Damals – ach ja, liebe Leser, wir reisen ziemlich weit zurück und auch noch in eine andere Weltgegend – damals also regierte ein gewisser Herodes als König in Judäa. Den besten Ruf hat er in der Nachwelt nicht, und wir werden es im Verlauf der hier erzählten Ereignisse auch noch mit ihm zu tun bekommen, aber jetzt noch nicht. Erst mal sind wir im Tempel, in Jerusalem. Dort verrichtete ein Priester namens Zacharias seinen Dienst. Der war mit Elisabeth verheiratet, ein Zölibat für Priester kannte man noch nicht, das wurde erst viel später ersonnen. Außerdem sind wir ja in Judäa, und bei den Juden war (und blieb) die Ehe keinem Menschen verboten, sogar wünschenswert war sie, auch für geistliche Würdenträger.
Zacharias und Elisabeth waren fromme Menschen, sie hielten sich an die Gebote und Satzungen ihres Volkes. Niemand konnte ihnen irgendwelche Verstöße dagegen vorwerfen, und das wollte etwas heißen angesichts der vielen und detaillierten Vorschriften, die es zu befolgen galt.
Es war zu der Zeit, von der wir reden, so etwas wie ein Fluch, keine Kinder zu haben, aber da Elisabeth unfruchtbar war und von künstlicher Befruchtung ungefähr die nächsten etwa 2000 Jahre noch nicht die Rede sein würde, hatte sich das mittlerweile betagte Paar damit abgefunden. Schweren Herzens, sicher, aber es blieb den beiden ja nichts anderes übrig.
Zum Dienstplan eines Priesters gehörte das sogenannte Räuchern. Zacharias ging an jenem Tag, der so vieles änderte, pünktlich in den Tempel, um in einem bestimmten Raum auf dem Räucheraltar die vorgeschriebenen Verrichtungen durchzuführen. Das Volk durfte nicht hinein; die Leute warteten draußen und sprachen die für diese Stunde üblichen Gebete.
Zacharias ahnte und bemerkte nichts Ungewöhnliches. Es war dies ein Dienst wie viele zuvor und noch viele weitere – dachte er zumindest. Bis er aufschaute und eine Gestalt sah, die rechts neben dem Räucheraltar stand. Zacharias Gesicht wurde ungefähr so weiß wie der Kalk an der Wand hinter dem Altar, die vom Alter sowieso schon leicht geschwächten Beine wollten beinahe ihren Dienst versagen, die Hände zitterten und der Schweiß brach ihm aus. Es war ja nicht nur verboten, sondern eigentlich unmöglich, dass sich jemand außer ihm selbst zur Räucherstunde in diesem Raum aufhielt. Es gab schließlich nur einen Zugang, und wenn jemand nach ihm durch die Tür gekommen wäre, hätte Zacharias das bemerken müssen. Einen Augenblick zuvor war er noch allein gewesen mit seinem Rauchwerk und mit Gott, den man allerdings nicht sehen konnte.
Sein erster Impuls war natürlich die Flucht. Naheliegend – aber wohin? Durfte er denn seinen Räucherdienst mittendrin abbrechen? Konnte man vor dieser Erscheinung überhaupt davonlaufen? War es grundsätzlich denkbar, dass ein Geist sich im Tempel des Herrn, noch dazu beim Räucheraltar, aufhalten konnte? Hätte die Heiligkeit Gottes das nicht verhindert? Oder war dies womöglich …
Im Gegensatz zum panischen Zacharias wissen wir, falls wir ein wenig in den biblischen Überlieferungen bewandert sind, dass dort ein Engel stand, denn diese Geschichte haben schon andere erzählt, von Mund zu Mund und später aufgeschrieben in Schriftrollen, und noch viel später sogar in Büchern und – was Zacharias wie Hexenwerk hätte vorkommen müssen – heutzutage in Form von Nullen und Einsen, aus denen vor dem Auge des Betrachters dann auf Knopfdruck Worte auf einem Bildschirm entstehen. Schon die Beschreibung eines Bildschirmes hätten Zacharias und Elisabeth am gesunden Verstand des Beschreibenden zweifeln lassen. Heute dagegen zweifelt mancher am gesunden Verstand des Erzählers, wenn der von einem Engel zu berichten weiß. Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen das, was vorstellbar oder vernünftig zu sein scheint.
Rauschgoldengel mit blondgelockter Mähne in güldenen Gewändern, oder kleine nackte Buben mit Flügeln am Rücken, die in der Weihnachtszeit eine hölzerne Krippe bayerischer Bauart oder sonst etwas umschwirren … so etwas war dem alten Zacharias genauso unbekannt wie die Weihnacht an und für sich. Er kannte Überlieferungen von Engeln, die in Menschengestalt zu Besuch kamen, so bei Abraham vor etlichen Jahrhunderten; Abraham kam zwar auf die Idee, es nicht mit Männern, sondern mit himmlischen Wesen zu tun zu haben, aber andererseits ließ er eine köstliche Mahlzeit auftischen. Ober bei drei jungen Männern, die in einem Feuerofen hingerichtet werden sollten; ein Engel stand ihnen bei und bewahrte sie; auf die Zuschauer wirkte der himmlische Bote wie ein vierter Jüngling.
Doch wir sollten hier keine Zeitsprünge hin und her machen, sondern wir sind und bleiben im Damals, im Tempel, in der Kammer mit dem Räucheraltar. Zacharias starrte die Gestalt an und wusste nicht, was tun.
Der Engel ahnte wohl, dass dem Zacharias, der nicht mehr der Jüngste war, jeden Moment vor lauter Angst der Kreislauf versagen konnte. Also versuchte er zuerst einmal, den Mann zu beruhigen: »Fürchte dich nicht, Zacharias.«
Der Angesprochene beruhigte sich keineswegs. Jeder böse oder gute Geist konnte ihn schließlich so anreden, um sein Vertrauen zu erschleichen. Mit einem »fürchte dich nicht« war noch lange nicht geklärt, ob da ein Teufelswesen oder ein Engel Gottes neben dem Räucheraltar stand. Eventuell ja auch nur ein Mensch, der Arges im Schilde führen mochte?
»Dein Gebet ist erhört worden«, fuhr der Engel fort, »und deine Frau wird einen Sohn zur Welt bringen, der dann Johannes heißen wird.«
Zacharias hörte zu, obwohl er meinte, sich verhört zu haben. Von erhörtem Gebet konnte eigentlich nur ein gutes Wesen sprechen, das war einigermaßen beruhigend, aber gleichzeitig offenbarte sich in den Worten eine erschreckende Ahnungslosigkeit bezüglich der menschlichen Fortpflanzungsfähigkeit im fortgeschrittenen Lebensalter, von Elisabeths Unfruchtbarkeit seit ihren jungen Jahren ganz zu schweigen.
»Du wirst«, fuhr der himmlische Bote fort, als wäre er durch die misstrauisch zweifelnde Mine des Priesters, die jedenfalls keine übersprudelnde Freude über diese Nachricht ausdrückte, etwas irritiert, »eine Menge Freude an dem Jungen haben, und auch andere Menschen werden über ihn jubeln. Er wird einer der ganz Großen vor dem Herrn sein, vom Mutterleib an mit heiligem Geist erfüllt. Daher wird er übrigens keinen Wein oder andere alkoholische Getränke trinken wollen. Viele Menschen deines Volkes werden durch ihn den Weg zurück zu einer Beziehung mit Gott finden.«
Zacharias war, das wissen wir ja bereits, ein sehr frommer Mensch. Er war ein Priester, der seinen Beruf als Berufung verstand, nicht als eine von mehreren Möglichkeiten, sein Brot zu verdienen. Nein, er meinte es ernst, er glaubte an Gott. Daher war ihm diese Lobeshymne auf seinen nicht existierenden Sohn und das Wiederherstellen von menschlich-göttlichen Beziehungen ganz sympathisch. Allerdings blieb er skeptisch, denn die erfreuliche Voraussage hatte ja einen Haken, einen ziemlich widerspenstigen sogar. Seine liebe Frau hatte in ihren fruchtbaren Lebensjahren nicht schwanger werden können, und nun war es ganz einfach zu spät dafür. Viel zu spät.
Der Engel, offenbar keiner von der wortkargen Sorte, ließ sich derweil nicht aufhalten in seiner Rede. »Dein Sohn wird wie damals Elia mit bemerkenswerter Kraft und im Geist Gottes wirken. Die Kinder und die Eltern wird er miteinander versöhnen, den Ungläubigen wird er aufschließen können, wie klug die Gerechtigkeit Gottes ist. Er wird das ganze Volk vorbereiten.«
Vorbereiten? Worauf? Im Grunde war das zweitrangig, denn nach wie vor stand ja keine Schwangerschaft zu erwarten. Vielleicht hatte der Engel sich in der Adresse geirrt? Oder – da atmete Zacharias innerlich auf – er sprach nur bildlich von einem Sohn. Es konnte ja ein Jugendlicher in Frage kommen, der wie ein Sohn von Zacharias gelehrt und erzogen wurde. Das musste wohl die Lösung für das große Rätsel sein. Andererseits hätte der Bote Gottes dann nicht eher von einem Jünger, einem Schüler sprechen sollen?
Als er nun endlich selbst zu Wort kommen konnte, fragte der Priester zunächst das Naheliegende: »Woran soll ich denn erkennen, dass diese Prophetie stimmt? Meine Frau ist betagt, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Oder ganz einfach ausgedrückt: Wir sind alt. Zu alt.«
Als hätte er es am Anfang vergessen, stellte sich der Engel nun endlich vor: »Ich bin Gabriel, der vor Gott steht.«
Zacharias erschrak. Wenn das stimmte, dann hatte er es mit einem der ganz großen Fürsten unter den Engeln zu tun. Solch einem Wesen kam man vielleicht besser nicht mit Fragen und Widersprüchen … aber nun war es ja zu spät.
»Und ich bin gesandt, um mit dir zu reden«, erklärte Gabriel. »Ich habe den Auftrag, dir das, was ich gesagt habe, zu verkündigen. Und nun achte auf meine Worte: Du wirst verstummen und nicht mehr reden können, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast. Was ich gesagt habe, wird in Erfüllung gehen. Wenn es dann soweit ist, wirst du auch nicht mehr stumm sein.«
Zacharias, selbst wenn er es gewagt hätte, konnte nicht mehr widersprechen, weil er tatsächlich seiner Stimme verlustig gegangen war, von einer Sekunde auf die nächste. Hätte er sonst zu seiner Verteidigung darauf hingewiesen, dass Gabriel sich ja ruhig zuerst hätte vorstellen können? Vermutlich nicht, denn ein solch hochgestellter Engel war nun mal ein Bote Gottes, und was Gott tat oder durch seine Gesandten sagte, musste der Mensch weder kommentieren noch in Frage stellen.
Die Menschen draußen wunderten sich unterdessen bereits, dass der Räucherdienst an diesem Tag so ungewöhnlich lange dauerte. Sie murmelten und tuschelten, denn die vorgeschriebenen Gebete waren längst gesprochen. Eigentlich hätte man nachschauen müssen, ob der alte Zacharias womöglich einen Schwächeanfall erlitten hatte, aber der Zutritt zum Räucheraltar war ausschließlich Priestern vorbehalten. Es gab genug Geschichten von Menschen, die tot umgefallen waren, weil sie sich unbefugt auf verbotenes, auf heiliges Gebiet gewagt hatten. Keiner wäre freiwillig in den Raum gegangen, selbst wenn darin ein bewusstloser Zacharias liegen mochte, und vielleicht lebte er ja auch gar nicht mehr?
Dann erschien der Priester, endlich, ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu wissen, dass irgend etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Er sprach kein Wort, winkte, machte Zeichen mit der Hand. Die meisten Menschen waren sich relativ schnell einig: Er muss wohl ein Gesicht gesehen, eine Vision gehabt haben. Er schien, abgesehen davon, dass er offenbar stumm bleiben wollte oder musste, gesund zu sein. Sein Winken deutete man schließlich als Ersatz für die normalerweise übliche segnende Verabschiedung. Die Gebete waren gesprochen, der Priester hatte geräuchert, und das Volk ging nach Hause.
Zacharias blieb noch, denn seine Dienstzeit war mit dem Räuchern nicht beendet. Er war nicht nur fromm, sondern auch gewissenhaft, und die Begegnung mit einem Engel änderte schließlich nichts an den festgesetzten Zeiten und seinen Aufgaben. Erst zur üblichen Stunde ging er dann nach Hause zu seiner Frau.
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Fortsetzung folgt
P.S.: Das Bild hat ein Herr Bernard Verschooten gemalt. Na ja.
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