelegentlich sieht.
Ich bitte sie: »Sagen Sie mir, was ich möchte.«
Sie meint: »Vermutlich wollen Sie hartgekochte Eier.«
Ein guter Vorschlag, bestätigt mein Magen. Oder ist es mein Gehirn? Egal. Jedenfalls stimme ich zu: »Prima Idee, richtig! Bringen Sie mir welche.«
Etwas huscht über ihr Gesicht, ein Lächeln wie ein vergänglicher Hauch Parfüm, wenn man auf der Straße an jemandem vorüber geht. Sie lächelt ganz kurz und sehr schüchtern: »Wir haben aber keine, Sie sind zur falschen Zeit gekommen.«
Dann ist das Lächeln wieder verflogen und sie fügt hinzu: »Ich weiß, dass Sie ein Künstler sind. Machen Sie eine Zeichnung von mir?«
Nun gut. Einstweilen kein Essen für mich. Vielleicht habe ich ja auch gar keinen Hunger. Da ich von Natur aus ein höflicher Mensch bin, sage ich freundlich: »Wenn ich könnte, würde ich das gerne tun. Aber ich zeichne nicht aus dem Gedächtnis.«
Etwas irritiert gibt sie zurück: »Aber ich stehe doch hier vor Ihnen! Haben Sie keine Augen im Kopf?«
»Das stimmt schon, aber ich habe meinen Zeichenblock nicht zur Hand.«
Da ist er wieder, der Hauch eines Lächelns. Wie kostbar ein solcher Moment ist, in einer fremden Stadt, eingekehrt in ein fremdes Gasthaus, die Freundlichkeit einer Fremden. »Ach so. Dann nehmen sie die hier«, sagt sie, und reicht mir eine Papierserviette, »darauf können Sie mich zeichnen.«
Ob ich dieses Lächeln noch einmal hervorzaubern kann? »Das würde ich tun, wenn ich könnte, aber ich weiß nicht, wo mein Bleistift geblieben ist.«
Sie zieht einen hinter dem Ohr hervor. Klingt sie etwas ungeduldig? »Nun aber los, zeichnen Sie mich. Ich bleibe ganz ruhig hier stehen.«
Ihr Mine bleibt ernst, fast konzentriert. Als müsste sie das Kunstwerk anfertigen. Ich male ein paar Striche auf die Serviette. Dann zeige ich ihr das Ergebnis.
Ein Lächeln? Nein. Im Gegenteil. Sie nimmt die Serviette und wirft sie zurück auf den Tisch. Die hübsche Stirn ist gerunzelt. »Das sieht überhaupt nicht aus wie ich!«
Ich sage: »Oh liebes Fräulein, ganz bestimmt sieht das aus wie Sie!«
»Sie machen wohl Witze?«
»Ich wünschte, das wäre so.«
Bin ich jetzt eigentlich unhöflich? Meines Charmes verlustig gegangen? Immerhin, rechtfertige ich mich vor mir selbst, hat sie mir nichts zum Essen gebracht und noch dazu eine Zeichnung verlangt. Seit wann bin ich denn Zeichner? Wenn ich überhaupt Kunst zustande bringen sollte, dann doch eher mit Worten ...
Unvermittelt fragt sie mich: »Sie lesen keine Literatur von weiblichen Autoren, oder?« Zumindest glaube ich, dass sie das gesagt hat. Falls ich mich nicht völlig verhört habe. Sie scheint gerne das Thema zu wechseln, ohne dass ich einen Anlass erkennen kann. Von den hartgekochten Eiern über das Zeichnen zum Bücherlesen.
»Hören Sie«, gebe ich zurück, »woher wollen Sie denn das wissen? Und überhaupt, welche Rolle könnte es spielen?«
»Sie machen nicht den Eindruck, das meine ich.«
Nun ja. Das kann ich nicht beeinflussen, welchen Eindruck ich auf sie mache. Aber immerhin kann ich den Irrtum aufklären. »Ganz falsch, völlig falsch!«, erkläre ich energisch.
Neugierig will sie wissen: »Und welche haben Sie gelesen?«
»Erica Jong.«
Sie geht einen Moment aus dem Raum in die Küche, ich schlüpfe vom Stuhl und trete wieder auf die belebte Straße hinaus. Doch niemand geht irgendwo hin.
P.S.: Kenner haben es längst erkannt: Diese kleine Geschichte wurde inspiriert von einer Passage im Song »Highlands«.
P.P.S.: Diese Erzählung ist auch in dem E-Book »Doch niemand geht irgendwo hin.« enthalten. Kostenlos für Kindle, Sony Reader und andere Geräte, auch als PDF. Hier klicken: Doch niemand geht irgendwo hin.
1997 was lange währt,wird endlich gut!;-)
AntwortenLöschen"But I'm already there in my mind
And that's good enough for now."
Irgendwie hat die Geschichte ja keinen Sinn, ausser dem, dass sie erzählt werden wollte. And that's good enough for now.
AntwortenLöschen;-)
"It's All Good" sagt Bob
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