Manche Menschen erfreuen sich eines sehr simplen Glaubens und Gottesbildes. Auf alle Fragen des Lebens gibt es einfache Antworten – in Form eines halb zitierten Satzes aus dem Fundus der Paulusbriefe etwa, oder in Form von Behauptungen, die nicht näher unterfüttert oder gar untermauert werden müssen, weil sie ja »aus dem Wort Gottes« stammen. Dass »Bibel« und »Wort Gottes« aus meiner Sicht keineswegs synonym verstanden werden dürfen, habe ich in einem anderen Artikel erläutert.
Hier spüre ich Gefahren nach, die aus der Lektüre der Bibel erwachsen. Gefahren für den simplen Glauben und das schwarz-weiße Gottesbild. Allerdings sind diese Gefahren für Menschen, die eben diesem schlichten Patentglauben angehören, gering: Sie lesen nämlich kaum einmal in der Bibel. Es reicht ihnen, morgens das fromme Horoskop, das man Losung nennt (per Zufallsprinzip ausgewählte Mini-Schnipsel aus der Bibel), zu konsumieren und ansonsten höchstens mal im »Hauskreis« zehn oder gar zwanzig Zeilen aus einem beliebigen, zum jeweiligen Gesprächsthema passenden Abschnitt zu lesen.
Gefährlich wird es nur dann, wenn man sich daran macht, die Bibel so zu lesen, wie man es normalerweise mit Büchern oder Berichten oder Briefen zu tun pflegt. Man beginnt vorne und liest Seite für Seite bis zum Ende. Schwierige Stellen, besonders spannende Abschnitte oder außerordentlich gelungene Formulierungen liest man dabei womöglich zwei- oder dreimal; gelegentlich blättert man auch ein paar Seiten zurück um nachzuschauen, ob da vorher etwas Abweichendes zum Thema stand … wenn man so die Bibel liest, und das mehr als einmal, dann ist es aus mit den einfachen Antworten und dem lieben Gott, dem alles Gute und Schöne zu verdanken ist und dem bösen Teufel, der für alles Hässliche und Schlechte herhalten muss.
Zum Beispiel – in meiner Situation als an Krebs erkrankter Mensch naheliegend – die biblische Sicht bezüglich Krankheit und Heilung. Die gibt es gar nicht, sondern es gibt mehrere Sichtweisen, verschiedene Modelle, diverse Schattierungen und widersprüchliche Denkmodelle in der Bibel.
Krankheit und Gebrechen – dafür hat das Hebräische (die Sprache, in der das Alte Testament geschrieben ist) kein Abstraktum, sondern nur Begriffe, die Schwäche und Leiden zum Ausdruck bringen. Es werden Nomina von »berühren« verwendet, von »schlagen« beziehungsweise »niederschlagen« oder »Schmerz erleiden« und ähnliche Wortformen.
Zunächst, also in den ältesten Texten, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Gott der Verursacher der Krankheit ist. Beispielsweise in der Weisheitsparabel von Hiob, wo es bezüglich der schlimmen Erkrankung des Protagonisten heißt: »Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?«[i] Aus Prophetenmund hört das Volk Gottes eines Tages: »Siehe, so wird dich der HERR mit einer großen Plage schlagen an deinem Volk, an deinen Kindern, an deinen Frauen und an aller deiner Habe. Du aber wirst viel Krankheit haben in deinen Eingeweiden, bis über Jahr und Tag deine Eingeweide vor Krankheit heraustreten.«[ii]
Die erste Biblische Sicht ist diese: Gott verursacht Krankheit und Leid, um für ein Fehlverhalten zu bestrafen – sowohl beim Einzelnen als auch kollektiv. Allerdings kann Gott auch um Heilung gebeten werden, denn derjenige, der Krankheit verursacht, ist auch in der Lage, sie zu entfernen.
Später im Alten Testament, mit der Entwicklung und Durchsetzung des Monotheismus, wird es immer wichtiger zu fragen, warum ein Mensch krank ist. Dies kann den biblischen Texten zufolge auch an Sünden der Vorfahren oder eben an der Schuld des ganzen Volkes liegen, obwohl der Einzelne, der Kranke, nichts falsch gemacht hat. Bei Jeremia beispielsweise wird das deutlich: »Denn so spricht der HERR von den Söhnen und Töchtern, die an diesem Ort geboren werden, und von ihren Müttern, die sie gebären, und von ihren Vätern, die sie zeugen in diesem Lande: Sie sollen an bösen Krankheiten sterben und nicht beklagt noch begraben werden, sondern sollen Dung werden auf dem Acker.«[iii] Die noch nicht einmal geborenen Kinder sind schon jetzt zum Tod durch Krankheiten verurteilt – bevor sie überhaupt sündigen können.
Gott wird im Falle der Krankheit von den biblischen Autoren oft als grausam und ungerecht, auch als unnahbar empfunden. »Wenn ich ihn auch anrufe, dass er mir antwortet, so glaube ich nicht, dass er meine Stimme hört, vielmehr greift er nach mir im Wettersturm und schlägt mir viele Wunden ohne Grund.«[iv] »HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich?«[v]
Im 5. Buch Mose wird Gott gar als derjenige wörtlich zitiert, der nach Gutdünken verfährt: »Sehet nun, dass ich's allein bin und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand ist da, der aus meiner Hand errettet.«[vi]
Und die Heilung? Was sagt die Bibel dazu? In den frühen Zeiten des Alten Testamentes war wohl JHWH, der Gott Israels, nicht ursprünglich als für die Heilung zuständiger Gott bekannt, wie die Erzählung von König Ahasja zeigt, der nach einem Fenstersturz ein Heilsorakel bei dem nach seiner Kenntnis zuständigen Gott erfragte. »Und Ahasja fiel durch das Gitter in seinem Obergemach in Samaria und wurde krank. Und er sandte Boten und sprach zu ihnen: Geht hin und befragt Baal-Sebub, den Gott von Ekron, ob ich von dieser Krankheit genesen werde.«[vii] Die Erkrankung war Folge eines Unfalls – und dass der König nicht wieder auf die Beine kam, die Strafe des Gottes JHWH, weil Baal-Sebub, ein anderer Gott, befragt wurde. »So spricht der HERR: Weil du Boten hingesandt hast und hast befragen lassen Baal-Sebub, den Gott von Ekron, als wäre kein Gott in Israel, dessen Wort man erfragen könnte, so sollst du von dem Bett nicht mehr herunterkommen, auf das du dich gelegt hast, sondern sollst des Todes sterben.«[viii]
In noch späteren Schriften ist es dann Allgemeinwissen geworden: Heilung gibt es nur bei unserem Gott, dem Gott Israels. Heilung muss sogar zunächst durch Gott selbst und nicht durch das Aufsuchen von Ärzten erfolgen, da ja Gott die Krankheit verursacht, um ein Fehlverhalten (der Vorfahren oder des Volkes womöglich) zu bestrafen. Die Strafe kann nur derjenige erlassen, der sie verhängt hat.
Mit fortschreitenden medizinischen Erkenntnissen, zum Beispiel über Heilkräuter, werden die Ärzte allerdings im Verlauf der Jahrhunderte immer zuverlässiger in ihrem Tun – und es wird immer klarer, dass sie gegen Krankheiten auch ohne Gott erfolgreich vorgehen können. Israel war ja nicht das einzige Volk auf der Erde; in anderen Völkern ging der medizinische Fortschritt zum Teil wesentlich rascher voran, was auch dem alttestamentlichen Volk Gottes nicht verborgen blieb. Vor allem in den Schriften zwischen Altem und Neuem Testament, die es beim Zusammenstellen des biblischen Kanons nicht in die »Heilige Schrift« geschafft haben, zeigt sich der Zwiespalt im Denken: Einerseits wird medizinische Hilfe durch Gott, den Schöpfer der Heilpflanzen, den Verleiher ärztlicher Weisheit, geschickt, andererseits gilt es noch als Abfall von Gott, sich an Ärzte zu wenden. Das passt irgendwie nicht zusammen im Denken. Es ist ja gerade Gott selbst, der durch die Weisheit Salomo gelehrt hat, auch die »Kraft der Wurzeln« zu gebrauchen und die Gaben der Natur zu schätzen, und es ist gerade Gott selbst, der eifersüchtig (mit schlimmer Bestrafung) reagiert, wenn er nicht persönlich um die Heilung gebeten wird.
Die Autoren der Bücher im Alten Testament hatten also offensichtlich sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gott und haben aus ihrer jeweiligen Überzeugung heraus – das mag man ihnen nicht absprechen – folgerichtig für den heutigen Leser den einen Gott, den sie meinten, sehr unterschiedlich beschrieben, ihm Widersprüchliches in den Mund gelegt und nach und nach durch die Jahrhunderte an Erfahrung und Wissen hinzugewonnen.
Deshalb ist es für den Gläubigen, der die Bibel für Gottes wörtliches Wort halten möchte, mit hohen Risiken verbunden, die Bibel zu lesen. Früher oder später wird er bei der Lektüre des Alten Testamentes einem Gott begegnen, der sich mit einem anderen Gott im gleichen Buch nicht verträgt, obwohl es der gleiche Gott sein soll.
Deshalb ist es auch so leicht, für jeden Zweck, jede Variante des Gottesverständnisses und jede noch so sektiererische Meinung den passenden Bibelvers zu finden. Im Alten Testament und im Neuen.
Im Neuen Testament? Huch? Ist da nicht wenigstens alles eindeutig und übereinstimmend und klar verständlich?
Dazu schreibe ich meine Gedanken demnächst auf, aber so viel sei schon mal verraten: Pustekuchen!
Quellen: [Bibellexikon] // [Online Bibel]
Bild: Hiob (Léon Bonnat; 1833-1922), zu finden im Louvre
[i] Hiob 2, 10
[ii] 2. Chronik 21, 14
[iii] Jeremia 16, 3-4
[iv] Hiob 9, 16
[v] Psalm 13, 2-3
[vi] 5. Mose 32, 39
[vii] 2. Könige 1, 2
[viii] 2. Könige 1, 15
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du liebe Zeit, ist das ein langer Text.
AntwortenLöschenDas hab ich jetzt nicht alles gelesen, ich bin bis zum 4. Absatz gekommen. (Grund: verspätetes Mittagstief)
Du stellst die Losungen in ein recht schlechtes Licht.
Es gab hier schon wesentlich längere Texte ... und die Losungen sind (meiner ganz persönlichen Meinung nach) genau das, was ihr Name sagt: Ausgelost - Lotteriespiel auf fromme Weise.
AntwortenLöschenEs schadet ja nichts, das zu lesen, so wie es auch nichts schadet, das Horoskop zu überfliegen. Kritisch wird es gelegentlich, wenn jemand dann danach zu handeln sich vornimmt.
Dazu kann ich nur empfehlen die Kirchenväter zu lesen. Ja ich weiss das dies eher eine Freikirchlich zentrierte Seite ist. Aber was viele Freikirchler einfach ignorieren ist, dass viele der Probleme bei der Auslegung der Bibel schon früher besprochen worden sind.
AntwortenLöschenUnd wenn es 400 nach Christus durch Augustinus war. Die Fragen sind NICHT NEU.
http://eumloquatur.wordpress.com/category/mein-summenkommentar/
Templarii
Die Kirchenväter sind leider leider in Vergessenheit geraten, die hatten manches an Erkenntnis und Weisheit anzumerken, was heute verschüttet ist.
AntwortenLöschenIch besuche zwar recht regelmäßig eine freie evangelische Gemeinde, bin aber bestimmt kein Gegner oder gar Feind der katholischen oder protestantischen Gläubigen.
@Günter J. Matthia
AntwortenLöschenIch muss zugeben dass mich ein Gottesdienst in einer freien evangelischen Gemeinde (gleichbedeutend mit Evangelikalen?) eher ernüchtert und sogar erschreckt. Mir kommt es so völlig ohne Sakralhandlung vor; damit möchte ich aber kein "Disskussionsfass" aufmachen!
In der ganzen Diskussion werden nämlich immer die anderen Kirchen vergessen, sowohl die Römisch-katholische als auch die Orthodoxe. Die gibt es beide schon lange und sie sind nicht umsonst vorhanden. Ihr Wissensschatz ist tief und weit, die Griechisch-orthodoxe zum Beispiel basiert auf den Urtexten des neuen Testaments in Griechisch.
Aber es ist so viel was man da herausholen muss, ich komme mir vor wie ein einzelner Mann mit einem Löffel vor einem 10 Tonnen Butterberg..
Templarii