Einige biblische Texte hört man selten in einer Predigt und liest auch kaum jemals eine Auslegung dazu. Zum Beispiel diese drei Verse aus Apostelgeschichte 1, in denen Petrus über Judas berichtet:
…denn er gehörte zu uns und hatte dieses Amt mit uns empfangen. Der hat einen Acker erworben mit dem Lohn für seine Ungerechtigkeit. Aber er ist vornüber gestürzt und mitten entzweigeborsten, sodass alle seine Eingeweide hervorquollen. Und es ist allen bekannt geworden, die in Jerusalem wohnen, sodass dieser Acker in ihrer Sprache genannt wird: Hakeldamach, das heißt Blutacker.
Im Matthäusevangelium finden wir eine abweichende Version, dort tut Judas Buße (»Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe«), gibt das Geld zurück und erhängt sich anschließend. Hier in der Apostelgeschichte kauft er ein Feld mit seinem Lohn für den Verrat und stürzt, was zu einer tödlichen Verletzung führt.
Er stirbt allein in einer Blutlache. Oder allein am Strick. Wie auch immer: Er stirbt in dem Wissen, dass er ein Sünder ist und denkt möglicherweise bis zum letzten Moment seines Lebens, dass Gott ihn nicht mehr haben will.
Für Judas gibt es kein Ostern. Er gibt keine Auferstehung. Ihm leuchtet nicht das Licht, das von keiner Finsternis überwältigt werden kann. Judas hat keine Erwartungen an die Zukunft, weiß nicht, dass Jesus auferstanden ist. Er legt seine Finger nicht in die Wundmale seines Rabbi. Er nimmt nicht an der Mahlzeit am Seeufer teil, die Jesus seinen fischenden Jüngern vorbereitet. Er wird nie mit Freude erfüllt, erlebt nicht, wie der Heilige Geist auf die versammelten Jünger fällt.
Er wählt den Tod, bevor er erkennen kann, dass der Tod besiegt ist.
Unser Bruder Judas. Hat er etwas getan, was nicht vergeben werden könnte? Wieso scheitert er, der Jesus verrät, und Petrus, der seinen Meister drei Mal verleugnet und sich dabei selbst verflucht, wird zum Felsen, auf dem die Gemeinde gebaut werden kann? War die Sünde des Judas schlimmer als die des Petrus? Gab es für seinen Fall keine Vergebung?
Keineswegs, und wenn wir schon bei der Sache sind: Weder Petrus noch Judas waren besser oder schlechter als irgendjemand von uns. Wir sind alle schuldig vor Gott, daran gibt es nichts zu zweifeln. Es sei denn, jemand unter meinen Lesern wäre frei von jeglicher Schuld – in diesem Fall: Herzlichen Glückwunsch.
Aber wir, die wir uns als Menschen verstehen, die Vergebung brauchen, haben mit Petrus etwas gemein, was Judas nicht vergönnt war. Wir hatten oder haben jemanden, der uns von der Gnade, der Möglichkeit, dass uns vergeben wird, zu berichten wusste. Womöglich liegt hier die Ursache dafür, dass Judas so früh zu Tode kam, egal ob er nun gestürzt ist oder sich erhängt hat:
Judas ist allein. Er trägt seine Last mit sich in den Tod, weil er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, in der er das Wort von der verfügbaren Gnade hätte vernehmen können. Seine Ohren hören nichts von Vergebung, von Liebe, von neuem Anfang. Das alles erzählt ihm niemand in seiner Einsamkeit.
Wie hätte wohl die erste Gemeinde ausgesehen, wenn Judas wie Petrus Vergebung empfangen hätte? Jesus hatte wieder und wieder gesagt, dass seine Jünger Vergebung in seinem Namen predigen (und praktizieren!) sollten. Es war gerade die Vergebung von Sünden, die Jesus häufig Widerspruch von seinen religiösen Zeitgenossen einbrachte. Die Sache war ihm so wichtig, dass er nicht davon abließ, sich den Menschen zuzuwenden, ihre Sünden zu vergeben und Gnade zu verkünden. Wäre Judas ein Apostel geworden, in dessen Verkündigung »Amazing Grace« die zentrale Rolle gespielt hätte?
Womöglich war Judas dazu vorherbestimmt, Jesus zu verraten. Es kann sein, dass sich alles bis zum Verrat so entwickeln musste. Darüber debattieren Theologen – hier ist es nicht entscheidend. Meine Frage ist vielmehr: Ist Judas zu früh in den Tod gestürzt? Er hat sich der Gnade, von der er als Nachfolger Jesu oft gehört hatte, nicht bedient. Aber hat ihn jemand aus dem Kreis der Jünger aufgesucht, ihn an die Vergebung erinnert? Vermutlich war es für die übrigen Jünger zu schmerzhaft, ausgerechnet zu dem zu gehen, der ihren Meister an die Feinde verkauft hatte. Es war wohl leichter, ihn als das Problem zu identifizieren, als denjenigen, der an allem schuldig geworden war. Das würde auch mir leicht fallen: Judas ist der Verräter, nicht ich!
Hand aufs Herz: Wir suchen alle gerne nach dem Sündenbock, damit wir uns nicht mit der beklemmenden Wahrheit beschäftigen müssen, dass wir keineswegs ohne Schuld sind.
Haben die Jünger Buße getan, dass sie Judas in seinen Tod, ob nun durch Erhängen wie bei Matthäus oder Sturz wie bei Lukas, haben laufen lassen? Sie waren beauftragt, der Welt die frohe Botschaft der Gnade zu verkünden, und die Gnade brauchten sie selbst genauso wie jeder von uns. Vielleicht auch wegen der Tatsache, dass sie ihren Bruder Judas alleine gelassen haben.
Wir alle, sofern wir noch sündigen (was bei mir der Fall ist), müssen immer wieder hören, wer Gott ist und was er will, was er für uns bereits getan hat. Wir müssen einander von unseren Fesseln der Schuld befreien helfen, indem wir einander an das Bekenntnis der Schuld und die Vergebung erinnern. Wir müssen durch die Isolation durchdringen, die ein Sünder um sich aufgebaut haben mag, damit wir mit ihm vor Christus stehen und um Gnade bitten können. Sonst landet er womöglich im Selbstmord, oder seine Eingeweide platzen aus dem aufgerissenen Bauch – ohne dass ihn jemand jemals darüber informiert hat, dass absolute keine Sünde zu groß für Gottes Gnade ist.
Niemand muss ihm Gericht und Verdammnis predigen: Judas weiß genau, dass er schuldig geworden ist. Er ist einsam, ausgestoßen, weil er sich selbst aus dem Kreis der Jünger entfernt hat. Also selbst schuld? So gesehen bestimmt. Aber keiner kommt und lädt ihn zum Abendessen ein. Niemand bringt ihm eine warme Mahlzeit, es gibt keine kleine Geste, die sagt: Du bist dennoch nicht allein. Er kann sein Herz nicht ausschütten, seine Verzweiflung nicht mitteilen, es gibt keinen Arm, der sich tröstend um seine Schulter legt und ihm einen Funken Wärme schenkt.
Judas hat als Jünger Kenntnis von dem, was Jesus getan und verkündet hat. Nur in seiner dunkelsten Verzweiflung ist dieses Wissen verschüttet unter Schuld und Schmerz. Wie sieht es mit unseren Nachbarn aus? Hat ihnen jemand von der Gnade Gottes erzählt? Wer bereitet ihnen eine warme Mahlzeit, die ausdrückt: Du bist nicht allein! Wer hilft dem kaum Deutsch sprechenden Kind aus der Nachbarschaft bei den Hausaufgaben, damit es weiß, dass sein Schicksal nicht belanglos ist? Wer schenkt dem Obdachlosen einen Mantel, einfach weil er ein Mensch in Not ist? Wer lässt die zornigen Jugendlichen, die Autos anzünden und überhaupt alles zerstören wollen, spüren, dass nicht die ganze Welt gegen sie ist?
Vielleicht sind wir zu beschäftigt mit dem Hören von Predigten, der Anbetung, dem »Soaken« und der Organisation des nächsten Gemeindefestes. Während wir das 99ste Buch über die Gaben des Heiligen Geistes lesen, geht Judas hinaus auf das Feld und kommt zu Tode.
Tröstlich: Er ist selber schuld, er hätte schließlich auch zu uns kommen können, die Tür ist ja jeden Sonntag offen, oder etwa nicht?
* Nachträgliche Streichung / Korrektur: Gemäß dem Bericht im Lukasevangelium hat Judas am Abendmahl teilgenommen - das hatte ich nicht im Kopf beim Schreiben (siehe Kommentare).
P.S.: Bild: Judas; Julius Schnorr von Carolsfeld
P.P.S.: Inspiriert wurde dieser Text von einer Predigt, die Nadia Bolz-Weber geschrieben hat (einige Passagen habe ich von ihr übernommen / übersetzt).