Julia war in ihre Arbeit vertieft. Am Rande hörte sie, dass ein Kollege sich in einem Telefonat sehr erniedrigend über ihre Arbeitsweise äußerte. Sofort war sie aufgebracht, schaltete innerlich auf Abwehrhaltung und ihre Gedanken kreisten den restlichen Bürotag über nur darum, wie falsch der Kollege mit seiner Einschätzung lag und wie sie ihn wohl von der Wahrheit, nämlich gute Arbeit zu leisten, überzeugen könnte.
Zu Hause angekommen trat sie in die Küche, wo sich das benutzte Geschirr türmte. Der Mülleimer war übervoll. Julia ärgerte sich, dass ihr Lebensgefährte so rücksichtslos war und alles stehen und liegen ließ. Warum konnte er nicht einmal solche kleinen Dinge wie den Abwasch oder das Leeren des Mülleimers erledigen?
Den ganzen Abend brodelte der Ärger in ihr ... warum behandelten der Kollege und der Lebensgefährte sie so unangemessen? Was hatte sie denn verbrochen, dass immer sie wegen solcher Gehässigkeiten und Gedankenlosigkeit so frustriert, wütend und genervt sein musste? Warum durfte sie nicht ihr Leben genießen?
Am nächsten Tag fiel Julia auf, dass auch andere Menschen zeitweise frustriert, gestresst und wütend waren. Sogar von den Gesichtern fremder Passanten auf der Straße konnte sie das ablesen. Kolleginnen maulten nur herum, als sie in der Mittagspause zu Tisch saßen. Im Sportstudio nach dem Feierabend gab es zuhauf missmutige Gesichter zu sehen. Was war bloß los?
Und dann, so wie ein Sonnenstrahl manchmal durch eine dichte Wolkendecke bricht, sah Julia plötzlich etwas Sonderbares: Jeder Mensch trug einen Schatz bei sich, den es zu beschützen galt. Einen wunderschönen Edelstein, den niemand sonst sehen konnte, der aber gleichwohl äußerst wertvoll war und unbedingt beschützt werden musste. Ein innerlicher Edelstein.
Sobald es zwei Menschen miteinander zu tun hatten, waren beide gleichermaßen besorgt, dass der andere ihren Schatz angreifen würde - selbst wenn das Gespräch sich um völlig andere Dinge drehte und vom Edelstein überhaupt nicht die Rede war. Letztendlich ging es immer und überall nur darum, den eigenen inneren Schatz zu verteidigen.
Julia wusste, dass diese Edelsteine in Wirklichkeit nicht existierten, dass alle Menschen sich lediglich einbilden, sie trügen eine derartige Kostbarkeit mit sich herum ... ohne die Täuschung überhaupt zu begreifen oder zu bemerken.
Julia begriff, dass das Ganze eine große Illusion war. Und dass diese Illusion die Menschen unglücklich machte.
Von diesem Tag an hörte sie auf, den inneren Edelstein zu beschützen. Sie hörte auf, stets im Recht sein zu wollen, gut und kompetent und perfekt erscheinen zu müssen. Sie musste sich auch selbst nicht mehr als unfehlbare Person begreifen. Dadurch konnte sie nun aufhören, sich ständig angegriffen zu fühlen durch Worte oder Handlungen ihrer Mitmenschen, denn das hatte jetzt nichts mehr mit ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Selbstachtung zu tun. Sie musste ihre Position und ihr Image nicht mehr verteidigen.
Und während sie sich sanft von diesen Illusionen verabschiedete, wurde sie immer glücklicher. Wenn jemand in ihrer Umgebung anfing, seinen eingebildeten Edelstein zu beschützen, konnte Julia darüber lächeln. Sie hatte begriffen, dass deren Aggression und Unhöflichkeit gar nichts mit ihr selbst zu tun hatten. Es ging solchen Rüpeln und achtlosen Menschen nur darum, den eingebildeten Schatz gegen einen eingebildeten Angriff zu verteidigen.
Julia lächelte, ging ihrem Tagewerk nach, wurde von Tag zu Tag zufriedener und versuchte, ihren Teil zu einer besseren Welt beizusteuern.
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(Nach einer Idee von Leo Babauta)
Foto: rgbstock
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