Es begab sich aber zu der Zeit, als die Abreise nahte, dass wir uns einen Tag am Meer gönnen wollten. Großstadtgetöse, Ruinen, erhabene Bauwerke, großzügig angelegte Parkanlagen und pittoreske Gassen hatten wir drei Tage lang genussreich durchstreift. Da Wetter geizte weiterhin nicht mit Sonne und Sommerhitze, obwohl auch in Italien der Kalender bereits seit Tagen auf Oktober geblättert worden war.
Auf Fiumicino fiel unsere Wahl, aus praktischen Erwägungen. Dort angekommen befanden wir uns dann in einer Welt, die hervorragend als Inspiration für einen Horrorfilm oder ein Buch jener Art, die man vor dem Schlafengehen lieber nicht zur Hand nehmen sollte, taugen würde. Nichts ist in dieser kleinen Stadt, was es zu sein scheint und ein Entrinnen ist so einfach nicht.
Ein Bus hatte uns vom Flughafen in den Ort transportiert, im Vorbeifahren sahen wir entlang der Hafenpromenade zahlreiche Restaurants mit schmucken Tischen und Stühlen im Freien, freuten uns schon darauf, am späten Nachmittag dort irgendwo Platz zu nehmen und vor der Rückkehr zum Flughafen eine letzte gemütliche Mahlzeit der italienischen Variante einzunehmen. Bis zum Abflug kurz nach 22 Uhr blieb eine Menge freie Zeit.
Wir spazierten zunächst auf die Mole hinaus, vorbei an Fischerbooten, zum Trocknen ausgelegten Netzen und zahlreichen Anglern. Die Sonne schien, die Temperatur lag bei 30 Grad im Schatten. Das Meer, so hofften wir, würde uns ein wenig Abkühlung bringen, falls es in der Nähe irgendwo einen Strand geben sollte.
Von der Spitze der Mole aus war jedoch erkenntlich, dass vor der Stadt ausschließlich Felsen und Steine das Wasser vom Land trennten. Jedoch lag ein gutes Stück entfernt, wir schätzten zu Fuß dreißig oder 40 Minuten, gelb und grün schimmerndes Ufer. Ob dort Menschen waren, Badende womöglich, war aus der Entfernung nicht zu erkennen. Zwischen uns und den vielversprechenden Uferabschnitten lag ein Industriegelände.
Der Weg von der Mole zum anvisierten Ziel war schattenlos und mühselig. Um das industrielle Areal zu umgehen, war ein gehöriger Umweg notwendig. Wegen der Felsbrocken am Ufer war eine Wanderung am Meer entlang mangels eines Weges ausgeschlossen. Doch gut zu Fuß, wie wir nun einmal sind, hatten wir nach rund vierzig Minuten an den übermannshohen Mauern und den mit Sichtblenden versehenen Toren entlang das Gelände umrundet. Was mochte dort, so sorgsam vor jedem Blick geschützt, vor sich gehen? Wurden in den hoch emporragenden, fensterlosen runden Bauten gefangengenommene Touristen gefoltert oder zu medizinischen Versuchen missbraucht? Oder war dies ein militärisches Objekt? Beschildert war nichts, eigentlich ungewöhnlich in einem Land, in dem jede Firma ihren Namen so groß wie möglich an Fassaden und auf Plakaten zur Schau stellt. Zu gerne hätte ich einen Blick auf das Verborgene geworfen …
Vor uns lag nun der Strand, der aus der Ferne so verlockend ausgesehen hatte. Eine geschwungene Bucht. Sand gab es, allemal, aber auch jede Menge Dreck, Müll und Gerümpel. Zerrissene, verschmutzte Decken und Kleidungsstücke, Getränkedosen und -flaschen, Hausrat vom löchrigen Eimer über zerschlagenes Geschirr bis zu ihrer Beine beraubten Sitzmöbeln. Ein gebrauchtes Kondom zwischen weggeworfenen Taschentüchern und Speiseresten. Holzplanken, Trümmer undefinierbarer Herkunft, verbogene und löchrige Sonnen- sowie Regenschirme. Wir spazierten, die Füße von den angenehm warmen Wellen des Meeres umspült, fassungslos die Müllhalde entlang. Mal eine weggeworfene Flasche oder eine vergessene Decke - das wäre ja noch angegangen, aber dieser Strand war mit Unrat übersäht. Und dazwischen, auf von der Sonne gebleichten Baumstämmen oder sonstigen gerade paraten Unterlagen, saßen hier und dort die Strandbesucher. Herren überwiegend, nur eine Dame war zu sehen. Man genoss hier - was mich noch nie und nirgends gestört hatte - den Aufenthalt textilfrei, was uns in diesem Fall insofern entgegenkam, als wir vergessen hatten, die Badebekleidung vor der Deponierung des Gepäcks am Flughafen aus selbigem zu nehmen.
Wir hatten die Bucht rund zur Hälfte hinter uns gelassen, als wir ein verhältnismäßig wenig von Dreck und Müll übersätes Fleckchen fanden. Ein Baumstamm bot notdürftig Platz zum Sitzen, also entledigte ich mich kurz entschlossen meiner Kleidung und begab mich zur raschen Erfrischung in das kristallklare Wasser. Wir waren inzwischen mehr als eine Stunde zu Fuß in der Mittagshitze unterwegs gewesen - das Bad war wohltuend. Allerdings war die Stelle, da weit und breit nur Männer zwischen dem Müll saßen, die nichts zu tun hatten als uns zu beobachten, für die beste aller Ehefrauen eher ungeeignet, um sich ebenfalls zu erfrischen. Ich ließ meine Haut in der Sonne auf dem Baumstamm sitzend trocknen, zog mich wieder an und wir gingen auf der Suche nach einer Badestelle, die weniger mit einem Präsentierteller gemein hatte, weiter am Strand entlang dem Ende der Bucht entgegen. Es schien dort, aus der Entfernung betrachtet, so etwas wie ein Café zu geben, jedenfalls ein Gebäude direkt am Wasser, womöglich konnte man dort ja Getränke erwerben.
Das Gebäude erwies sich als Ruine, eingezäunt, mit handgeschriebenen Schildern dekoriert, die darüber aufklärten, dass dies Privatgelände und das Betreten verboten sei. Hinter einer Lücke im Zaun saß eine Frau auf einem Klappstuhl, eine Zeitschrift in der Hand, die sie zu lesen schien. Jenseits des eingezäunten Gebietes, an dem man nur schwimmend vorbeigekommen wäre, da der Zaun bis in das Wasser hinein reichte, war nun eine weitere Bucht mit Sandstrand zu erkennen, die einen etwas saubereren Eindruck erweckte. Um dort hin zu gelangen, war ein - den Schildern gemäß verbotenes - Durchqueren des Besitztums notwendig, das die Frau of dem Klappstuhl, obwohl sie uns bisher keines Blickes gewürdigt hatte, wohl bewachte. Scusi ..., versuchte die beste aller Ehefrauen die Aufmerksamkeit der Dame zu erwecken. Signora? Scusi! Keine Reaktion. Schlief die Dame? War sie gar keine Dame sondern eine Leiche? Bleich genug sah sie aus, trotz der Sonne, in der sie wer weiß wie lange schon saß. Vorsichtig setzten wir einen Fuß auf verbotenes Terrain. Es waren ja nur 20 Schritte zum Loch im Maschendrahtzaun auf der anderen Seite. Da wir auf dem ersten Meter weder erschossen, noch von einer geifernden Bestie aus dem Hinterhalt angefallen wurden, schlichen wir uns so schnell wie möglich an der Schlafenden oder Leiche oder Außerirdischen vorbei und atmeten auf, als wir auf dem Sand der nächsten Bucht standen.
Auch hier gab es vereinzelt Sonnenhungrige, allerdings mit Badebekleidung, vom baren Busen einer jungen Dame einmal abgesehen, aber andererseits so viel Platz zwischen den Besuchern, dass man sich relativ unbeobachtet fühlen konnte. Unrat und Müll waren hier deutlich reduziert. Eine halbe Tischplatte diente uns als Sitzgelegenheit und nun konnte auch die beste aller Ehefrauen die Labsal des Eintauchens in die Meeresfluten genießen.
Zurück zur Ortschaft Fiumicino auf dem gleichen Weg? Nein, nicht noch einmal durch das verbotene Grundstück an der mittlerweile womöglich erwachten Leiche vorbei und dann über die Müllhalde zum rätselhaften Industrieobjekt. Ein Stück voraus gab es ein paar Häuser, also vermutlich auch eine Straße nach Fiumicino. Zu unserer großen Freude barg eines der Gebäude eine Bar mit einem kleinen schattigen Hof, in dem Tische und Stühle zum Verweilen einluden. Mehrere Männer spielten Karten, lautstark und offenbar mit großem Vergnügen, an einem anderen Tisch diskutierten andere Männer Gewichtiges, den Minen und erhobenen Stimmen nach zu urteilen. Italienische Frauen sind vermutlich eher zu Hause zu finden als an Stränden oder in Bars. Wir erfrischten uns nun auch inwendig mit gut gekühltem Trunk und strebten dann durch menschenleere Dorfgassen der vermuteten Straße zu, die uns zurück nach Fiumicino führen sollte. Es gab sie tatsächlich, und an einer notdürftig als Bushaltestelle erkenntlichen Stelle warteten zwei oder drei Menschen. Natürlich war weit und breit kein Tabakladen zu sehen, in dem man hätte Fahrkarten erwerben können, dafür kam ein Bus in Sicht und hielt. Wir stiegen, nachdem der Fahrer versichert hatte, in die gewünschte Richtung unterwegs zu sein, zu und fanden im Bus einen Automaten vor, aus dem man Tickets ziehen konnte, was uns vor dem Verbrechen des Schwarzfahrens bewahrte.
Nun stand uns der Sinn nach der schon Mittags avisierten Mahlzeit. Jedoch: Das erste Restaurant war zu, die Tische und Stühle verwaist. Nicht weiter schlimm, es gab ja entlang der Kaimauer eine ganze Reihe von Gaststätten ... doch auch die zweite war geschlossen, ebenso die dritte und alle weiteren. Um 17:30 Uhr konnte man in Fiumicino nicht essen gehen. Um 17:45 auch nicht. Um 18:00 immer noch nicht.
Nichts war an diesem Tag, an diesem Ort aus der Nähe betrachtet so, wie es aus der Distanz zu sein schien. Müllhalden statt Badestände, eine leblose Ruinenbewacherin mitten im Schutt, Restaurants, deren Tische mit Gläsern und Servietten dekoriert nur Kulisse waren ... also lautete unser Beschluss: ab zum Flughafen, dort würden wir sicher noch vor dem Besteigen der Maschine nach Berlin etwas essen können.
Doch Fiumicino wollte uns so einfach nicht aus seinen Fängen lassen. Die Suche nach einer Bushaltestelle, an der man die Linien und ihre Ziele hätte ablesen können, war vergebens, Taxis nicht zu sehen. Dass uns der Bus in Richtung Aeroporte, den wir schließlich bestiegen, an einen anderen Ort als den gewünschten brachte, hatte ich bereits im vorigen Bericht erzählt.
Was als Erinnerung an Fiumicino bleibt: Kristallklares Wasser, erfrischendes Bad in den Fluten, herrliches Sommerwetter und trotz des tollen Tages am Meer das Gefühl, Darsteller in einem Film zweifelhaften Genres zu sein. Kafkaesk beinahe. Gar nicht schlecht, so im Nachhinein betrachtet. So etwas erlebt man ja nicht alle Tage.