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In einem Kommentar zum vorigen Beitrag hatte ich ein längeres Kapitel angekündigt. Das war ein Irrtum. Diese Fortsetzung ist eine von den übersichtlicheren… Na so was.
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Eine Heimat
Sie stiegen weiter in die Berge empor.
Asthanthe und Anron hatten auf ihrer Wanderung viel geredet, konnten einander manche offene Frage beantworten und stießen dabei auf immer neue und größere Rätsel. Sie hatte ihm erzählt, durch welches Tor sie in diese neue Welt gekommen war. »Ich lebte in England, in der Nähe von Leeds. Mein Vater war ein arbeitsloser Trinker, meine Mutter eine verzweifelte Frau, die versuchte, ihre Tochter vor ihrem eigenen Ehemann zu schützen. Das klingt nicht sehr nett, und es war auch nicht nett zu Hause. Als ich zwölf war, fing er an, sich für mich zu interessieren auf eine Art und Weise, in der Väter sich niemals für ihre Töchter interessieren dürfen. Ich war ein ahnungsloses Kind, und nur den offenen Augen meiner Mutter habe ich es wohl zu verdanken, dass er mich nicht missbraucht hat, na ja, also zumindest hat er mich nicht vergewaltigt. Sie verließ ihn, als ich 14 war und zog mit mir nach Schottland. Wir lebten sehr einsam und in Armut, aber wir waren meinen Vater los, was uns beiden das Leben erträglicher machte.
Ich wuchs in einem kleinen Ort an der Küste auf, der Banff hieß. Nach der Schule fand ich keine Ausbildungsstelle, wir waren für die Schotten so etwas wie die Schwarzen in Amerika. Wir waren auf dem Papier gleichberechtigt, anerkannt, nicht diskriminiert, aber in der Praxis sah es oft anders aus.
Ich bekam Kontakt zu einer Gruppe von Jugendlichen, die einer ziemlich emotionalen wilden Freikirche angehörten, ich konnte mit dem ganzen Gejauchze und Gehüpfe nichts anfangen, aber sie waren die ersten in Schottland, bei denen ich mich angenommen fühlte. Auch meine Mutter fand Freunde zu der Gemeinde und wir fühlten uns zum ersten Mal wirklich wohl und zu Hause in Schottland. Es war eine schöne Zeit, trotz unserer Armut. Die Gläubigen halfen und unterstützten uns nach Kräften, wobei niemand dort wirklich reich war.
Kurz bevor unsere Welt in Schutt und Asche versank, hatte die Gemeinde einen Gastredner aus Argentinien, der eine Woche lang Abendversammlungen durchführte. Seine Predigten waren einfach und direkt. Er warnte vor einer nahen Katastrophe und forderte die Menschen auf, sich zu Gott zu bekehren.
Einige folgten den Aufrufen, die meisten aber nahmen seine schlichten, wenig intellektuellen Worte nicht sonderlich ernst. Immerhin hatten schon vor 2000 Jahren die Apostel das nahe Ende der Welt verkündet. Am letzten Abend der Woche gab es die Möglichkeit, sich von den Pastoren und dem Gastredner segnen zu lassen, und meine Mutter und ich gingen nach vorne zum Podium. Schaden konnte das ja nichts, dachte ich.
Der Argentinier sah mich an, schloss die Augen und flüsterte: »Nein, Herr, das kann nicht sein.«
Ich wartete einfach ab und verstand nichts. Mich konnte er ja mit Herr kaum gemeint haben. Vermutlich unterhielt er sich mit Gott. Schließlich machte er die Augen wieder auf und sagte: »Widersteht dem Bösen, so weicht er von euch. Sag ihnen, dass sie widerstehen müssen und hilf deinem Mann. Du wirst wissen, was zu tun ist.«
Du musst dir vorstellen, dass ich keinen Mann hatte, nicht einmal einen Freund, und nicht die geringste Ahnung, was kommen würde. Ich hielt den Prediger für etwas durchgeknallt, auf eine sympathische Art allerdings. Dann segnete er mich und meine Mutter und bat Gott um Kraft und Mut für unsere Zukunft.
Das geschah drei Tage, bevor ich das Tor fand. Wir wachten in jener Nacht auf, weil die Sirenen unaufhörlich heulten. Wir schalteten das Radio ein und erfuhren, dass die Welt in einen Krieg geraten war. Meine Mutter war sehr still, schließlich sagte sie: »Geh hinaus an das Meer, ich werde in Frieden zu meinem Erretter gehen.«
Ich wollte sie nicht verlassen, aber sie bestand darauf, dass dies Gottes Wille sei und so fügte ich mich, als sie schließlich fast handgreiflich wurde, damit ich endlich ging. Das sah ihr so gar nicht ähnlich. Ich kannte weder Gottes Willen noch Gott, hatte manches gehört in der kleinen Kirche, aber das war größtenteils so widersprüchlich und jenseits von jeglicher Vernunft, dass ich nichts damit anzufangen wusste. Meine Mutter bestand jedenfalls darauf, dass ich zum Strand hinunterging. Dort traf ich ein Wesen, das so unwirklich war, dass ich dachte, ich hätte alles nur geträumt, sei noch immer in einem Traum gefangen. Es wies mir den Weg zu einer abgelegenen Stelle, und als ich dort ankam, sah ich etwas, das wie ein Tor wirkte. Ich ging hindurch und landete in dieser Welt hier.«
Anron fragte: »Wie sah das Wesen am Strand aus?«
Sie beschrieb es als Zylinder, als silbrig schimmernde Säule.
»Und das Tor, waren da Bäume oder so etwas?«
»Nein, es war wie ein schimmernder Bogen in der Dunkelheit über dem Wasser. Ich habe ihn nicht berührt, ich weiß nicht, was es wirklich war. Ich kannte den Strand seit Jahren, auch bei Nacht, weil ich gerne dort schwimmen ging, wenn niemand sonst in der Nähe war. Eine solche Lichterscheinung hatte ich nie gesehen. Aber ich wusste irgendwie in jener Nacht, was zu tun war. Ich zog mich aus und watete in das Wasser. Dann fand ich mich in einem See wieder, der Tag brach an. Da bin ich nun.«
Sie erzählte weiter, wie sie zuerst von einem Begleiter geführt wurde, der ihr diese neue Welt ein wenig vertrauter machte und sie schließlich auf den Weg zu den Bergen schickte. Später, als sie alleine wanderte, traf sie immer wieder Wächter und Hüter, die ihr halfen.
Anron sagte: »Eins verstehe ich nicht. Du bist in England und Schottland aufgewachsen, warum sprichst du so perfekt Deutsch, als sei es deine Muttersprache?«
»Spreche ich Deutsch? Ich habe nie Deutsch gelernt. Ich glaube, wir reden in einer Sprache, die keinem Land gehört, ohne es zu merken. Bjora kam aus Spanien, hatte ihr Land nie verlassen, und doch versteht sie jedes Wort von dir oder mir, ganz zu schweigen von Bersan, den sie inzwischen auch ohne Worte gut versteht.«
»Du meinst, die babylonische Sprachverwirrung ist aufgehoben?«
»Ich kann es mir nicht anders erklären. Ich denke und rede wie früher, und doch verstehen wir uns. Du redest und denkst wie früher und merkst auch nicht, dass sich etwas geändert hat.«
Er nahm es hin, ohne es zu begreifen. Daran hatte er sich längst gewöhnt, dass manches nicht zu begreifen und dennoch eine Tatsache war. Sie erzählte weiter, wie sie zunächst Bjora und dann ihn und Bersan getroffen hatte.
»Bjora hat mir zu verstehen gegeben, woher sie kam, mit viel Raten und nach unendlichen Fehlversuchen bin ich endlich auf Spanien gekommen. Sie ist dort auf dem Land in einem kleinen Kaff aufgewachsen, ohne Schulbesuch, man hielt sie wohl für geistig zurückgeblieben, weil sie nicht sprechen konnte.«
Bjora und Bersan hatten ihre eigene Art entwickelt, sich auszutauschen. Oft, wenn es zur Verständigung ausreichte, begnügte sie sich nach wie vor mit Gesten und Zeichen, sie sprach mit ihrer Mimik und ihren Augen, aber sie lernte gleichzeitig das Alphabet, Worte aus Buchstaben zusammenzusetzen. Es gab immer wieder geeignetes Material wie eine helle Felswand und einen angekohlten Ast oder weiche weiße Steinsplitter, mit denen man auf dunkleres Gestein schreiben konnte.
Sie tauschten ihre Erlebnisse aus und ihre Gedanken und Hoffnungen für die Zukunft. Viele Fragen fanden keine Antworten, die Zeit würde offenbaren, was richtig war. Eine der Überlegungen, die kein Ergebnis fand, war die Gesundheit.
»Ich weiß nicht, ob wir vor Krankheiten sicher sind.« sagte Bersan. »Bjora kann nicht sprechen, aber das ist momentan das einzige, was an uns nicht vollkommen scheint. Keine Erkältungen, keine Magenprobleme, obwohl wir zum Teil Nahrung zu uns nehmen, die für unsere Körper ungewohnt ist. Viele Früchte habe ich hier zum ersten Mal gesehen.«
Anron dachte noch weiter. »Es ist sowieso unklar, ob wir älter werden oder nicht, wenn ja, wie schnell. Die Zeit läuft hier anders, oder wir sind anders in die Zeit eingebunden. Ich denke immer wieder darüber nach, ob dies tatsächlich ein neuer Anfang für die Menschheit sein soll, ob unsere Kinder und Enkel eine neue Bevölkerung darstellen werden. Und darüber, ob das genetisch gut gehen kann.«
»Wie meinst du das?« fragte Asthanthe.
»Wir sind zwei Paare, die voraussichtlich Kinder haben können. Angenommen wir haben jeweils einen Sohn und eine Tochter. Dann wird unser Sohn eure Tochter zur Frau nehmen und umgekehrt. Wenn sie dann wiederum Kinder haben werden, sind es doch immer noch nahe Verwandte, die dabei entstehen? Ich weiß nicht, ob das gut geht, ob es nicht genetische Schäden geben wird.«
Bjora schüttelte verneinend den Kopf und Bersan fragte: »Du meinst, sie werden gesund sein?«
Sie nickte.
»Ich habe mich manchmal gefragt, ob wir wirklich die einzigen Menschen sind und warum ausgerechnet wir«, meinte Asthanthe. »Wer hat uns ausgewählt, wer hat gesagt: Diese vier Menschen sollen es sein? Ein Soldat, ein Einsiedler aus dem Wald, eine arbeitslose junge Britin und eine Spanierin aus einem kleinen Dorf. Keine hochgestellten Leute, keine herausragenden Persönlichkeiten. Warum wir?«
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Fortsetzung folgt.