Mittwoch, 28. November 2007

Joseph Ratzinger über Jesus

Ganz gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens "nach dem Angesicht des Herrn" (vgl.Psalm 27,8).
So steht es im Vorwort. Und:
Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.
Ich gestehe, dass mein Vorschuss an Sympathie nicht sonderlich groß war, eher kritisch habe ich die Lektüre begonnen. Doch ist die Sympathie, während ich las, Seite um Seite gewachsen.

Es ist ein mutiges Buch. Da ist nämlich – ohne Wertung oder Gewichtung – von „katholichen Christen und evangelischen Christen“ die Rede. Da wird angesehenen Theologen vorgeworfen, „das Bild des Erlösers in den vergangenen Jahrzehnten verwaschen anstatt genauer gezeichnet“ zu haben. Nicht als Gottessohn werde Jesus von ihnen dargestellt, sondern als „eine der großen religiösen Gründergestalten, denen eine tiefe Gotteserfahrung geschenkt worden ist“.

Ich bin kein Theologe und ich verstehe die Theologen mitunter nicht. Aber ich habe dieses Buch verstanden. Vielleicht anders, als ein Theologe es versteht, doch das stört mich nicht, denn ich habe das Werk mit erheblichem Gewinn gelesen.

Das seit den 50er Jahren zunehmend verbreitete Bild von Jesus als Religionsstifter verwirft der Papst. In seinem Buch wird Jesus als Gott und Mensch nicht in Frage gestellt, sondern dargestellt. Gottes Sohn ist der Sohn Gottes und die Heilige Schrift ist das Wort Gottes. Solch schlichter Glaube ist mir sympathisch, denn auch ich glaube so schlicht. Schon im Vorwort macht der Autor klar, dass es ihm...
...vor allem vordringlich schien, Gestalt und Botschaft Jesu in seinem öffentlichen Wirken darzustellen und dazu zu helfen, dass lebendige Beziehung zu ihm wachsen kann.
Lebendige Beziehung zu Jesus - das meine ich mit schlichtem Glauben. Dafür muss man weder ungebildet noch einfältig sein. Ratzinger verfügt zweifellos über erhebliches Wissen und einen scharfen Verstand. Die historisch-kritische Forschung führte nach seiner Auffassung zur Bildung einer „undeutlich gewordenen Ikone“. Wer die Gottheit Jesu in Frage stellt, entziehe dem Christentum die Grundlage. Eine solche Situation sei „dramatisch für den Glauben, weil sein eigentlicher Bezugspunkt unsicher wird“.

Was das Buch für mich so einzigartig und wertvoll macht, ist die dichte Verknüpfung von Bibelzitaten aus dem Alten Testament mit den Worten Jesu. Vieles, was die Evangelien über Jesus berichten, wurde mir ganz neu lebendig und zum Teil erstmals verständlich. Zum Beispiel das Kapitel über die Bergpredigt – die durch das Verständnis der Bezüge aus dem Alten Testament gewonnenen Einsichten in die Worte Jesu sind faszinierend, wenn man sich darauf einlässt.

Der Autor hält sich nicht an die Chronologie der Evangelien, sondern er untersucht anhand von zehn Themen die Kernfrage: Wer war Jeus von Nazareth? Und er gibt die Antwort: Er war der, der er behauptet hat zu sein - der Sohn Gottes, der Messias, verheißen von den Propheten Israels, der Retter der Welt.

Die zehn Themen: Die Taufe Jesu / Die Versuchungen Jesu / Das Evangelium vom Reich Gottes / Die Bergprediugt / Das Gebet des Herrn / Die Jünger / Die Botschaft der Gleichnisse / Die großen johanneischen Bilder / Petrusbekenntnis und Verklärung / Selbstaussagen Jesu

Ausführlich legt Ratzinger immer und immer wieder dar, warum das Christentum unlösbar mit dem Judentum verbunden ist. Es sind die schönsten Stellen im Buch, die persönlichsten.

Immer wieder beeindruckte mich die einzigartige Kombination von Liebe und Ehrfurcht, die das ganze Buch durchzieht. Freikirchliche Autoren sind manchmal sehr kumpelhaft im Ton, kirchliche mitunter arg distanziert und nüchtern. Bei Ratzinger habe ich eine zärtliche Beziehung zu Jesus empfunden, die aber nie aus dem Blick verliert, dass Jesus auch Gott ist, der Allmächtige, der für unseren Verstand letztendlich Unfassbare – der Mensch geworden ist, um für uns erfahrbar zu werden.

Das Buch steht in dem Ruf, „wissenschaftlich“ und schwer verständlich zu sein. Stimmt das? Ja und nein: Es ist keinesfalls ein Buch, das man so nebenbei liest, während der Fernseher läuft oder im Raum Gespräche stattfinden. Es fordert durchaus die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers. Gelegentlich habe ich einen Abschnitt ein zweites mal gelesen, weil ich merkte, dass ich abgelenkt gewesen war. Unterhaltungslektüre hat Ratzinger nicht zu Papier gebracht.

Aber schwer zu verstehen oder wissenschaftlich kann ich das Werk nicht finden. Fachbegriffe werden im Anhang erläutert, der Stil als solcher ist keineswegs kompliziert. Zum Beispiel:
Die Lehre Jesu kommt nicht aus menschlichem Lernen, welcher Art auch immer. Sie kommt aus der unmittelbaren Berührung mit dem Vater, aus dem Dialog von "Gesicht zu Gesicht" - aus dem Sehen dessen heraus, der an der Brust des Vaters ruhte. Sie ist Sohneswort. Als solche haben die Gelehrten zur Zeit Jesu sie beurteilt, eben weil sie den inneren Grund, das Sehen und Erkennen von Gesicht zu gesicht, nicht annehmen mochten. (Seite 32)

Der Kern der Sabbat-Streitigkeiten ist die Frage nach dem Menschensohn - die Frage nach Jesus Christus selbst. Wieder sehen wir, wie weit Harnack und die ihm folgende liberale Exegese irrte mit der Meinung, ins Evangelium Jesu gehöre der Sohn, gehöre Christus nicht hinein: er ist immerfort die Mitte darin. (Seite 143)
Anspruchsvoller Stil, kein Bild-Zeitungs-Niveau - aber, so meine ich, auch keine Überforderung.

Widerspruch sei willkommen, heißt es im Vorwort. Es gibt in der katholischen Frömmigkeit und Kirchenverfassung durchaus Bestandteile, die ich in meinem Glaubensleben nicht wiederfinde. Aber in diesem Buch sind sie mir so gut wie nie begegnet, denn es ist eben kein theologisches Lehrgebäude, sondern eine 400 Seiten starke Liebeserklärung an Jesus von Nazareth, eine ansteckende und anregende Liebeserklärung. Der Sohn Gottes, der Menschensohn, wird darin auf eine Weise vorgestellt, die ich bei anderen Autoren nicht gefunden habe. Das macht mich hungrig auf den zweiten Band, an dem der Autor noch arbeitet.

Was den vorliegenden ersten betrifft: Danke, Josef Ratzinger, für dieses Buch. Ich hoffe, dass der zweite Band nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt.

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