Gut Ding, sagt der Volksmund dem Vernehmen nach, will Weile haben. Das gilt auch oder sogar vor allem für Fragmente wie 
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Da die Geschichte, deren Fortsetzung wiederholt angemahnt wurde, wirklich noch nicht geschrieben ist, sind Leser wie Autor jener Muse ausgeliefert, die gelegentlich recht launisch ist. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wann es weiter geht. Wie es weiter geht? Na ja, weder mit Gewitter noch mit Erdbeben, so viel sei verraten.
Über jene Muse, die neben akuter Zeitnot der Fortsetzung des Fragmentes wegen Abwesenheit beziehungsweise Kussunwilligkeit hinderlich ist, habe ich im folgenden Text vor ziemlich genau zwei Jahren gemutmaßt. Es handelt sich um eine Vorversion eines Textes, der - später überarbeitet - im Buch 
 den Abschluss bildet. Wer es noch nicht hat, das Buch, der darf es flugs bestellen. Das Buch 
bestellen sollten Zeitgenossen, die entweder Krimis nicht mögen oder nicht lesen wollen, wie Berlin nach dem Giftgas aussieht (und riecht) oder überhaupt nur Erbauungslektüre mögen.


Die Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur, doch  fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn Worte  mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte. Satzfetzen, Bruchstücke von  Gedanken, Handlungsfäden, die richtungslos waren, literarische Sackgassen von  erstaunlich kurzen Dimensionen waren alles, was der Autor finden konnte. Er  wollte schreiben, aber er wusste nicht worüber. 
Dies war in der Vergangenheit keine Hürde gewesen, die er als  unüberwindlich empfunden hätte. Oft entstanden seine Geschichten aus einem  einzigen Satz - entwickelten sich beim Schreiben. So waren Erzählungen  entstanden, deren Verlauf und Ende ihn selbst überrascht hatten, engen Freunden  sagte er dann oft, die Geschichte hätte "sich selbst geschrieben". Anderen  Texten waren Überlegungen und Planungen vorausgegangen. Das Beunruhigende war  jetzt, dass er zum ersten Mal, seit er zurückdenken konnte, weder einen Anfang  fand noch irgendeine Vorstellung hatte, worüber er schreiben wollte. 
 Er sann über gelesene erste Sätze nach. The man in black  fled across the desert... - hervorragend, aber nicht geeignet, denn  gedanklich konnte er nichts an diese oder eine andere Flucht anschließen.  Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag  amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag... auch keine  Hilfe, denn wenn man nichts zu schreiben weiß, hat man keinen Namen, der am  Anfang des Manuskriptes stehen kann. Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus  betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in  den Paternosteraufzug... doch woher einen Schauplatz wie das Funkhaus  nehmen? Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt...  noch eine Sackgasse, aus der nur der Rückzug blieb. 
 Nichts wollte aus ihm heraus. Er war ein wortloser Autor. Er  war ein sprachloser Schriftsteller. Der Begriff Schreibblockade tauchte mit  zunehmender Häufigkeit in seinen Überlegungen auf. Er wies ihn zurück, verlachte  ihn, zollte ihm keinerlei Respekt, doch ohne den gewünschten Erfolg. Aus Minuten  wurden Viertelstunden, aus Viertelstunden ein schier endloser Vormittag.  Schreibblockade. Schreibblockade. Du hast eine Schreibblockade. 
 Zum Trotz begann er, Sätze zu formen. Wie froh bin ich, dass  ich hier bin! Schlimmster Feind, was ist das Herz des Menschen! Dich zu treffen,  den ich so hasse... er hielt inne. Es war sinnlos, Goethe ins Gegenteil zu  verkehren. Daraus würde nie eine Erzählung, die des Erzählens wert gewesen wäre.  Schreibblocklade! 
 Die Frau im blauen Kleid floh über den Alexanderplatz und  der Mechaniker folgte... mit Entsetzen betrachtete er dieses jämmerliche  Plagiat und drückte erneut die Löschtaste. Schreibblockade. Du hast eine  Schreibblockade. 
 Ich habe eine Schreibblockade. Er betrachtete den Satz  und fand Gefallen an den vier Worten. Daher schreibe ich unter  Nachkriegsbedingungen, leide Mangel an lebensnotwendiger Buchstabennahrung und  unverzichtbarer Kapitelkleidung. Und doch werde ich überleben. Die Westmächte  werden mir zu Hilfe eilen, mit Wortrosinenbombern und Satzüberlebensrationen.  
 Die Stirn gerunzelt las er die Zeilen, schüttelte den Kopf und  schickte auch diesen Text ins unersättliche Datengrab. Die Westmächte nahmen ihn  so wenig zur Kenntnis wie jene sprichwörtliche Muse, der er nie begegnet war,  geschweige denn, dass er ihren Kuss auf den Lippen gespürt hätte. Oder küsste  die Muse eher auf die Wange? Homer hatte eine Dreiheit von Musen gekannt, Hesiod  sprach gar von neun verschiedenen Schutzgöttinnen der Künste. Mindestens drei  von ihnen konnten einem Dichter zur notwendigen Inspiration verhelfen;  vielleicht sollte er versuchen, Erato auf sich aufmerksam zu machen? Die Muse  der Liebesdichtung ... Liebesdichtung? Erdichtete Liebe oder Dichtung über die  Liebe? Und welche Liebe? Die verhinderte, die einseitige, die erfüllte, die  schal gewordene, die unersättliche, die hoffnungsvolle? Wie wählte man die Liebe  aus, die zu beschreiben sich lohnte? 
 Vielleicht konnte der weise König Salomo ihn inspirieren, ihm  wenigstens einen Anfang, ein paar erste Sätze schenken? Er nahm die Bibel aus  dem Regal und blätterte, bis er den gesuchten Text fand. Er küsse mich mit  Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. An Duft gar  köstlich sind deine Salben; ausgegossenes Salböl ist dein Name. Darum lieben  dich die Mädchen ... konnte er die Bibelsprache übersetzen in einen  zeitgemäßen Text? Köstlicher als Wein - das war auch heute noch verständlich.  Die Sache mit dem Salböl schien schon schwieriger, doch das ausgegossene Salböl  mit einem Namen zu verbinden schien ihm bereits unmöglich. Und überhaupt: Wieso  stand da "er küsse mich" und im nächsten Halbsatz "deine Liebe"? Er las weiter.  Zieh mich dir nach, lass uns eilen! Der König möge mich in seine Gemächer  führen! Wir wollen jubeln und uns freuen an dir, wollen deine Liebe preisen mehr  als Wein! Mit Recht liebt man dich ... 
 Erneut diese Verwirrung der Personen. "Der König" soll sie  ziehen, aber "deine Liebe" ist des Rühmens wert. Er kapitulierte vor dem König  Salomo und seiner Sulamith, vor dieser Liebe, die so geheimnisumwoben über acht  Kapitel zu entbrennen schien und doch keine Erfüllung fand, denn schließlich bat  die Liebende am Ende: Enteile, mein Geliebter, und tu es der Gazelle gleich  oder dem jungen Hirsch auf den Balsambergen! 
 Er blickte auf die Uhr. Der viele Wein im Hohelied der Liebe  brachte ihn auf den Gedanken, dass ein Glas Rotwein seine innere Verkrampfung  lockern mochte. Es war 11 Uhr. Alkohol am Vormittag war ihm bisher fremd  gewesen. So sollte es, befand er schließlich, auch bleiben. 
 Er stand auf und verließ sein Arbeitszimmer, stand dann  unschlüssig im Flur. Die Küche lockte ihn nicht, er verspürte weder Hunger noch  Durst. Im Wohnzimmer lud das Sofa zum entspannten Lesen ein, doch das hatte er  schon in den letzten Wochen ausgiebig getan, ohne selbst eine einzige brauchbare  Zeile zu schreiben. Musik hören - auch danach war ihm nicht zumute. Der Tag war  nicht ungewöhnlich warm, doch fühlte er sich verschwitzt. Er ging schließlich  ins Badezimmer und entledigte sich seiner Kleidung. Dann trat er unter die  Dusche und überließ sich dem heißen Wasser, genoss das beinahe schmerzliche  Brennen auf der Haut. Seinen verkrampften Schultermuskeln verschaffte die Hitze  spürbare Erleichterung, tief atmete er die dampfgeschwängerte feuchte Luft. Er  griff zum Duschgel und wusch gründlich seinen Körper, während seine Gedanken  zurückeilten. 
 Vor nunmehr über zehn Jahren hatte seine Frau mit der  Videokamera anlässlich einer Urlaubsreise das Ferienhaus aufgenommen und war  just in dem Moment in das ländlich ausgestaltete Badezimmer gekommen, als er  unter der Dusche stand. Sie hatte den Vorhang beiseite gezogen und ließ die  Kamera langsam an seinem nassen Körper nach unten gleiten, hielt jedoch inne,  bevor das Bild die Region erfassen konnte, die Dritten nicht zu zeigen war. Sie  schwenkte die Kamera zurück zu seinem Gesicht und widmete sich dann weiteren  Räumen ihres Domizils. 
 Er lächelte anlässlich der Erinnerung und schloss die Augen, um  die Seife aus den Haaren zu spülen. Er verharrte noch einige Augenblicke mit  geschlossenen Lidern im heißen Wasserstrahl, bevor er sich abtrocknete und das  Fenster öffnete, damit die feuchte Luft entweichen konnte. 
 Vielleicht konnte er eine Kurzgeschichte über einen Mann in der  Dusche schreiben? Eine Figur ersinnen, die wegen der Seife die Augen geschlossen  hielt und nicht bemerkte, dass jemand das Badezimmer betreten hatte? Dies  eröffnete zahlreiche Möglichkeiten. Von der schönen und liebeswilligen  Unbekannten bis zum feindlichen Agenten, der einem Mordauftrag nachzukommen  gedachte. Von der Dusche konnte die Erzählung in ein wahlweise modernes oder  altertümlich eingerichtetes Schlafzimmer führen, oder nach blutigem Zweikampf  die Flucht vor weiteren übel gesonnenen Zeitgenossen schildern. Natürlich konnte  auch das Badezimmer der einzige Schauplatz bleiben, auf welchem sich  Zärtlichkeit oder Brutalität ereignen würde. 
 Ohne sich anzukleiden ging er zurück zu seinem Arbeitsplatz und  begann, zu schreiben: Der Mann stand mit zusammengekniffenen Augen unter der  Dusche. Schaum glitt über seine Schultern am Körper hinab, das Rauschen des  Wassers überlagerte das leise Knarzen der Klinke jenseits des Duschvorhangs.  Behutsam wurde die Tür geöffnet und mit geräuschlosen Schritten trat eine  Gestalt in den Raum. Als der Mann den Luftzug auf der nassen Haut verspürte,  wischte er notdürftig den Schaum aus den Augen und blickte in ein fremdes  Gesicht. Vor ihm stand 
 Weiter kam er nicht. Stand da eine Frau oder ein Mann? Jung  oder alt? Bedrohlich oder anziehend? Schreibblockade! Du hast eine  Schreibblockade. 
 Vor ihm stand eine junge Frau in einem leichten Sommerkleid,  die mit verheißungsvollem Lächeln seine Blöße betrachtete. 
 Er löschte den Satz. Solch plumpe Formulierungen lagen ihm  fern. 
 Vor ihm stand ein Herr mittleren Alters in einem tadellosen  Abendanzug, der eine Pistole auf ihn gerichtet hielt. 
 Er tilgte auch diesen Satz und gab die Geschichte auf. Er war  sprachlos. Wortlos. Satzlos. Inspirationslos. Musenlos. 
 Ein Spaziergang mochte Ablenkung bringen, so zog er sich  schließlich wieder an und verließ ziellos das Haus. Aufmerksam musterte er die  Menschen, die ihm begegneten, mochte doch aus einer zufälligen Begegnung eine  Geschichte erwachsen, die zu erzählen lohnte. Ein Gesicht möglicherweise, dessen  Ausdruck Rückschlüsse auf die erwartungsfrohe Stimmung zuließ, deren Grund  Inhalt einer Geschichte sein konnte. Ein ungewöhnliches Bekleidungsstück, dessen  Herkunft der Phantasie eine Erforschung gestattete. Ein Paar, dem die Liebe oder  der Streit, deren Historie berichtenswert war, von weitem angesehen wurde. Eine  einsame Person, deren Verlorenheit in der Welt er literarisch nachforschen  konnte. Ein Kind, das Gedanken nachhing, die ungewöhnlich weit über sein Alter  hinauswuchsen. 
 Er ging eine Stunde durch die Straßen, ohne dass auch nur die  geringste Beobachtung ihn hätte interessieren oder gar inspirieren können.  
 Zurück am Schreibtisch öffnete er einige alte Dateien, überfolg  sowohl gelungene als auch eher durchschnittliche Texte, die er geschrieben  hatte. Doch auch das brachte ihn nicht weiter, führte nicht zu neuen Ideen oder  alten Ideen, die er hätte frisch verpacken können. Im Grunde genommen gab es  nicht viele Geschichten, es gab nur ein paar, die von vielen Autoren immer  wieder in Variationen und mit unterschiedlichen Ausschmückungen erzählt wurden.  Diese Handvoll Geschichten war nie langweilig geworden. Sicher gab es  missglückte Ansätze und erbärmliche Versuche, peinliche Entgleisungen sowohl  inhaltlicher als auch stilistischer Ausprägung. Daneben gab es aber die vielen  hervorragenden Beispiele, wie man von der Liebe oder dem Kampf zwischen Gut und  Böse berichten konnte, oder von Kombinationen dieser beiden Grundmuster.  Eigentlich, überlegte er, gab es nur diese beiden Geschichten. Gut gegen Böse  und die Liebe an und für sich - und das, was das Leben oder die Phantasie aus  diesen Zutaten zu mischen vermochte. 
 Die Phantasie jedoch ließ ihn seit Wochen im Stich und das  Leben mischte ebenfalls nichts, was er als Stoff für einen Text hätte erkennen  können. Dabei warteten, das wusste er, zumindest seine treuen Leserinnen und  Leser auf einen neuen Text. Er hatte in der Verlegenheit bereits ein Kapitel aus  einem unvollendeten Buch als Auszug veröffentlicht, und dann noch ein Kapitel  aus einem früheren Roman nachgeschoben, der inzwischen vergriffen war. Doch das  waren Notlösungen, die ihn nicht zufrieden stellen konnten. Er wollte schreiben,  aber er fand nur Dürre, wo sonst ein Brunnen der Inspiration gesprudelt hatte.  
 Er sah erneut auf die Uhr und befand, dass es nun angemessen  spät war. Er schlenderte in die Küche, musterte das Weinregal und entkorkte  schließlich eine Flasche französischen Rotwein, schenkte sich ein Glas ein und  trank einen Schluck. 
 Dann ging er mit Glas und Flasche zurück zum Computer, öffnete  entschlossen ein leeres Dokument und begann zu schreiben: 
 Die Finger bewegten sich nur Zentimeter über der Tastatur,  doch fanden sie kein Ziel. Es mangelte an Befehlen vom Gehirn, weil dem Gehirn  Worte mangelten, die niederzuschreiben sich gelohnt hätte...