Sonntag, 13. März 2011

Jessika – ein Verhängnis /// Teil 15

Eine einsame Stimme hat sich diese Fortsetzung für den Sonntag gewünscht. Hier ist sie. Vorher noch das Obligatorische: [Teil 1] /// [Teil 2] /// [Teil 3] /// [Teil 4] /// [Teil 5] /// [Teil 6] /// [Teil 7] /// [Teil 8] /// [Teil 9] /// [Teil 10] /// [Teil 11] /// [Teil 12] /// [Teil 13] /// [Teil 14]

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Bevor der Junge eine weitere Rüge einstecken musste, weil er natürlich den Mund nicht geleert hatte bevor er sich zu Wort meldete, sagte Jessika: »Das meinte Johannes nicht, dass ihr beide eine Weile unterwegs wart. Er fragt sich, wo meine eigene Heilungskraft war, als ich sie gebraucht hätte, stimmt's?«

Johannes nickte nur.

»Ich hatte schon zu viel Blut verloren«, erklärte sie. »Das Leben, so viel weiß auch die Bibel und jeder Arzt dieser Welt zu berichten, ist im Blut, und wenn das Blut schwindet, dann schwindet das Leben mit ihm. Und gleichzeitig auch die bei unserer Art wesentlich stärkere Kraft, gesund zu werden, die ihr normalen Menschen nur sehr eingeschränkt besitzt. Es war einfach schon zu spät, mir selbst zu helfen.«

Giacomo schüttelte den Kopf. »Ich will das alles eigentlich nicht wissen. Alesia hat mir damals, als wir heiraten wollten, erklärt, dass sie nicht – äh – also dass sie zwar ein Mensch ist, aber auch das Erbe einer Rasse – einer Art – dass sie etwas in sich trägt, also dass sie anders ist. Ich habe das akzeptiert, aber nicht ganz verstanden. Es ist mir egal. Und heute hat sie mir, als ich nach Hause kam, erzählt, dass Luca – na ja, dass er dazugehört. Luca trug bereits die Motorradjacke und hatte den Helm in der Hand. Alesia hat mir erklärt, wohin wir fahren müssen und eingeschärft, dass ich tun soll, was Luca verlangt, um dich«, er sah Jessika stirnrunzelnd an, »zu retten. Auf dem Motorrad kann man nicht richtig miteinander reden, aber ich habe unterwegs so viel begriffen, dass ich meinem Sohn dann den Arm mit meinem Rasiermesser aufgeschnitten habe, als er ihn mir hinstreckte. Das Messer hatte Alesia in meine Jacke gesteckt. Gefallen hat mir das aber nicht, so viel ist sicher.«

Johannes nickte vor sich hin. Er überlegte, ob er den Hautkontakt noch einmal ansprechen sollte, war sich aber nicht sicher, ob das für einen Zwölfjährigen nicht doch zu peinlich wäre. Luca hatte sich zwar ohne zu zögern – und vermutlich ohne überhaupt darüber nachzudenken – das Hemd vom Leib gerissen und sich auf die unbekleidete Sterbende gelegt, aber als es Jessika dann besser ging, vermied er jeden Blick in ihre Richtung, bis sie sich angezogen hatte. Zuvor waren Jessika und Johannes noch einmal in den Lago di Montepulciano gestiegen, um das Blut abzuwaschen. Luca hatte gewartet und dann darum gebeten, dass niemand hinschaute, als er selbst aus dem gleichen Grund kurz ins Wasser ging.

Giacomo blickte auf seine Armbanduhr und drängte zum Aufbruch. Er hatte alles stehen und liegen lassen, Alesia wollte sich zusammen mit Sofia um die Auslieferungen kümmern, damit wenigstens die Restaurants und Geschäfte ihre bestellte Waren bekamen, aber es blieb natürlich einige Arbeit liegen wegen dieses Ausfluges.

»Das Motorradfahren ist ja sicher auch nicht das Richtige für die Bandscheibe«, bemerkte Johannes.

Luca lachte und erklärte fröhlich: »Das haben Mama und ich vor der Abfahrt noch schnell in Ordnung gebracht. Papa hatte sein Leiden sowieso lange genug genossen, jetzt ist er gesund.«

»Genossen? Diese Schmerzen? Monello!« schimpfte Giacomo, allerdings mit einem verschmitzten Grinsen.

Jessika und Johannes verabschiedeten sich von ihren italienischen Freunden, dass man sich in absehbarer Zeit wiedersehen würde, war nicht sehr wahrscheinlich. Sie trugen herzliche Grüße an Alesia und Sofia auf und winkten hinterher, bis das Motorrad außer Sicht war. Dann standen sie etwas unschlüssig auf dem Parkplatz.

»Ich meine immer noch, dass du so schnell wie möglich aus dem Land musst«, brach Johannes schließlich das Schweigen. »Wir sollten die Nacht durchfahren.«

Jessika sah ihm in die Augen. Ihre Stimme klang zögerlich, unsicher. »Kann ich dir vertrauen? Es scheint so, bisher zumindest. Du weißt zu viel über mich, Johannes, viel zu viel. An und für sich dürftest du mit diesem Wissen nicht länger auf der Welt herumspazieren.«

»Wir lernen uns immer besser kennen, so sollte es ja auch sein. Kann ich denn dir vertrauen? Wenn du im Ristorante Mengrello nach Pedro fragst und anschließend wieder eine Waffe bei dir hast – wirst du sie gegen mich richten?«

Jessika zuckte mit den Schultern. Sie überlegte, ob sie die volle und reine Wahrheit sagen sollte oder nicht. Kenne ich die Wahrheit überhaupt selbst? Weiß ich denn, ob Nitzrek plötzlich einen Auftrag erteilt? Muss ich überhaupt antworten?

Johannes ließ ihr Zeit. Er brauchte ja keine Antwort, aber er wollte, dass Jessika sich mit diesen Gedanken beschäftigte. Sie sollte zu einer Entscheidung kommen, die für sie ungewohnt war, die gegen ihre Natur ging. Falls das gelang, konnte die Zukunft eine andere Wendung nehmen als er geplant hatte. Wohin das dann wiederum führen würde, war nicht abzusehen, aber der morgige Tag würde für sich selbst sorgen, erst einmal ging es um die Nacht, die vor ihnen lag.

Schließlich seufzte Jessika und trat dicht an ihn heran. »Nimmst du mich bitte in die Arme?«

Johannes drückte sie an sich und hielt sie fest. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und murmelte: »Ich wünsche mir, dass du mir vertrauen kannst. Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun. Ich will dir nichts antun. Aber ich bin nun mal eine Nephilim. Es gibt Gesetze, es gibt Regeln.«

Jessika weint. Er strich ihr sanft über den Rücken, als er spürte, wie nahe sie den Tränen war. »Jessika, natürlich gibt es die. Und dennoch lebt Giacomo mit seiner Nephilimfrau, anstatt im Grab zu liegen. Er ist ein Mensch, ein reinrassiger. Er kennt Alesias Geheimnis. Und jetzt auch das seines Sohnes.«

Johannes spürte, dass sein Hemd feucht wurde. Jessika weinte, schmiegte sich an ihn, hielt ihn fest mit zitternden Armen. Er wartete, ließ ihr Zeit. Es gab keine Eile, es wäre unklug gewesen, diesen Prozess abzukürzen, abzubrechen. Sie weinte die Tränen eines Kindes, dem die Kindheit viel zu früh geraubt wurde. Die Tränen einer Jugendlichen, die keine Jugendliche hatte sein dürfen. Die Tränen einer jungen Frau, die dem einzigen tief geliebten Menschen in ihrem Leben die Kehle durchgeschnitten tat. Die Tränen eines Menschen, der gefangen ist und Freiheit nicht für möglich hält.

Wie lange sie dort auf dem Parkplatz standen, umschlungen wie ein Liebespaar, war schwer zu schätzen. Die Minuten wurden zur Ewigkeit, die Ewigkeit gerann zu Minuten. Zeit spielte keine Rolle, hörte auf zu existieren. Schließlich ließ das Beben ihres Körpers nach. Jessika ließ Johannes los und kramte in ihrer Tasche nach den Papiertaschentüchern.

»Was bin ich für eine Heulsuse«, schniefte sie und schnäuzte sich. »Du hältst mich jetzt bestimmt für ein sentimentales Weichei.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein.«

»Was dann?«

»Du bist ein liebenswertes, kostbares Geschöpf, das an Grenzen stößt, die schmerzhaft sind.«

»Liebenswert? Du spinnst ja.«

»Nein. Ich meine das ernst.«

Jessika schüttelte den Kopf. Sie sah sich um, es wurde inzwischen dunkel. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, der Parkplatz lag hinter dem Gebäude, in dem das Restaurant war. Außer dem schwarzen Dodge stand nur noch ein ziemlich verrosteter Fiat Punto auf der Asphaltfläche. Wenn ich wollte, könnte ich dich jetzt umbringen. Ich würde dich überraschen mit dem Angriff, und wenn ich deine Kehle erst mal im Griff habe, dann bist du verloren. Aber ich will dich nicht töten; was machst du bloß mit mir? Wer bist du?

Johannes fischte den Autoschlüssel aus seiner Jeanstasche und drückte auf den Knopf für die Entriegelung. Die Blinker leuchteten zweimal auf und die Scheinwerfer gingen an. Er legte seinen Arm um Jessikas Schultern, sie gingen zum Auto.

»Willst du fahren?«, fragte er.

»Ich darf dein Ungetüm steuern? Natürlich will ich!«

Er reichte ihr den Schlüssel und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Jessika stieg ein und stellte Sitz und Spiegel auf die passenden Positionen.

»Wohin?«, fragte Johannes, als das Navigationsgerät zum Leben erwachte. »Willst du die Pistole kaufen oder fahren wir durch nach Österreich?«

»Falls es Grenzkontrollen gibt, was ja nicht zu erwarten ist, wäre eine Waffe eher hinderlich.«

»Kontrollen sind unwahrscheinlich, aber andererseits sucht die italienische Polizei immer noch eine Mordverdächtige.«

»Eben. Ich glaube, wir fahren lieber durch, ohne dass ich Pedro treffe.«

Johannes nickte zufrieden und gab Innsbruck als Ziel ein. »Du wolltest und solltest noch etwas altern, bevor wir in die Nähe der Grenze kommen«, erinnerte er Jessika, als sie vom Parkplatz fuhren.

»Weißt du wie viel Geld Frauen ausgeben, um jünger auszusehen als sie sind?«

»Viel Geld, davon leben ganze Industriezweige.«

»Und ich soll jetzt altern.«

»Genau. Kein Polizist hält nach einer 40jährigen Ausschau.«

»Na gut, für dich brauche ich ja nicht jung und schön sein, du bist ja schwul.«

Johannes lachte laut und herzlich. »Wir kommst du denn darauf?«, fragte er, als er wieder reden konnte.

»Weil du kein Interesse an meinem Körper hast. In der Pension in Parma schon hättest du Anzeichen erkennen lassen können, am ersten See und am zweiten, dann als ich aus der Dusche in Alesias Wohnzimmer kam … Aber auch vorhin, als ich in deine Arme geschmiegt war – danke übrigens, es hat mir gut getan – hat sich dein Penis nicht gerührt. Ich war dir nah genug, um das zu spüren.«

»Ach und deshalb bin ich schwul.«

»Ja. Bisher hat mich jeder Mann begehrt, dem ich auch nur einigermaßen nahe gekommen bin. Das hat mir ja auch meine Aufgabe erleichtert.«

Johannes grinste noch immer. »Es könnte ja auch andere Gründe geben, oder?«

»Du bist impotent«, gab sie zurück.

»Falsch.«

»Doch, schwul oder impotent.«

»Jessika, ich versichere dir, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Beides wäre ja kein Verbrechen, nichts, dessen man sich schämen müsste, aber es stimmt nicht.«

»Dann will ich, dass du mit mir schläfst. Irgendwo unterwegs halten wir an, Decken sind ja im Kofferraum und warm genug ist die italienische Nacht auch.«

Jessika gab Gas, sie waren auf der Autobahn angekommen.

»Du kannst den Tempomat einschalten, wenn du willst«, sagte Johannes. »Dann fährt es sich entspannter.«

Sie suchte mit den Fingern nach dem Hebel am Lenkrad.

»Knopf drücken zum Einschalten und dann kurz nach unten bei der gewünschten Geschwindigkeit«, erklärte Johannes.

Jessika nahm den Fuß vom Gaspedal, der Wagen hielt die 120 Stundenkilometer und schnurrte behaglich die Autobahn entlang.

»Hast du auch so einen Knopf, mit dem man dich einschalten kann? Deinen Penis, meine ich?«

»Du bist ziemlich auf Sex fixiert, kann das sein?«

»Männer sind ständig auf Sex aus«, stellte sie mit Bestimmtheit fest.

»Nicht alle Männer.«

»Fast alle.«

»Viele.«

»Aber du nicht?«

Johannes lächelte und blickte geradeaus auf die relativ leere Autobahn. Jessika sollte, nein, sie musste einiges selbst herausfinden, andernfalls würde sie nicht überzeugt sein. Als er sie in Parma angesprochen hatte, in jener dunklen Straße, wusste er noch nicht, wie sich die Geschichte entwickeln würde. Er hatte noch keine Ahnung von Alesia und Luca, noch nicht einmal eine klare Vorstellung, welcher Art von Wesen Jessika eigentlich angehörte. Er hatte nur vor, sie besser, sie überhaupt richtig kennen zu lernen. Natürlich war ein erotisches Stelldichein ein verlockender Gedanke, aber bei dem Gedanken musste es auch bleiben. Warum das so war, darauf musste sie selbst kommen. Wie er sie an den Punkt bringen konnte, fiel ihm im Moment allerdings nicht ein.

»Du findest mich schon hübsch, oder?« fragte Jessika, als er keine Antwort gab.

Johannes schaute zu ihr hinüber, trotz der relativen Dunkelheit im Wagen konnte er sehen, dass sie die Stirn gerunzelt hatte. Er nickte und bestätigte: »Du bist sehr hübsch. Zweifellos. Mit und ohne Kleidung.«

Jessika schaute kurz von der Straße weg zu ihm hinüber und erklärte: »Unansehnlich bist du auch nicht, mit und ohne Kleidung. Nicht mehr der jüngste, aber ich alterte ja gerade ebenfalls.«

»Das geht so nebenbei, beim Autofahren?«

»Ja, einfach so. Es ist eine Sache des Willens, des Wollens, eine Entscheidung. Es dauert eine Stunde ungefähr, dann bin ich 40 Jahre alt. Für Menschen ist der Vorgang allerdings nicht verständlich, fürchte ich.«

»Wir Menschen«, sagte Johannes, »verstehen vieles nicht. Wir reimen uns dann eine Erklärung zusammen oder bestreiten die Tatsachen. Oder wir reden, wenn wir ausreichend religiös sind, von einem Wunder.

»Oder von einem Märchen.«

»Das meinte ich mit Tatsachen bestreiten.«

Jessika dachte zurück an Bernd. Sie war seine Muse geworden, er schrieb in seinen Horror- und Kriminalgeschichten auf, was sie ihn unwissentlich wissen ließ. Sie erlebte, was er dann als Fiktion niederschrieb. Dass ihm irgendwann die Wahrheit dämmerte, war sein Todesurteil gewesen. Ich war drauf und dran, dich mehr zu lieben, als unsere Gesetze, Bernd. Nun saß sie im Auto eines immer noch undurchschaubaren Mannes, und schon wieder geriet sie in Versuchung, das Gesetz aller Gesetze zu missachten. Kein Mensch darf einen Angehörigen der Nephilim identifizieren und mit dem Leben davonkommen. Wir sind ausgestorben oder haben nie existiert. Andererseits hatte Johannes vorhin Recht gehabt, was Giacomo und womöglich Sofia betraf.

»Du bist nicht zufällig Schriftsteller?« fragte sie.

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Nun ist wieder de geschätzte Lesegemeinde gefragt:

Johannes ...
... rückt mit der Wahrheit heraus.
... lässt Jessika im Unklaren.
... offenbart nur einen Teil der Wahrheit.
Auswertung
Fort? Setzung. Folgt.

4 Kommentare:

  1. die einsame Stimme piept ein "danke".
    :-)

    Worterkennungswort ist exheamya
    so ein langes hab ich noch nie gehabt, glaub ich.

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  2. [...] wusste er noch nicht, wie sich die Geschichte entwickeln würde.

    Das trifft wohl auf die meisten Menschen hier ebenso zu.

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