Sehr geehrter Herr Paulus von Tarsus!
Bevor ich heftig gescholten werde, will ich eingestehen, dass es natürlich unfair ist, Ihnen einen offenen Brief zu schreiben. Sie sind bereits rund 2000 Jahre tot und können, soweit meine Kenntnisse reichen zumindest, nicht antworten. Daher erwarte ich auch von Ihnen, werter Herr Paulus von Tarsus, keinerlei Replik.
Darüber hinaus ist es ja strittig, welche der Ihnen zugeschriebenen Texte in jenem Buch namens Bibel überhaupt von Ihnen stammen. Verzeihen Sie daher alle Anmerkungen meinerseits zu Briefen, die Sie nie verfasst haben. Sie können selbstverständlich nichts dafür, falls viele Jahre nach Ihrem Ableben irgendwelche Kirchenfürsten nach Gutdünken Schreiben verfassen und den Namen Paulus darunter setzen. Außerdem sind einige der Briefe, die wirklich aus Ihrer Hand stammen, werter Herr Paulus von Tarsus, uns nicht erhalten geblieben. Oder sie lagern in vatikanischen Archiven, weil die Inhalte mit der offiziellen Kirchenlehre kollidieren würden. Womöglich haben Sie ja selbst manches relativiert oder korrigiert? Falls ja, dann ist das heutzutage leider nicht mehr bekannt.
Und noch eins sei vorausgeschickt. Sie konnten selbstverständlich nicht ahnen, dass Ihre Schreiben an diverse Personen und Gemeinden Jahrhunderte später ausgesucht und mit den Texten anderer Autoren gebündelt und als »Wort Gottes« bezeichnet werden würden. Sie haben ja gelegentlich selbst angemerkt, dass Sie nur Ihre persönliche Meinung und nicht etwa eine göttliche Weisung zu Papier bringen ließen. Es ist also mit Sicherheit nicht Ihnen anzulasten, dass in einigen Kirchen paulinisches Wort mit göttlichem Wort gleichgesetzt wird. Und ich kann mir sogar vorstellen, dass Sie manches nicht zur Veröffentlichung freigegeben hätten - zumindest nicht ohne Anmerkungen und Erklärungen, wenn Sie geahnt hätten, dass Ihre Schreiben in einem noch 2000 Jahre später erhältlichen Buch landen.
Nun aber zu dem, was mich zum Schreiben dieses offenen Briefes veranlasst: Sie haben der Gemeinde in Korinth gegenüber recht deutlich gemacht, dass Sie die Sexualität des Menschen für ein leider zur Fortpflanzung notwendiges Übel hielten. Trotz der Tatsache, dass Sie noch zu Lebzeiten mit der Wiederkunft Jesu Christi gerechnet haben, kann ich nicht nachvollziehen, warum Sie den Jugendlichen von erotischen Beziehungen abgeraten haben. Meinten Sie wirklich, dass Sex in der Lage ist, den Glauben an Gott den Vater und Jesus Christus, seinen Sohn zu zerstören?
Aus Ihrer eigenen Leibfeindlichkeit haben Sie ja keinen Hehl gemacht. Sie haben sich sogar damit gebrüstet, dass Ihr Körper so allerlei Unbill auszuhalten hatte und dass Sie trotzdem nicht vom Weg der Nachfolge abgewichen sind. Aber war es angebracht, von sich auf andere zu schließen? Einerseits haben Sie sich, was Speisevorschriften und Feiertage betrifft, deutlich vom den Juden überlieferten Gesetz abgewandt, andererseits wollten Sie den Christen in Korinth die Einhaltung jüdischer Moralgesetze vorschreiben ... und darüber hinaus sogar Enthaltsamkeit als frommes Nonplusultra empfehlen.
Es mag natürlich auch daran liegen, dass die meisten Menschen (in meinem Kulturkreis zumindest) Ihre Briefe nicht in der Sprache lesen können, in der sie geschrieben wurden. Wir sind auf Übersetzungen und Überarbeitungen von Übersetzungen angewiesen, so dass es natürlich zu abweichenden Begriffen und damit bei uns verbundenen Vorstellungen kommen kann. Wenn wir in Ihren Schreiben das Wort »Unzucht« entdecken, dann mag es sein, dass wir an etwas ganz anderes denken als Sie beim Verfassen. »Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.« Da denkt man heutzutage gleich: Dieser Schreiberling predigt die Askese. »Tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist. Um solcher Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams.« Da sehen wir den grimmig dreinblickenden alten Herrn, der Gott darstellen soll, der kaum anderes zu tun hat, als misstrauisch die Menschen hauptsächlich bezüglich des Geschehens unterhalb der Gürtellinie zu beäugen. Weiter lesen wir: »Aber um Unzucht zu vermeiden, soll jeder seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann. ... Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten. ... Also, wer seine Jungfrau heiratet, der handelt gut; wer sie aber nicht heiratet, der handelt besser.«
Ein notwendiges Übel, diese Beziehung mit dem eigenen Mann, der eigenen Frau. Dient nur dazu, Unzucht zu vermeiden, wenn sich jemand nicht jeglicher erotischer Regungen enthalten kann. So so. Und vom künftigen Wohlverhalten der Briefempfänger machen Sie es gar abhängig, wie Sie beim nächsten Besuch auftreten: »Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und sanftmütigem Geist?« Das passt so gar nicht zum Evangelium, in dem doch von Gnade, Vergebung und dem Kommen des Reiches Gottes die Rede ist. Im Übrigen widersprechen Sie sich dann auch noch selbst, wenn Sie schreiben: »Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.« Ihnen ist alles erlaubt - den Brieflesern wollen Sie so manches verbieten.
Ich bin, sehr geehrter Herr Paulus von Tarsus, fast sicher, dass Sie manche dieser Äußerungen heute nicht so von sich geben würden. Vor allem nicht, wie bereits gesagt, wenn Sie geahnt hätten, dass man Ihre Zeilen irgendwann in einigen christlichen Kreisen als »Wort Gottes« bezeichnen und lehren würde. Das hat zu sehr viel Leid, sehr viel Ungerechtigkeit und sehr viel Ablehnung des Evangeliums durch an und für sich interessierte Menschen geführt. Leider. Und in Gott sei Dank vergangenen Jahrhunderten sogar zu Folterungen und zum Mord im Namen Gottes. Pfui Teufel!
Es scheint mir, da Ihre Texte nun einmal so überliefert sind wie wir sie vorfinden, angebracht, Ihnen zu widersprechen. Sie waren ja zu Lebzeiten kein Feind von Diskussionen, obwohl Sie dazu neigten, das letzte Wort haben zu müssen und notfalls auf Ihr Amt zu verweisen. Aber immerhin haben Sie sich andere Meinungen angehört.
Ich halte es nicht für richtig, die Sexualität des Menschen als lediglich zur Fortpflanzung leider notwendiges Übel zu betrachten. Wenn wir davon ausgehen, dass Gott, der Vater im Himmel, den Menschen gewollt und erschaffen hat, wäre es ihm ja ein leichtes gewesen, die Fortpflanzung auf eine Weise sicher zu stellen, die mit Emotionen, Orgasmus und Leidenschaft nichts zu tun hat. So etwa wie bei den Pflanzen … kommt ein Insekt geflogen und bringt männlichen Samen, der natürlich ohne Erektion und Ejakulation erreichbar ist, zur weiblichen Eizelle, die keinerlei erotische Erlebnisse braucht, um befruchtet zu werden.
Nein, werter Herr Paulus von Tarsus, unsere Geschlechtsorgane sind so geschaffen, dass sie uns schon in jungen Jahren und dann ein Leben lang angenehme Empfindungen bis hin zur Ekstase, viel Freude und immer wieder neues Vergnügen bescheren. Und der Schöpfer dieser Geschlechtsorgane heißt nicht Satan. Wenn jemand wie offenbar Sie selbst ein asexueller Mensch ist, dann sei ihm das unbenommen. Aber ein solches Leben hätten Sie nicht zum Nonplusultra erheben dürfen – selbst wenn Sie nicht ahnen konnten, was daraus im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende wird.
Abschließend will ich es nicht versäumen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass vieles in Ihren uns überlieferten Texten keinerlei Einwände oder Anmerkungen bei mir auszulösen vermag - häufig vermag ich bei der Lektüre ja und amen zu sagen. Bei anderen Autoren ist das übrigens nicht anders, seien es nun Texte in jenem Buch namens Bibel, von dem Sie, werter Herr Paulus von Tarsus noch nichts wussten, seien es andere Schriften.
Mit freundlichen Grüßen in die Vergangenheit,
ein Leser Ihrer Schriften.
P.S.: Zitate aus der Luther-Bibelübersetzung
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