Montag, 8. September 2008

Mein Leibgericht

Ich versprach gestern, dass es heute »in deutscher Zunge« weiter geht auf diesem Blog. Man kann sich ja etwas auf der Zunge zergehen lassen, bildlich oder im Wortsinn, wenn es ganz besonders wohlschmeckend ist. Insofern wünsche ich guten Appetit für diese kleine Geschichte, die ich vor etwa 12 Jahren geschrieben habe:


Ungeschriebene Aufsätze*: Mein Leibgericht 
Jana G., 9 Jahre alt

Mein Leibgericht habe ich meistens bei mir. Wenn es alle ist, dauert es nicht lange, bis wieder davon da ist. Es schmeckt mir sehr gut, sonst wäre es ja auch nicht mein Leibgericht. 

Ich muss es zwar immer heimlich essen, aber das macht nichts. Mal ist mein Leibgericht eher flüssig, mal eher fest. Der Geschmack ist aber immer gleich gut. Die Farbe wechselt auch, von weißlich-gelb zu grün, manchmal ist es auch fast bräunlich. 

Es macht nicht satt, dazu ist es viel zu wenig, aber es schmeckt eben so besonders und so gut. Und ich habe es ganz für mich: kein Mensch außer mir wird jemals davon essen.   

Niemand wird es zugeben wollen, aber ich weiß, dass ich nicht der einzige Mensch mit diesem Leibgericht bin. Viele essen ihre Popel.


*In der Serie »Ungeschriebene Aufsätze« schlüpfe ich in die Rolle von Schülerinnen und Schülern unterschiedlichen Alters und schreibe das, was sie schrieben, wenn sie es wagten, die nackte Wahrheit zu schreiben. In meiner Kurzgeschichtensammlung »Gänsehaut und Übelkeit« gibt es auch ein paar Episoden aus dieser Serie.