Dienstag, 1. November 2011

Bibel ≠ Wort Gottes

War es Martin Luther mit seinem Postulat sola scriptura? Oder reicht die Geschichte dieser Interpretation schon weiter zurück? Wo auch immer der Ursprung liegen mag, ich kann mich mit der Synonymisierung von »Bibel« und »Wort Gottes« nicht anfreunden.

Old Holy BibleWenn der Psalmdichter schreibt: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte«, dann hat er mit Sicherheit kein Buch im Sinn, das käuflich zu erwerben und als in sich abgeschlossen betrachtet wird. Wenn Paulus die Gemeinden ermahnt, beim oder im Wort Gottes zu bleiben, dann kann nicht die Rede davon sein, dass sein Brief dazugehört. Er schreibt zwar als Beauftragter Gottes, erteilt auch konkrete Anweisungen in der ihm verliehenen Weisheit, aber seine Zeilen sind für ihn nicht gleichzusetzen mit dem lebendigen oder geoffenbarten Wort Gottes.

Nun möge der geschätzte Leser dies nicht missverstehen. Ich finde es lehrreich und gut, die Bibel zu lesen, lese sie selbst gerne und aufmerksam. Ich kann mich aber der Lehre nicht anschließen, die sinngemäß so aussieht: Irgendwann in der Geschichte hat Gott genug davon gehabt, zu reden. Er beschloss, ein Buch zusammenstellen zu lassen, in dem alles steht, was der Gläubige wissen muss.
Diejenigen, die »Wort Gottes« mit dem gleichstellen, was gedruckt (oder elektronisch gespeichert) in zahlreichen Übersetzungen und Variationen als »Heilige Schrift« vorliegt, die unbedingte Treue zum Buchstaben dieses Buches für richtig und notwendig halten, berauben Gott der Möglichkeit, dass sein Wort auch heute noch lebendig sein, dass er auch heute noch etwas zu sagen haben könnte. Er darf nur noch durch die Zeilen sprechen, die uns vorliegen. Die werden dann, so die »bibeltreuen« Lehren, im Herzen des Lesers lebendig.

Was beziehungsweise wer nennt sich nicht alles biblisch und bibeltreu, ohne wirklich ernst zu nehmen, was geschrieben steht. Ein Beispiel? Bitteschön:
»Und wenn einem Mann der Samenerguss entgeht, dann soll er sein ganzes Fleisch im Wasser baden, und er wird bis zum Abend unrein sein. Und jedes Kleid und jedes Fell, worauf der Samenerguss kommt, soll im Wasser gewaschen werden, und es wird bis zum Abend unrein sein. … Und wenn ein Weib ihres Leibes Blutfluss hat, die soll sieben Tage unrein geachtet werden; wer sie anrührt, der wird unrein sein bis auf den Abend.«

Hand aufs Herz. Wann hast du zum letzten Mal den ganzen Körper gebadet und die Bettwäsche mit Wasser gewaschen und dich selbst für unrein erachtet (also dem Kollegen nicht die Hand zum Gruß gereicht), weil du ejakuliert hast? Oder, falls du eine Frau bist: Meidest du während und mindestens eine Woche nach der Monatsblutung jede Berührung eines Menschen, weil du denjenigen ja verunreinigen würdest? Oder gibst du trotz deiner Menstruation dem Nachbarn die Hand? Immerhin ist dies, dem biblischen Bericht zufolge, ganz ausdrücklich Wort Gottes, denn wir lesen als Einleitung: »Und der HERR redete mit Mose und Aaron und sprach: ...« Auch »bibeltreue« Christen sortieren offensichtlich das Wort Gottes nach Wichtigkeit für ihre Lebensgestaltung.

Nun wird der eine und die andere mich zurechtweisen: Das ist Altes Testament, das gilt nicht mehr. Wir leben im Neuen Bund, sind gerechtfertigt durch das Opfer Jesu Christi.

Damit bin ich völlig einverstanden. Ich halte mich ja selbst nicht an die beiden obigen oder die anderen der  613 Vorschriften, Regeln und Verbote, die im von Gott diktierten Gesetz, das in der Bibel als ewig und unveränderlich beschrieben wird, nachzulesen sind. Ich halte mich vielmehr an das, was das Konzil in Jerusalem abweichend vom Gesetz beschlossen hat, als es um genau diese Frage ging: Welche Gesetze, Vorschriften und Regeln gelten im Neuen Bund, für die »Heidenchristen«, also für die Gläubigen, die keine Juden sind? Der Beschluss war kurz, knapp und eindeutig: » ... dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von der Hurerei; so ihr euch vor diesem bewahrt, tut ihr recht. Gehabt euch wohl.« Paulus weicht das übrigens später seiner Gemeinde in Korinth gegenüber auf: »Alles, was feil ist auf dem Fleischmarkt, das esset, und forschet nicht, auf dass ihr das Gewissen verschonet.« Anders ausgedrückt: Was du nicht weißt macht dich nicht heiß/sündig. Also schau lieber nicht so genau hin.

Die Bibel enthält Berichte über das, was Menschen mit Gott erlebt, was sie über ihn gedacht, welche Schlüsse sie für das Leben daraus gezogen haben. Sie enthält gute und wichtige Hinweise für das Zusammenleben, den Umgang mit unseren Mitmenschen und unser Verhältnis zu Gott. Sie kann uns trösten, ermahnen, unseren Blick zurechtrücken; genauso wie sie uns irritieren und, falls wir sie wörtlich nehmen, auf schiefe Wege leiten kann. Oder hält jemand die Anweisung, sich ein Auge auszureißen oder eine Hand abzuhacken wirklich und ehrlich für einen gangbaren Weg, mit der Versuchung umzugehen? Das ist übrigens Neues Testament.

»Wort Gottes« ist für mich nicht das, was irgendwann irgendwo nach langer mündlicher Überlieferung niedergeschrieben und schließlich mehr oder weniger akkurat in mir verständliche Worte übersetzt worden ist. Die Bibel enthält zweifellos auch Wort Gottes - für spezielle Personen in bestimmten historischen Situationen genauso wie allgemein gültige Aussagen, aber der Gleichsetzung Bibel = Wort Gottes kann ich mich - schon wegen der oft widersprüchlichen Anweisungen und Berichte - nicht anschließen. Der Gott, an den ich glaube, kann auch heute noch reden. Durch Menschen, durch seine Stimme in meinem Inneren und durch vieles mehr. Er lässt sich nicht in die Seiten eines Buches einsperren, so gut und wertvoll dieses Buch auch ist.

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