Samstag, 5. September 2009

Eindrücke aus der Lesung mit Nadia Bolz-Weber

Um Ironie zu erkennen – ob sarkastisch (also beißend spöttisch) oder nicht –, müssen verschiedene Teile des Gehirns zusammenarbeiten. Wenn jemand die soziale Situation nicht versteht (beispielsweise wegen einer Beschädigung der vorderen Gehirnlappen oder wegen fehlender Übung bzw. Intelligenz), kann er Ironie – und damit auch ironischen Sarkasmus – nicht als solche(n) identifizieren. (Wikipedia)
Ironie und Sarkasmus sind nicht jedermanns Sache, aber gelegentlich mag es keinen anderen Ausweg geben, wenn man nicht verzweifeln möchte. Nadia Bolz-Weber, deren Lesung mit anschließender Diskussion ich kürzlich besucht habe, erklärte, wie sie reagiert hat, als ein Verlag das Ansinnen vorbrachte, sie möge sich 24 Stunden dem Programm eines evangelikalen (im amerikanischen Sinne) Bibelfensehsenders aussetzen und dann darüber ein Buch schreiben:
I suggested that perhaps the Geneva Convention might address making a person do this sort of thing, right after the paragraph on waterboarding, but then I agreed to it because, well, it was about the weirdest thing someone had asked me to do in a while, so how could I say no?
Die Autorin ist lutheranische Pfarrerin in Amerika, aber alles andere als eine »normale« Geistliche. In ihrer Kirche in Denver versammeln sich, so erzählte sie, Menschen, die zu 85% keine Kirche besuchten, bevor sie zu eben dieser Gemeinde fanden. Menschen, die anderswo nur Ablehnung, Verachtung und Verletzung von Christen erlebt haben. Nadia Bolz-Weber erzählte, dass sie gelegentlich überrascht (und sehr dankbar und erfreut darüber) ist, dass auch »ganz normale« Familien kommen und bleiben, die der typischen amerikanischen Mittelschicht angehören.

In ihrem Buch Salvation on the small screen? schildert sie die 24 Stunden, in denen sie (mit Freunden und Bekannten, die jeweils für eine oder zwei Stunden kamen) das Programm verfolgt hat, das der Sender TBN ausstrahlt. Dabei wählt sie Ironie und Sarkasmus als Stilmittel, weil ihr nichts anders übrig bleibt angesichts dessen, was sie sieht. Paula White zum Beispiel, eine Art Barbie-Puppe, die stilvoll ihre aufgeklebten Fingernägel zur Geltung bringt, während sie den Zuschauern ihre Philosophie (oder Theologie?) erklärt: »What do you do when life throws you a curve ball? You hit a home run!«

Nadia Bolz-Weber liest vor:
Much to my delight, Paula White is next. The last time I watched her show, her talk was entitled, "Why God Wants You Wealthy." White is a mega-church "pastor" along with her (soon to be second ex-) husband, "Bishop" Randy White.
After years of seminary I find myself getting a tad indignant about people taking the title "pastor", much less "bishop" with all the consideration and credentialing one might use choosing a chat room screen name.
Immer wieder in den 24 Stunden sind 30 Sendeminuten mit einer Schein-Talk-Show nur dazu da, dass die Zuschauer die regelmäßig eingeblendete Telefonnummer anrufen, um das jeweilige Geschäft anzukurbeln. Ob nun Hill$ong-CDs, Bücher oder kitschige Gemälde verkauft werden sollen, das Muster ist immer gleich. Es gibt auch eine Telefonnummer für Aufkleber mit einem durchgestrichenen Teufel, die man sich unter die Schuhsohlen kleben soll, um auf diese Weise die »Mächte der Finsternis« zu zertrampeln. Die Aufkleber sind kostenlos, aber sie kommen nur mit einem Buch zusammen zum Versand...

Nadia Bolz-Weber schildert anschaulich anhand mehrerer Beispiele, wie hinterhältig den Zuschauern das Geld aus der Tasche gezogen wird, wie fahrlässig Reichtum und Gesundheit versprochen werden von Fernsehstars, die wohl niemals denen Rede und Antwort stehen werden, die arm bleiben (oder durch großzügige Spenden werden), deren liebste Angehörige an einer Krankheit sterben, obwohl alle alles richtig, entsprechend »God's way«, gemacht und geglaubt haben.
What's so disturbing is that TV preachers can dispend these magic formulas for health and wealth, tell people that this is "God's way," and yet never be interrupted by the raised hand of someone who says, "I do all of the things you were saying but I'm still depressed" - or poor, or not speaking to my sister, or feeling as though God has abandoned me. This medium allows Paula White and her fellows, to some extend, to ignore the real, lived, complicated experience of people.
The irony of Paula White telling this story about counseling folks in problematic relationships while in the midst of a divorce from "Bishop" Randy White, her second divorce, is not at all lost on us.
Nun wäre das Buch einseitig zu nennen, wenn es sich ausschließlich um beißende Kritik am Fernsehprogramm von TBN handeln würde, aber Nadia Bolz-Weber geht einen (wie ich meine notwendigen) Schritt weiter: Sie stellt nicht in Frage, dass auch in solchen gespenstischen Shows wie Benny Hinns Sendung Gott Menschen berühren kann. Sie schildert, dass sie selbst zwar von dem meisten, was sie in den 24 Stunden sieht, abgestoßen ist, aber sie weist deutlich darauf hin, dass sie nicht das Maß aller Dinge ist.
If God can work through someone as broken and imperfect as me, then he can surely do the same with people like Paula White, although I think she is totally crazy. When it comes to God's grace, then I stop all irony and sarcasm. Because I believe that God offers his grace freely and without restrictions, I also believe that he can do such through these TV preachers, else he couldn't use me for his kingdom either.
Für mich wurde die Autorin gerade durch diese Einsichten in die eigene Unvollkommenheit um so glaubhafter, aufrichtiger. Sie erzählte von ihrer langjährigen Freundschaft mit einigen evangelikalen Christen, deren Meinung und Theologie (soweit vorhanden) sie zwar nicht teilt, die aber genau wie Nadia Bolz-Weber von ganzem Herzen an Jesus glauben und die Menschen lieben.

In der an die Lesung anschließenden Gesprächsrunde berichtete sie, wie es zur Gründung ihrer emergenten Kirche in Denver kam und was sich dort seither entwickelt und ereignet hat. Sie beantwortete die Fragen aus dem Publikum offensichtlich gerne und ausführlich, auch dabei blieb sie sich selbst gegenüber kritisch.

Mein Fazit: In manchen Punkten bin ich anderer Meinung als die Autorin, aber das ist normal und auch gut so. Ihr Vortrag war lebendig und unterhaltsam, und etliche Gedanken werden mich weiter begleiten. Ein gelungener, bereichernder Abend, der sich gelohnt hat. Nadia Bolz-Weber ist eine intelligente und humorvolle Autorin und Pastorin, ich werde ihren Blog im Auge behalten und das Buch ist bei Amazon bestellt.
Die gastgebenden Baptisten hatten reichlich Bier (lecker!) und Bionade (igitt!) bereitgestellt, der Raum war kreativ dekoriert und wir wurden liebevoll empfangen und verabschiedet.
Am Rande lernte ich noch zwei Menschen kennen, die zu meinen regelmäßigen Blogbesuchern zählen - jetzt kenne ich wieder zwei Gesichter mehr zu den Namen, die in den Kommentaren auftauchen.

P.S.: Ich habe zum Teil aus dem Kopf zitiert - das mag nicht immer akkurat gelungen sein.
P.P.S.: Die Zitate habe ich nicht übersetzt, weil ich zu faul war.
P.P.P.S.: Auf dem Weg zur Lesung hörten wir im Auto den unvergleichlichen Tom Waits, unter anderem mit Jesus gonna be here soon. Das passte im Nachhinein ganz hervorragend zum Abend.

5 Kommentare:

  1. (bin gerade bei der goldenen Hochzeit meines Onkels i. Schweden) danke für deinen Bericht über Nadia bolz-weber. Da ich in derselben Veranstaltung saß, kann ich nur sagen, dass ich das auch so erlebt und mitgenommen habe. Ich war auch berührt davon, wie die Autorin forgiveness ernst nimmt.

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  2. Jetzt ich muss aus einem Post eines Bloggers aus einer entfernten Stadt erfahren, wen ich morgen predigen höre... Wieder mal was neues.

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  3. Etwas neidvoll lese ich, im eher beschaulichen Tübingen, über die faszinierenden Events (anders mag ich eine solch beeindruckende Veranstaltung nicht nennen) in und um unsere/r Hauptstadt herum. Glücklicherweise habe ich in dir ja einen fleissigen Hofberichterstatter ;-) Danke!

    Grüßle, Sec

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  4. @karin: viel spaß in schweden!

    @mychie: ist das tatsächlich vor ort unbekannt? ich hab mich ja gewundert, dass auf der webseite eurer gemeinde kein hinweis ist...

    @sec: tübingen hat immerhin schöne cafés, wie ich mich von früher her erinnere. früher ist allerdings ca. 30 jahre her.

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  5. Später Kommentar, aber ich habe meinen Computer neu installiert. Mit sehr ähnlichen Worten habe ich meiner Frau von dem Abend berichtet. Und ich fand es schön, dich mal in persona kennenzulernen.

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