Montag, 16. August 2010

Sprachlos

Eine Leseprobe aus diesem BuchDie Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur, doch fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn Worte mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte. Satzfetzen, Bruchstücke von Gedanken, Handlungsfäden, die richtungslos waren, literarische Sackgassen von erstaunlich kurzen Dimensionen waren alles, was der Autor finden konnte. Er wollte schreiben, aber er wusste nicht worüber.

Dies war in der Vergangenheit keine Hürde gewesen, die er als unüberwindlich empfunden hätte. Oft entstanden seine Geschichten aus einem einzigen Satz - entwickelten sich beim Schreiben. So waren Erzählungen entstanden, deren Verlauf und Ende ihn selbst überrascht hatten, engen Freunden sagte er dann oft, die Geschichte hätte "sich selbst geschrieben". Anderen Texten waren Überlegungen und Planungen vorausgegangen. Das Beunruhigende war jetzt, dass er zum ersten Mal, seit er zurückdenken konnte, weder einen Anfang fand noch irgendeine Vorstellung hatte, worüber er schreiben wollte.

Er sann über gelesene erste Sätze nach. The man in black fled across the desert... - hervorragend, aber nicht geeignet, denn gedanklich konnte er nichts an diese oder eine andere Flucht anschließen. Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag...auch keine Hilfe, denn wenn man nichts zu schreiben weiß, hat man keinen Namen, der am Anfang des Manuskriptes stehen kann. Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug...doch woher einen Schauplatz wie das Funkhaus nehmen? Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt... noch eine Sackgasse, aus der nur der Rückzug blieb.

Nichts wollte aus ihm heraus. Er war ein wortloser Autor. Er war ein sprachloser Schriftsteller. Der Begriff Schreibblockade tauchte mit zunehmender Häufigkeit in seinen Überlegungen auf. Er wies ihn zurück, verlachte ihn, zollte ihm keinerlei Respekt, doch ohne den gewünschten Erfolg. Aus Minuten wurden Viertelstunden, aus Viertelstunden ein schier endloser Vormittag. Schreibblockade. Schreibblockade. Du hast eine Schreibblockade.

Zum Trotz begann er, Sätze zu formen. Wie froh bin ich, dass ich hier bin! Schlimmster Feind, was ist das Herz des Menschen! Dich zu treffen, den ich so hasse... er hielt inne. Es war sinnlos, Goethe ins Gegenteil zu verkehren. Daraus würde nie eine Erzählung, die des Erzählens wert gewesen wäre. Schreibblocklade!

Die Frau im blauen Kleid floh über den Alexanderplatz und der Mechaniker folgte... mit Entsetzen betrachtete er dieses jämmerliche Plagiat und drückte erneut die Löschtaste. Schreibblockade. Du hast eine Schreibblockade.

Ich habe eine Schreibblockade. Er betrachtete den Satz und fand Gefallen an den vier Worten. Daher schreibe ich unter Nachkriegsbedingungen, leide Mangel an lebensnotwendiger Buchstabennahrung und unverzichtbarer Kapitelkleidung. Und doch werde ich überleben. Die Westmächte werden mir zu Hilfe eilen, mit Wortrosinenbombern und Satzüberlebensrationen.

Die Stirn gerunzelt las er die Zeilen, schüttelte den Kopf und schickte auch diesen Text ins unersättliche Datengrab. Die Westmächte nahmen ihn so wenig zur Kenntnis wie jene sprichwörtliche Muse, der er nie begegnet war, geschweige denn, dass er ihren Kuss auf den Lippen gespürt hätte. Oder küsste die Muse eher auf die Wange? Homer hatte eine Dreiheit von Musen gekannt, Hesiod sprach gar von neun verschiedenen Schutzgöttinnen der Künste. Mindestens drei von ihnen konnten einem Dichter zur notwendigen Inspiration verhelfen; vielleicht sollte er versuchen, Erato auf sich aufmerksam zu machen? Die Muse der Liebesdichtung ... Liebesdichtung? Erdichtete Liebe oder Dichtung über die Liebe? Und welche Liebe? Die verhinderte, die einseitige, die erfüllte, die schal gewordene, die unersättliche, die hoffnungsvolle? Wie wählte man die Liebe aus, die zu beschreiben sich lohnte?

Vielleicht konnte der weise König Salomo ihn inspirieren, ihm wenigstens einen Anfang, ein paar erste Sätze schenken? Er nahm die Bibel aus dem Regal und blätterte, bis er den gesuchten Text fand. Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. An Duft gar köstlich sind deine Salben; ausgegossenes Salböl ist dein Name. Darum lieben dich die Mädchen ... konnte er die Bibelsprache übersetzen in einen zeitgemäßen Text? Köstlicher als Wein - das war auch heute noch verständlich. Die Sache mit dem Salböl schien schon schwieriger, doch das ausgegossene Salböl mit einem Namen zu verbinden schien ihm bereits unmöglich. Und überhaupt: Wieso stand da "er küsse mich" und im nächsten Halbsatz "deine Liebe"? Er las weiter. Zieh mich dir nach, lass uns eilen! Der König möge mich in seine Gemächer führen! Wir wollen jubeln und uns freuen an dir, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein! Mit Recht liebt man dich ...

Erneut diese Verwirrung der Personen. "Der König" soll sie ziehen, aber "deine Liebe" ist des Rühmens wert. Er kapitulierte vor dem König Salomo und seiner Sulamith, vor dieser Liebe, die so geheimnisumwoben über acht Kapitel zu entbrennen schien und doch keine Erfüllung fand, denn schließlich bat die Liebende am Ende: Enteile, mein Geliebter, und tu es der Gazelle gleich oder dem jungen Hirsch auf den Balsambergen!

Er blickte auf die Uhr. Der viele Wein im Hohelied der Liebe brachte ihn auf den Gedanken, dass ein Glas Rotwein seine innere Verkrampfung lockern mochte. Es war 11 Uhr. Alkohol am Vormittag war ihm bisher fremd gewesen. So sollte es, befand er schließlich, auch bleiben.

Er stand auf und verließ sein Arbeitszimmer, stand dann unschlüssig im Flur. Die Küche lockte ihn nicht, er verspürte weder Hunger noch Durst. Im Wohnzimmer lud das Sofa zum entspannten Lesen ein, doch das hatte er schon in den letzten Wochen ausgiebig getan, ohne selbst eine einzige brauchbare Zeile zu schreiben. Musik hören - auch danach war ihm nicht zumute. Der Tag war nicht ungewöhnlich warm, doch fühlte er sich verschwitzt. Er ging schließlich ins Badezimmer und entledigte sich seiner Kleidung. Dann trat er unter die Dusche und überließ sich dem heißen Wasser, genoss das beinahe schmerzliche Brennen auf der Haut. Seinen verkrampften Schultermuskeln verschaffte die Hitze spürbare Erleichterung, tief atmete er die dampfgeschwängerte feuchte Luft. Er griff zum Duschgel und wusch gründlich seinen Körper, während seine Gedanken zurückeilten.

Vor nunmehr über zehn Jahren hatte seine Frau mit der Videokamera anlässlich einer Urlaubsreise das Ferienhaus aufgenommen und war just in dem Moment in das ländlich ausgestaltete Badezimmer gekommen, als er unter der Dusche stand. Sie hatte den Vorhang beiseite gezogen und ließ die Kamera langsam an seinem nassen Körper nach unten gleiten, hielt jedoch inne, bevor das Bild die Region erfassen konnte, die Dritten nicht zu zeigen war. Sie schwenkte die Kamera zurück zu seinem Gesicht und widmete sich dann weiteren Räumen ihres Domizils.

Er lächelte anlässlich der Erinnerung und schloss die Augen, um die Seife aus den Haaren zu spülen. Er verharrte noch einige Augenblicke mit geschlossenen Lidern im heißen Wasserstrahl, bevor er sich abtrocknete und das Fenster öffnete, damit die feuchte Luft entweichen konnte.

Vielleicht konnte er eine Kurzgeschichte über einen Mann in der Dusche schreiben? Eine Figur ersinnen, die wegen der Seife die Augen geschlossen hielt und nicht bemerkte, dass jemand das Badezimmer betreten hatte? Dies eröffnete zahlreiche Möglichkeiten. Von der schönen und liebeswilligen Unbekannten bis zum feindlichen Agenten, der einem Mordauftrag nachzukommen gedachte. Von der Dusche konnte die Erzählung in ein wahlweise modernes oder altertümlich eingerichtetes Schlafzimmer führen, oder nach blutigem Zweikampf die Flucht vor weiteren übel gesonnenen Zeitgenossen schildern. Natürlich konnte auch das Badezimmer der einzige Schauplatz bleiben, auf welchem sich Zärtlichkeit oder Brutalität ereignen würde.

Ohne sich anzukleiden ging er zurück zu seinem Arbeitsplatz und begann, zu schreiben: Der Mann stand mit zusammengekniffenen Augen unter der Dusche. Schaum glitt über seine Schultern am Körper hinab, das Rauschen des Wassers überlagerte das leise Knarzen der Klinke jenseits des Duschvorhangs. Behutsam wurde die Tür geöffnet und mit geräuschlosen Schritten trat eine Gestalt in den Raum. Als der Mann den Luftzug auf der nassen Haut verspürte, wischte er notdürftig den Schaum aus den Augen und blickte in ein fremdes Gesicht. Vor ihm stand

Weiter kam er nicht. Stand da eine Frau oder ein Mann? Jung oder alt? Bedrohlich oder anziehend? Schreibblockade! Du hast eine Schreibblockade.

Vor ihm stand eine junge Frau in einem leichten Sommerkleid, die mit verheißungsvollem Lächeln seine Blöße betrachtete.

Er löschte den Satz. Solch plumpe Formulierungen lagen ihm fern.

Vor ihm stand ein Herr mittleren Alters in einem tadellosen Abendanzug, der eine Pistole auf ihn gerichtet hielt.

Er tilgte auch diesen Satz und gab die Geschichte auf. Er war sprachlos. Wortlos. Satzlos. Inspirationslos. Musenlos.

Ein Spaziergang mochte Ablenkung bringen, so zog er sich schließlich wieder an und verließ ziellos das Haus. Aufmerksam musterte er die Menschen, die ihm begegneten, mochte doch aus einer zufälligen Begegnung eine Geschichte erwachsen, die zu erzählen lohnte. Ein Gesicht möglicherweise, dessen Ausdruck Rückschlüsse auf die erwartungsfrohe Stimmung zuließ, deren Grund Inhalt einer Geschichte sein konnte. Ein ungewöhnliches Bekleidungsstück, dessen Herkunft der Phantasie eine Erforschung gestattete. Ein Paar, dem die Liebe oder der Streit, deren Historie berichtenswert war, von weitem angesehen wurde. Eine einsame Person, deren Verlorenheit in der Welt er literarisch nachforschen konnte. Ein Kind, das Gedanken nachhing, die ungewöhnlich weit über sein Alter hinauswuchsen.

Er ging eine Stunde durch die Straßen, ohne dass auch nur die geringste Beobachtung ihn hätte interessieren oder gar inspirieren können.

Zurück am Schreibtisch öffnete er einige alte Dateien, überfolg sowohl gelungene als auch eher durchschnittliche Texte, die er geschrieben hatte. Doch auch das brachte ihn nicht weiter, führte nicht zu neuen Ideen oder alten Ideen, die er hätte frisch verpacken können. Im Grunde genommen gab es nicht viele Geschichten, es gab nur ein paar, die von vielen Autoren immer wieder in Variationen und mit unterschiedlichen Ausschmückungen erzählt wurden. Diese Handvoll Geschichten war nie langweilig geworden. Sicher gab es missglückte Ansätze und erbärmliche Versuche, peinliche Entgleisungen sowohl inhaltlicher als auch stilistischer Ausprägung. Daneben gab es aber die vielen hervorragenden Beispiele, wie man von der Liebe oder dem Kampf zwischen Gut und Böse berichten konnte, oder von Kombinationen dieser beiden Grundmuster. Eigentlich, überlegte er, gab es nur diese beiden Geschichten. Gut gegen Böse und die Liebe an und für sich - und das, was das Leben oder die Phantasie aus diesen Zutaten zu mischen vermochte.

Die Phantasie jedoch ließ ihn seit Wochen im Stich und das Leben mischte ebenfalls nichts, was er als Stoff für einen Text hätte erkennen können. Dabei warteten, das wusste er, zumindest seine treuen Leserinnen und Leser auf einen neuen Text. Er hatte in der Verlegenheit bereits ein Kapitel aus einem unvollendeten Buch als Auszug veröffentlicht, und dann noch ein Kapitel aus einem früheren Roman nachgeschoben, der inzwischen vergriffen war. Doch das waren Notlösungen, die ihn nicht zufrieden stellen konnten. Er wollte schreiben, aber er fand nur Dürre, wo sonst ein Brunnen der Inspiration gesprudelt hatte.

Er sah erneut auf die Uhr und befand, dass es nun angemessen spät war. Er schlenderte in die Küche, musterte das Weinregal und entkorkte schließlich eine Flasche französischen Rotwein, schenkte sich ein Glas ein und trank einen Schluck.

Dann ging er mit Glas und Flasche zurück zum Computer, öffnete entschlossen ein leeres Dokument und begann zu schreiben:

Die Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur, doch fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn Worte mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte...

 

Aus dem Buch Gänsehaut und Übelkeit

3 Kommentare:

  1. In Köln.....
    in der Innenstadt.....
    da ist der WDR, der Westdeutsche Rundfunk...
    und der hat nen PATERNOSTER.

    Ganz sicher lohnt sich die Reise - Köln hat ja nicht nur den WDR.

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  2. Nen Patanosta ham wa ooch in Berlin. Im Sender vom RBB, der früher mal SFB hieß. ;-)

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  3. ach so, das gehört zur Grundausstattung eines Funkhauses...
    das wusste ich nicht.
    Hier beim WDR machen sie auch Interviews da drin.
    Ist eine eigene Rubrik.
    Siehe und höre dort:
    http://www.wdr.de/themen/global/suchen/gs_index.jhtml?q=paternoster&inurl=www.wdr.de%252Fradio%252Fwdr2

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