Versprochen war sie schon länger, die Fortsetzung, nun ist sie endlich da. Beziehungsweise ihr Beginn. Also keine lange Vorrede, sondern ab in medias res:
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»Nein«, sagte ich halblaut, »nein, nein, nein.«
Sicher hatte ich mich getäuscht, hatte mir die Fantasie einen Streich gespielt, war nur eine verblüffende Ähnlichkeit gegeben. Es konnte schließlich nicht sein, was nicht sein durfte. Doch das war natürlich Wunschdenken, das wusste ich, so verlockend es auch schien, mir etwas anderes einzureden.
Ich schlenderte durch die ausgedehnte Parklandschaft in Budweis, genoss die Stille, war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen. Auf den Wiesen lagen Pärchen in der Sonne, zahlreiche Jogger und Skater waren unterwegs, auch Radfahrer zuhauf, und natürlich Spaziergänger wie ich. Zwei kleine Mädchen rannten vergnügt an den Schnüren ihrer Papierdrachen am See entlang, ein Angler blickte ihnen leicht missmutig hinterher. Vermutlich gab er den tobenden Kindern die Schuld an der Leere in seinem für die gefangenen Fische bereitgestellten Eimer.
Meine gemurmelte Verneinungen nützten nichts. An einen Baum gelehnt blickte mir Jessika entgegen.
Ich hatte einige Monate zuvor ihre Existenz beendet, indem ich die letzten Sätze über sie geschrieben hatte. Eine von mir ersonnene Figur konnte natürlich in den Träumen meiner Leser weiterleben und – wie im Fall Jessika anzunehmen war – ihr Unwesen treiben. Aber für mich war sie Vergangenheit, denn ich war fest entschlossen, sie nicht wieder hervorzuholen. Es ging also nicht an, dass sie nun plötzlich im wirklichen Leben auftauchte. Ungefragt. Uneingeladen. Unverhofft.
Eine verblüffende Ähnlichkeit, sagte ich mir, weiter nichts.
Je näher ich kam, desto weniger konnte ich meiner halbherzigen Vergewisserung glauben. Ich beschloss, in eine andere Richtung zu schauen und weiterzugehen, als hätte ich die junge Frau nicht bemerkt oder ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Also blickte ich den beiden Kindern mit ihren Drachen hinterher und schlenderte den Weg hinunter.
»Du freust dich wohl gar nicht, mich zu sehen«, sagte sie, als ich an ihrem Baum vorüberging.
Ich hatte nichts gehört, ich konnte ja schließlich abgelenkt oder schwerhörig sein; jedenfalls reagierte ich nicht auf die Worte und ging weiter.
Erst mehrere Hundert Meter weiter schaute ich zurück. Jessika war nicht mehr zu sehen. Ich wollte aufatmen, aber es fehlte mir denn doch die innere Überzeugung, dass die Sache ausgestanden war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Während ich zurück zu meinem Hotel wanderte, schaute ich mich immer wieder aufmerksam nach allen Seiten um. Menschen waren unterwegs, alte, junge, hübsche und weniger ansehnliche, aber nirgends sah ich eine junge Frau im weißen Sommerkleid mit dunklen, schulterlangen Haaren. Kein Gesicht besaß die Augen, die dem einen grünlich, dem anderen dunkel, dem nächsten eisgrau erschienen. Nur Menschen bevölkerten den Park, keine Nephilim.
Vor dem Hotel Klika luden wie üblich Tische und Stühle dazu ein, im Abendsonnenschein Platz zu nehmen und ein Bierchen zu genießen. Der Kellner begrüßte mich freundlich wie gewohnt und brachte mir bald mein pivo.
»Děkuji«, bedankte ich mich mit einem der wenigen Brocken der Landessprache, die ich mir merken konnte. So sehr ich Land und Leute in Tschechien liebte, mit der Sprache kam ich auch nach Jahren der regelmäßigen Besuche nicht zurecht. Kouření může zabíjet stand auf meiner Zigarettenpackung, und da ich das nicht lesen konnte, war der Tabakgenuss hierzulande mit Sicherheit weniger gesundheitsgefährdend als zu Hause in Berlin. Man wusste sowieso nie so recht, wie viel man bereits geraucht hatte, da der Aschenbecher alle paar Minuten gegen einen sauberen ausgetauscht wurde.
Ich musterte die Passanten aufmerksam, noch immer misstrauisch wegen der undenkbaren Begegnung im Park. Inzwischen war ich allerdings einigermaßen beruhigt. Ich habe mir das eingebildet. Meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt. Es soll ja vorkommen, dass man Stimmen hört, die gar nicht da sind. Menschen verwechselt.
Darüber, dass ein solcher Zustand womöglich nicht weniger bedenklich wäre als die Begegnung mit einer nicht existierenden Person, wollte ich lieber nicht nachdenken.
Von meinem Platz konnte ich die Einfahrt zum Hotelparkplatz, gleich jenseits der Brücke über den toten Flussarm, beobachten. Das Tor konnten Hotelgäste mit einem kleinen Schlüsselanhänger öffnen, der auf einen Sensor gelegt wurde. Ich hatte mehrfach versucht, hinter mir die Einfahrt wieder zu verschließen, aber der Mechanismus setzte sich offenbar nur in eine Richtung in Bewegung.
Ein rotes Mercedes Cabriolet, soweit ich das aus der Entfernung erkennen konnte wohl ein Oldtimer aus den 60ger Jahren, rollte an das Tor, das sich öffnete, obwohl niemand ausstieg. Am Steuer saß eine Person mit einem großen Sonnenhut.
Mit einem gut gelaunten »rače prosím, na zdraví« stellte der Kellner mein zweites Bier ab. Ich bedankte mich.
»Wollen Sie eine Kleinigkeit essen?«, fragte er.
Hunger hatte ich nicht, aber doch Appetit, also nickte ich. »Ich schaue gerne mal in die Speisenkarte.« Die war, darüber war ich bei jedem Besuch froh, dreisprachig in Tschechisch, Englisch und Deutsch verfasst.
Während ich noch überlegte, ob und was ich bestellen wollte, nahm ungefragt Jessika an meinem Tisch Platz und legte ihren weißen Sonnenhut auf einen weiteren leeren Stuhl.
»Dein Dodge ist ziemlich schmutzig«, beschwerte sie sich, »es gibt auch hier Waschanlagen. Alle anderen Autos auf dem Parkplatz sind blitzsauber!«
Ich trank einen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. Dann sagte ich wenig geistreich: »Also bist du tatsächlich hier in Budweis.«
»Und du bist nicht schwerhörig.«
»Nein.«
»Freust du dich gar nicht, dass ich dir Gesellschaft leiste?«
Sie setzte ein bezauberndes Lächeln auf. Im Park hatte ich sie bewusst nicht angeschaut, jetzt betrachtete ich sie aufmerksam. Sie hatte sich ein Alter von Ende 20 oder Anfang 30 ausgesucht, jedenfalls war sie nicht das 18jährige Mädchen, das in Italien sein Unwesen getrieben hatte. Nicht ganz freiwillig, wie ich wohl wusste. Und genau das war der springende Punkt.
»Du kannst gar nicht hier sein«, antwortete ich.
»Ach. Aha. So.«
»Das geht nicht.«
»Und warum soll das nicht gehen?«
Wie sollte ich ihr erklären, dass sie im wirklichen Leben gar nicht existierte, wenn sie nun neben mir am Tisch saß? Da die Situation völlig absurd war, zweifelte ich an meinem Verstand. Oder an der Wirklichkeit. Vermutlich lag ich im Bett und träumte. Wenn das der Fall war, spielte es natürlich auch keine Rolle, wie ich antwortete. Also konnte ich ihr ruhig die Wahrheit sagen.
»Jessika, du bist eine ersonnene Person. Ich habe dich für eine Geschichte erfunden, das ist lange her. In der Erzählung warst du 13 Jahre alt. Ein paar Jahre später hatte ich die Idee, dich als Erwachsene wieder auftreten zu lassen, in einer anderen Geschichte. Und dann fiel mir die Italien-Episode ein. Aber du existierst nicht in dieser Welt.«
Sie nahm eine meiner Zigaretten aus der Schachtel, ich gab ihr Feuer und zündete mir auch eine an. Der Kellner brachte ein Bier für Jessika. Hatte sie überhaupt etwas bestellt? Nein. Aber, so sagte ich mir, im Traum ist ja alles möglich.
»Der Kellner weiß, was ich will«, erklärte sie mir. »Ich sitze ja nicht zum ersten Mal auf dieser Terasse.«
Du sitzt überhaupt nicht auf einer Terasse. Dich gibt es nicht!
Ich zuckte mit den Schultern und fragte: »Wer bin ich denn, wenn du echt bist?«
»Du bist Johannes, lebst in Berlin, arbeitest als Journalist und nebenbei als Schriftsteller. Du bist ledig, hast keine Freundin und ein ziemlicher Einsiedler geworden. Die Chancen, dass du eine Frau fürs Leben triffst, sind denkbar gering.«
»Stimmt. Und du bist eine fiktive Person, die nicht auf diesem Stuhl an meinem Tisch sitzt und meine Zigarette raucht. Eine Nephilim. Du kannst dein Aussehen variieren und bist eine tödliche Gefahr für andere Menschen, vornehmlich für Männer.«
»Nein, ich bin keine Gefahr für Menschen«, widersprach sie. Ich bin ja nicht wie die Hausmeisterin, Evi Müller, falls du dich an deine eigene Geschichte erinnerst.«
»Aber wenn Nitzrek es will, tötest du.«
»Wenn du mich erfunden hast, wie du meinst, dann hast du auch Nitzrek ersonnen. Also töte ich nur, wenn du es willst. Wer von uns beiden ist nun eigentlich gefährlich?«
Selbstverständlich hatte sie damit die Wahrheit gesagt - hätte sie damit die Wahrheit gesagt, wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, dass wir zusammen Bier tranken und MOON-Zigaretten rauchten.
Der Autor einer schlimmen Geschichte darf sich nicht darauf hinausreden, dass die Figuren in seinem Text machen, was sie wollen. Das stimmt zwar häufig, aber kein Leser, der nicht selber leidenschaftlich schreibt, würde es jemals glauben. Als ich Jessika, die 13jährige, ersann, wusste ich noch nichts von ihr, außer dass ich eine für das Publikum harmlos und schutzbedürftig scheinende Figur brauchte, die sich auf den letzten Zeilen als noch viel schlimmer entpuppt als die böse Person in der Geschichte. Im Lauf der Jahre waren jedes mal, wenn ich Jessika einsetzte, neue Details sichtbar geworden. Aber erst bei der letzten Erzählung, die in Italien spielte, hatte ich ihre wahre Herkunft, ihre Abstammung von den Nephilim, begriffen.
Dass Jessika nun aus heiterem Himmel in Budweis auftauchte, offenbar im gleichen Hotel wohnte, dass ich mit ihr plauderte ... undenkbar. So etwas mochte Goethes Doktor Faust passieren, dass er die Geister, die er rief, nicht loswurde. Und überhaupt: Auch Goethes epochales Werk war ja Dichtkunst, kein Tatsachenbericht. Und überhaupt: Ich hatte keine Geister gerufen, mich nicht einmal zum Schreiben hingesetzt. Und überhaupt: Dass ich Jessika kannte, mochte ja angehen. Aber sie mich?
Ich beschloss, zumindest diesen Punkt zu klären und fragte sie: »Wenn du mich zu kennen meinst, dann erzähl mir bitte, welchen für mich damals unerträglich peinlichen Moment aus meinem 13ten Lebensjahr ich bis heute nicht vergessen habe.«
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Und, weil das immer so schön spannend ist, nun eine Frage an das verehrte Publikum:
Na klar: |
Jessika weiß Bescheid. |
Jessika hat keine Ahnung. |
Aber hallo! |
Auswertung |
Fortsetzung folgt!
sach ma, was ist denn jetzt eigentlich mit diesem dubiosen Weltuntergang?
AntwortenLöschenIst die Welt "in Echt" hin, ich bin aber in einer Geschichte, in der er nicht stattgefunden hat?
Oder war es eine Geschichte, in der sie untergegangen wäre und in Echt ist noch alles wie immer?
Ich jedenfalls fühl mich lebendig und draußen bollert ein Gewitter mit Mai-Regen und die Vöglein singen um die Wette.
Ganz ehrlich, Weltuntergang hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Nicht so... lebensfroh.
In Sachen Weltuntergang - wie der wirklich aussieht - empfehle ich nach wie vor Stephen King: The Stand. Ansonsten warten wir halt ab, denn der 21. Mai war es ja nun offensichtlich nicht. Vielleicht 2012?
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