--- --- ---
»Schade, Bernd. Ich dachte, du wärest endlich derjenige, der verstehen würde. Habe ich mich so sehr in dir geirrt?« Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Es war sinnlos, Jessika etwas vorlügen zu wollen. Sie konnte seine Gedanken lesen, wenngleich sie das Gegenteil behauptet hatte. Aber warum sollte ein solches Geschöpf der Finsternis auch die Wahrheit sagen? Bernd hatte, als sie nach Hause kam, versucht, wie Tom Cullen in Steven Kings bestem Buch einfach nur M-O-O-N zu denken, aber das war gründlich schiefgegangen. Sie sah ihn kurz an, lachte vergnügt und sagte: »M-O-O-N, that spells Bernd hat endlich kapiert was Jessika ist?«
Er hatte kapiert. Zu spät. Viel zu spät. Und dann hatte er auch noch das Bier getrunken, das sie ihm gebracht hatte – offenbar mit irgendwelchen KO-Tropfen vermischt. Jedenfalls war er auf dem Sofa eingeschlafen und nackt auf dem Bett, ausgestreckt, Handgelenke und Fußgelenke an die Pfosten gefesselt, wieder aufgewacht.
Jessika saß auf seinen Schenkeln, gab ihm ausgiebig Gelegenheit, ein letztes Mal ihren makellosen Körper zu bewundern. Er schloss die Augen.
»Es muss nicht das letzte Mal sein, Bernd. Ich liebe dich, und ich möchte, dass es so weitergeht mit uns beiden. Warum auch nicht? Es gibt doch keinen Grund, das alles zu zerstören.«
»Du bringst Menschen um, Jessika.«
»Du auch.«
»In meinen Geschichten, ja, aber doch nicht in Wirklichkeit, nicht im echten Leben.«
Bernd öffnete die Augen wieder. Konnte es doch noch ein Entkommen geben?
Sie wirkte konzentriert, als wolle sie ihm tatsächlich das Unerklärliche erklären. »Warum verstehst du das bloß nicht? Es gibt keinen Unterschied. Deine Erzählungen sind so wirklich wie das, was die Tagesschau sendet oder die Zeitung druckt.«
»Nein, Jessika. Nein.«
»Dann bin ich auch nicht wirklich. Dann ist keine von uns wirklich.«
Bernd horchte auf. Gab es mehrere Jessikas? Oder was meinte sie mit der Pluralform? Er fragte: »Wer oder was seid ihr? Sag mir das, bevor ich sterbe.«
Jessika begann, sanft seinen Körper zu streicheln, voller Zärtlichkeit, Hingabe, Zuneigung.
»Wir sind immer da gewesen. Man nennt uns Musen, man nennt uns Boten oder Inspirationen, man gibt uns viele Namen. Aber die wenigsten Menschen glauben tatsächlich an uns, und noch viel weniger Menschen hatten jemals direkten Kontakt wie du, Bernd. Du bist ein Auserwählter, weil ich in dir etwas Besonderes gesehen habe, etwas was selten ist. Du liebst und lebst die Gestalten deiner Geschichten, du leidest mit ihnen, freust dich mit ihnen, ängstigst dich mit ihnen. Deshalb dachte ich, du würdest verstehen. Zusammenarbeiten.«
»Es ist grausam, Menschen umzubringen. Was haben Inspirationen oder Musen mit den echten Menschen zu tun, die du hast sterben lassen?«
»Es wäre noch grausamer, wenn es den Tod nicht gäbe.«
»Wie meinst du das?«
Er beobachtete erstaunt, dass sein Penis sich unter ihren sanften Berührungen aufrichtete. Damit hatte er in dieser Situation nicht gerechnet. Er war mit größter Wahrscheinlichkeit Minuten vom Tod entfernt, seine Henkerin saß auf seinen Oberschenkeln, das frisch geschärfte große Küchenmesser lag neben seinem Kopf auf dem Kissen… und sein Glied machte, was es wollte, als sei dies nur eine weitere vergnügliche Liebesnacht. Kein Leser würde ihm so etwas glauben, wenn er es in eine Geschichte geschrieben hätte.
Jessika lächelte. Noch immer, trotz allem, verzauberte ihn dieses Lächeln. Sie fuhr fort: »Du bist einer von den Menschen, deren Aufgabe darin besteht, den Rest der Menschheit auf den Tod vorzubereiten. Alle Schriftsteller haben nur diese eine Aufgabe. Wir bringen die Menschen ins Jenseits. Das ist unsere Aufgabe. Und ich glaube immer noch, dass wir beide wunderbar zusammenarbeiten könnten.«
Bernd schüttelte den Kopf. »Das ist Unsinn. Ich kenne einige Autoren, und keiner sieht seinen Job so.«
»Das wissen wir«, entgegnete sie sanft, während sie mit ihrem Becken etwas weiter hinauf rutschte, »dass ihr es nicht wisst. Oder zumindest die meisten Autoren wissen es nicht. Einige ahnen es immerhin, nach vielen Jahren des Schreibens. Alle Literatur dient diesem Zweck, meist ohne Wissen des Schriftstellers. Ein Liebesroman, voller Kitsch, entsetzlich in der Wortwahl, schenkt seinem meist aus älteren Frauen bestehenden Publikum die Illusion, im Leben etwas für die Ewigkeit geleistet zu haben, irgendwo dort drüben eine Belohnung erwarten zu dürfen. Wenn dann hier das Leiden zunimmt, wächst die Freude auf das Jenseits. Die großen Romane der größten Schriftsteller - alle haben das gleiche Ziel, für unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise. Auch diejenigen, die sogenannte Gebrauchsliteratur schreiben, tun das Gleiche, nur eben für andere Leser. Ob nun durch Ausmalen des Grauens, das passieren kann oder durch Erhebung des Jenseitigen oder durch Aufwertung des eigenen Leserlebens: Die Angst vor dem Tod mindern, das ist der wahre Zweck der Literatur. Und der Künste überhaupt.«
Bernd begann, zu begreifen, was sie meinte: Die Engel des Todes, die Herbeiführer des Lebensendes versuchten, ihrer Arbeit den Schrecken zu nehmen, und sei es, indem Autoren wie er Unheil in blutroten Lettern vor die Augen der Leser malten. Aber er verstand immer noch nicht ganz, wer oder was Jessika war.
Sie beantwortete die unausgesprochene Frage, während sie sich auf ihn legte. Ihre Lippen nah an seinem Ohr murmelte sie zärtlich: »Du liebst mich, Bernd, sogar jetzt, wo du Angst hast. Dabei brauchst du keine Angst zu haben. Du wirst sterben, heute oder später, Menschen sind nun einmal sterblich. Alles ist sterblich, was auf dieser Welt, die euch so viel bedeutet, existiert. Und wir Musen, unsere eigentliche Aufgabe ist es seit jeher, das Gleichgewicht zwischen Tod und Leben zu wahren. Wir sind nicht nur zur Inspiration der Künste hier, sondern auch zur Ausführung des Lebensendes. Ich war immer gnädig dabei, ich habe immer versucht, die Menschen, deren Zeit gekommen war, in einem Augenblick des Glücks über die Schwelle zu führen.«
»Auch den kleinen Jungen im Sandkasten?«
»Ja, er war glücklich. Uneingeschränkt glücklich. In wenigen Monaten hätte man ein Nephroblastom diagnostiziert.«
»Der Busfahrer und seine Passagiere?«
»Der Busfahrer erlebte gerade, wie ein Traum wahr wurde. Die Passagiere haben nichts kommen sehen, daher hatten sie zumindest keine Angst. Und Schmerzen sowieso nicht.«
»Familie Aksu?«
»Das Unglück mit dem Fahrstuhl hat sie davor bewahrt, beim geplanten Urlaub in der Heimat von radikalen Islamisten verschleppt zu werden.«
»Und der Handelsvertreter? Hast du ihm wirklich bei lebendigem Leib Organe aus der Bauchhöhle geschnitten?«
Ihr Gesicht wurde eine Spur härter, aber ihre Augen sahen weiter voller Liebe und Zärtlichkeit in seine.
»Ja, und das war eine der Ausnahmen. Ich war nicht gnädig. Im Gegenteil. Dieser Mann hatte drei Kinder auf dem Gewissen, deren Zeit noch nicht gekommen war. Er hat die kleinen Mädchen, das jüngste war sieben Jahre alt, das älteste zwölf, vergewaltigt und dann erdrosselt. Ich wollte, dass er leidet. Er hat gelitten.«
Bernd kam nicht umhin, der Logik zu folgen. Jessika war zwar offensichtlich eine Wahnsinnige, aber ihr Irrsin folgte einer inneren Ordnung. Er brauche nicht sterben, hatte sie gesagt. Vielleicht sollte er ihr Spiel mitspielen?
»Und was sollte meine zukünftige Rolle sein?«, fragte Bernd.
»Nichts anderes als bisher. Schreiben, was die Leute lesen müssen, damit sie glauben, dass ihr eigener Tod im Vergleich zu deinen Geschichten geradezu eine Wohltat ist. Das ist alles. Es liegt nur an dir, Bernd, ob deine Erdenzeit weiterläuft oder nicht.«
Er schwieg eine Weile und genoss die langsamen, wohltuenden Bewegungen ihres Körpers. Er dachte darüber nach, ob die Polizei eines Wesens wie Jessika überhaupt habhaft werden konnte. Er überlegte, ob ihr Tun wirklich verwerflich war, denn sterben mussten alle Menschen, da hatte sie recht gehabt. Und er liebte sie, nach wie vor, mehr als er jemals glaubte, lieben zu können.
»Ich liebe dich auch, Bernd. Ich möchte, dass du alt wirst, sehr alt, und dass du glücklich bist bis zum Ende.«
»Bleibst du bei mir? Schreiben wir zusammen weiter vom Tod, vom Schrecken, vom Grauen? Machen wir weiter den Lesern Angst, damit sie die Angst vor dem eigenen Tod vergessen?«
»Ja, Bernd. Ich bin Jessika. Du hast mich nicht erfunden, aber du hast mir diese Gestalt gegeben. Ich bin – in dieser Form, die du so liebst – aus deinem Schreiben, deinem Träumen entstanden. Ich bin für dich geschaffen wie du für mich geschaffen bist.«
»Okay. Ich kann damit leben, Jessika.«
Sie bewegte sich etwas stärker, schneller, als sie spürte, dass sein Orgasmus kurz bevor stand. Im Augenblick der höchsten Lust, schnitt sie ihm mit einer gekonnten und raschen Bewegung die Kehle durch, tief und tödlich, er litt nicht, er begriff nicht einmal mehr, was geschah.
»Du hast es verdient, so glücklich zu sterben.« flüsterte sie und strich ihm liebevoll über die Wangen. »Ich werde noch lange an dich denken.«
Jessika schlenderte über den Kurfürstendamm. Sie dachte an Bernd. Er war ihr schwerster Fall gewesen, denn sie hatte zum ersten Mal erlebt, was wahre Liebe sein konnte. Sie lächelte wehmütig.
»Vielleicht bist du nicht tot, Bernd. Vielleicht denkt sich jemand uns beide aus und holt uns irgendwann wieder hervor für ein neues Leben.«
Ihr Gesicht wurde drohend und hart. Sie blickte mich finster an. »Und wage es ja nicht, nur Bernd zurückzuholen! Wage es nicht!«
--- --- ---
Ich speicherte am Freitag, dem 23. April, das letzte Kapitel der Geschichte und stellte die Publizierung im Blog auf Montag, 26. April, 01:01 Uhr ein. Ich las noch einmal die ersten Teile, dann den Schluss. Das bestärkte mich in meinem Beschluss, den Namen Jessika aus meinem Wortschatz zu streichen. Sie hatte mir Angst gemacht, echte Angst. Sie hatte mich fasziniert. Elvis fiel mir ein: You look like an angel, talk like an angel … but I got wise: You’re the devil in disguise. Die Geschichte hatte sich selbst geschrieben, fast ohne mein Zutun, gelenkt auch von den Leserabstimmungen, aber auf jeden Fall ohne Mühe. Jetzt hatte ich jedoch die Nase voll von Jessika und ihrem Treiben. Und von Bernd, den die Leser zwar knapp, aber immerhin mehrheitlich tot sehen wollten. Mir war es recht.
Am Samstag fand ich eine Postkarte im Briefkasten. Eine sonnendurchflutete italienische Landschaft auf der einen Seite, auf der anderen meine Adresse in sauberen, wohlgeformten Buchstaben. Eine schöne Schrift, sehr angenehm für das Auge, weiblich, formvollendet. Der Poststempel war aus Parma – wir dachten gerade über einen Sommerurlaub dort nach. Eine Absenderadresse gab es nicht.
Neben meine Anschrift war nur ein rotes Herz gemalt; unter dem Herz standen drei Worte: Liebe Grüße, Jessika