Mittwoch, 10. Dezember 2014

Gastbeitrag Shel Silverstein: Der freigebige Baum

Es war einmal ein Baum ... und dieser Baum liebte einen kleinen Jungen. Und täglich kam dieser Junge und sammelte das Laub des Baumes und machte daraus Kronen und spielte König des Waldes.
Er erkletterte den Stamm und schaukelte auf den Ästen und aß die Äpfel. Und dann spielte er Verstecken. Und wenn er müde wurde, schlummerte er im Schatten des Baumes.
Und der Junge liebte den Baum ... sehr.
Und der Baum war glücklich.

The Giving TreeDoch die Zeit verging.
Und der Junge wurde älter. Und der Baum war oft allein.
Dann kam eines Tages der Junge zu dem Baum und der Baum sagte: »Komm, Junge, komm und klettere an meinem Stamm empor und schaukle auf meinen Ästen und iss Äpfel und schlummere in meinem Schatten und sei glücklich!«
»Fürs Klettern und Spielen bin ich zu alt«, gab der Junge zurück. »Ich will Dinge kaufen und glücklich sein. Ich will Geld haben.«
»Es tut mir leid«, sprach der Baum, »doch Geld besitze ich nicht. Nur Blätter und Äpfel. Nimm meine Äpfel, Junge, und verkaufe sie in der Stadt. Dann wirst du Geld haben und glücklich sein.«
Und so stieg der Junge auf den Baum, sammelte die Äpfel und trug sie davon. Und der Baum war glücklich.

Doch der Junge blieb lange fort ... und der Baum wurde traurig.
Und dann kam der Junge eines Tages zurück, und der Baum bebte vor Freude und er sagte: »Komm Junge, komm und klettere an meinem Stamm empor und schaukle auf meinen Ästen und sei glücklich!«
»Ich bin zu beschäftigt, um auf Bäume zu steigen. Ich will ein Haus, in dem ich es warm habe«, sprach der Junge. »Ich will eine Frau und Kinder, also brauche ich ein Haus. Kannst du mir ein Haus geben?«
»Ein Haus besitze ich nicht«, antwortete der Baum. »Der Wald ist mein Zuhause. Aber du kannst meine Äste absägen und daraus ein Haus bauen. Dann wirst du glücklich sein.«
Also sägte der Junge die Äste vom Baum und trug sie davon, um sein Haus zu bauen. Und der Baum war glücklich.

Doch der Junge blieb lange fort.Und als er zurückkehrte, war der Baum so glücklich, dass er kaum sprechen konnte.
»Komm, Junge,« flüsterte er, »komm und spiele.«
»Für das Spielen bin ich zu alt und zu traurig«, gab der Junge zur Antwort. »Ich will ein Boot, das mich weit von hier wegtragen kann. Kannst du mir ein Boot geben?«
»Fälle meinen Stamm«, sagte der Baum, »und baue dir ein Boot. Dann kannst du in die Ferne segeln ... und glücklich sein.«
Und so fällte der Junge den Baumstamm und baute sich ein Boot und segelte davon.
Und der Baum war glücklich ... aber nicht so richtig glücklich.

Nach einer sehr langen Zeit kam der Junge wieder zurück.
»Es tut mir leid, Junge«, begrüßte ihn der Baum, »aber ich habe nichts mehr, was ich dir schenken könnte. Meine Äpfel sind fort.«
»Meine Zähne sind zu wackelig für Äpfel«, sagte der Junge.
»Meine Äste sind fort«, sprach der Baum weiter. »Du kannst nicht mehr darauf schaukeln.«
»Ich bin zu alt für das Schaukeln auf Ästen«, erklärte der Junge.
Der Baum sagte: »Mein Stamm ist fort ...«
»Ich bin zu alt für das Klettern«, brummelte der Junge.
»Das tut mir leid«, seufzte der Baum, »ich wünschte, ich könnte dir etwas schenken ... aber ich habe nichts mehr. Ich bin nur noch ein alter Stumpf. Es tut mir leid ...«
»Ich brauche nicht mehr viel«, sagte der Junge, »nur einen ruhigen Platz, wo ich sitzen und ausruhen kann. Ich bin sehr sehr müde.«
»Nun, »sagte der Baum und streckte sich so gerade aus wie nur möglich, »nun - ein alter Baumstumpf taugt hervorragend zum Sitzen und Ruhen. Komm Junge, setz dich hin. Setz dich und ruhe aus.«
Und das tat der Junge.
Und der Baum war glücklich.

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Ehre, wem Ehre gebührt:

  • Shel Silverstein war Musiker, Komponist, Drehbuchautor, Dichter, Karikaturist und Schriftsteller. Ein Multitalent. Unter anderem stammen von ihm Lieder wie A Boy Named Sue, Sylvia’s Mother, The Cover of the Rolling Stone und The Ballad of Lucy Jordan.
  • Bild: [Wikipedia]
  • Englischer Text: [All Poetry]
  • Übersetzung: Günter J. Matthia

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