»Es geht mir gut«, sagt der eine. »Es geht ihr sehr schlecht«, beurteilt jemand den Zustand einer anderen. Dabei mag letztere Dame selbst der begründeten Meinung sein, es ginge ihr gut, während der Erstgenannte aus der Sicht seiner Mitmenschen ziemlich erbärmlich dran sein könnte. Und alle haben irgendwie gleichzeitig recht. Die Ampel leuchtet nicht einfach rot oder grün, nein nein, so leicht ist es nun einmal nicht.
Während der Wochen im Krankenhaus ging es mir nicht gut, objektiv gesehen zumindest, denn wenn es jemandem gut geht, besteht in der Regel keine Veranlassung für einen Aufenthalt im Krankenhaus, Pflege auf der Intensivstation oder Durchführung einer vierstündigen Operation. Doch ging es mir mehrmals durch den Kopf, dass es mir mit einigen Mitpatienten verglichen richtig gut ging.
Da war der Komapatient, der Wochen zuvor aus der Narkose nicht wieder zu sich gekommen war. Täglich bekam er Besuch von seiner Frau, meist kam auch der Sohn. Die beiden erzählten ihm, was sich so im Alltag ereignete, wer einen Brief oder eine Karte geschrieben hatte, wie sich im Garten die ersten Knospen zeigten. Und der Patient reagierte nicht, nicht einmal ein Zucken des Mundes oder eines Fingers konnte als Zeichen gedeutet werden, dass er irgend etwas mitbekam. Die Pflegekräfte sprachen ebenfalls mit ihm, erklärten jeden Handgriff. »Ich wechsle jetzt den Verband … wir drehen Sie jetzt auf die andere Seite … das wird jetzt kalt auf der Haut, wegen des Desinfektionssprays … ich muss Ihnen Blut abnehmen, das piekst gleich ein wenig.« Ich vermochte nicht zu sagen, wer mir mehr leid tat, der Patient oder seine Familie. Aber verglichen mit diesem Mann ging es mir gut.
Da war die serbische Frau auf der Intensivstation (dort werden die Räume nicht nach Geschlechtern getrennt belegt), die wohl nichts oder nur ein paar rudimentäre Brocken von dem verstand, was Ärzte oder Pflegepersonal ihr sagten oder von ihr wissen wollten. Sie war, wenn sie nicht schlief, stets und ausschließlich schlecht gelaunt, brüllte vernehmlich »will nix haben!« oder »nein!«, sobald jemand sie berührte, versuchte ständig, sich vom zentralen Venenkatheder oder anderen medizinischen Vorrichtungen zu befreien … Besuch hatte sie niemals, so lange ich auf der Intensivstation war. Eine der Putzfrauen konnte ein paar Worte mit ihr wechseln, das war alles, was an Kommunikation gelang.
Da war der Patient auf der Chirurgie, der Tag und Nacht, rund um die Uhr, alle zwei Stunden (zu Hause mit Hilfe seiner Frau) seinen künstlichen Darmausgang reinigen und den Auffangbeutel wechseln musste. Seit inzwischen sechs Monaten. Man muss sich das vorstellen: Schlafen gehen mit dem Wissen, dass in zwei Stunden der Wecker klingelt. Weiter schlafen mit dem gleichen Wissen. Egal, wo man ist, was man tut oder nicht tut, alle zwei Stunden … fürchterlich. Er wurde am Tag meiner Entlassung aufgenommen, wir lernten uns nur flüchtig kennen. Es sollte nun der zweite operative Versuch unternommen werden, den natürlichen Darmausgang wieder zu aktivieren, eine vorangegangene Operation hatte nicht das erhoffte Ergebnis gehabt. Verglichen mit diesem Mann ging es mir, da mir der künstliche Darmausgang erspart geblieben und die Operation ohne nachträgliche Komplikationen verlaufen war, rundum gut.
Da waren noch so manche anderen Patienten, deren Schicksal mir so leid tat, dass mir mitunter das Herz schwer wurde, weil ich nichts tun konnte, um ihren Zustand auch nur ein wenig zu verbessern. Mein Mitleid machte es auch nicht besser für diese Menschen, aber es schärfte mir den Blick für die eigene Situation und die vielen oft so klein scheinenden Schritte zur Genesung, die ich an mir beobachten konnte: Gestern konnte ich nur zehn Minuten auf den Beinen sein, heute schon 15. Gestern habe ich das Joghurt wieder erbrochen, heute blieb es im Magen.
Wann geht es einem Menschen also gut, wann geht es ihm schlecht? Und wie geht es mir heute?
Gut, würde ich sagen, verglichen mit diesem oder jenem Mitmenschen. Zwar liegt vor mir womöglich noch eine Chemotherapie, deren Nutzen zweifelhaft, deren Nebenwirkungen felsenfest sicher sind – falls ich mich ihr unterziehe. Seit heute erst habe ich die schriftlichen Befunde (die zu verstehen und zu interpretieren mir als medizinischem Laien nicht gelingt). Nächste Woche werde ich mit meinem Hausarzt und dann gegen Ende der Woche mit Fachärzten über die Befunde und Sinn und Unsinn der Chemotherapie reden können. Das liegt vor mir, womöglich. Vor mir liegt auch ein Leben mit der Möglichkeit, dass der Krebs irgendwann irgendwo im Körper wieder auftaucht. Das muss nicht so sein, ich bin auch zuversichtlich und voller Hoffnung, dass es nicht passiert – aber die Wahrscheinlichkeit ist nun einmal größer als bei einem Menschen, der noch nie Krebs hatte. Dennoch: Es geht mir gut, verglichen mit anderen Menschen, die zum Beispiel mitten im Bürgerkrieg in Syrien leben, in Japan den Folgen der Atomverstrahlung nach dem Tsunami wehrlos ausgeliefert sind, Opfer von Gewalttaten oder Unfällen werden … Tag für Tag und überall gibt es schlimmere Schicksale als meines.
Daher geht es mir gut. Darum habe ich genug Grund, dankbar zu sein, mich zu freuen, Gutes ganz bewusst zu genießen und Alltägliches zu schätzen, weil es zwar alltäglich, aber nicht selbstverständlich ist.
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