Hier der vorletzte Teil – bald ist es aus und vorbei mit dem Johannes. Die vorigen Teile: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4]
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Anstatt seine Mission zu beginnen, öffentlich zu predigen, womöglich gar Widerstand gegen die römische Besatzung anzuschüren oder zumindest schon mal Gleichgesinnte um sich zu scharen, zog Johannes sich zurück. Er ging in die Wüste und blieb in der Wüste. Seine Zeit war, obwohl er zum jungen Mann gereift war, noch nicht gekommen, so lesen wir es in den alten Überlieferungen.
War er allein in der Wüste? Ja, er war wohl allein, denn nichts wird uns berichtet von diesen Jahren. Predigte er den Steinen, dem Sand, den spärlichen Pflanzen? Unterhielt er sich nächtens mit dem scheuen Wüstenfuchs, der sich im Lauf der Jahre an den zweibeinigen Nachbarn gewöhnt hatte?
Vermutlich redete mit seinem Gott oder zu seinem Gott. Was er redete, ob er Antworten bekam, wie viel er von den kommenden Ereignissen ahnte oder wusste – wir wissen es nicht. Wir erfahren nur, dass im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, endlich ein »Wort Gottes zu Johannes geschah«. Wie wir uns das vorzustellen haben, bleibt uns überlassen. Hörte er eine Stimme mit seinen Ohren? Bekam er Besuch von Gabriel, wie sein Vater damals? Überkam ihn eine innere Gewissheit?
Johannes verließ seine Einöde und kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Natürlich kannte er – sein Vater war immerhin Priester gewesen – die Reden des Propheten Jesaja. Dort hieß es: »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.«
Nun kann man das nicht wörtlich nehmen, denn wenn die Täler erhöht werden und die Erhebungen erniedrigt, dann bleibt ja nur eine flache Ebene übrig. Niemand in Judäa hatte ernsthaft die Absicht, die Landschaft einzuebnen. Auch krumme Wege haben ihren Zweck, denn wenn das Ziel um die Ecke liegt, führt ein gerader Weg daran vorbei. Das ganze ist als geistliche Metapher zu begreifen. Ob Johannes ganz gewiss war, dass er selbst dieser Prediger in der Wüste war, von dem der Prophet vor so langer Zeit geredet hatte, können wir nur mutmaßen und vielleicht aus dem schließen, was uns von seinen Ansprachen berichtet wird:
Mit drastischen Worten sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: »Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.«
Für das Volk war das, auch abgesehen von den Schimpfworten, eine ziemlich herausfordernde Rede. Immerhin hatte Abraham einen Bund mit Gott geschlossen, und zwar einen ewigen Bund. Darauf konnten sie sich verlassen, meinten die Zuhörer, denn schließlich waren sie Abrahams Kinder und ewig hieß nun einmal ewig. Sie waren doch das auserwählte Volk? Nichts anderes hatten sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gehört und geglaubt. Und nun tauchte ein verwilderter Prediger auf, der nicht einmal Priester war, um ihre Gewissheit, dass Gott sie auf jeden Fall in seine Arme schließen würde, zu erschüttern und zu rauben. Das hätte eigentlich zu erheblichem Widerspruch und Widerstand führen müssen. Seine Bußpredigten sollten auch nicht ohne bittere Folgen für Johannes bleiben, aber in jenen Wochen und Monaten reagierten seine Zuhörer nicht feindselig, sondern betroffen und Rat suchend.
Die Menge fragte ihn: »Was sollen wir denn tun?«
Johannes antwortete, indem er sie daran erinnerte, dass Gott an ihrer Einstellung dem Mitmenschen gegenüber mehr interessiert war als an ihrer Abstammung von Abraham: »Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso.«
Das Gebot der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, war kein neues, sondern es stand schon seit Jahrhunderten in den heiligen Schriftrollen. Aber offensichtlich wurde es weithin ignoriert. Johannes taufte und verlangte von denen, die sich diesem Ritual unterzogen, dass sie fortan mit Taten statt mit Worten ein anderes Leben führten. Ein Hemd reicht, wenn der Mitmensch keines und man selbst zwei hat.
Die Römer hatten als Besatzer des Landes unter anderem Zöllner, heute und hier würden wir von Zollbeamten sprechen, eingesetzt. Diese Handlanger waren beim Volk nicht beliebt, mit gutem Grund, denn so gut wie alle wirtschafteten neben der Erhebung der Steuern für Rom auch kräftig in die eigene Tasche. Nun kamen auch Zöllner zu Johannes, um sich taufen zu lassen. Sie wollten ebenfalls wissen, was er ihnen zu raten hatte: »Meister, was sollen denn wir tun?«
Die Antwort war eigentlich vorhersehbar: »Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!«
Vielleicht hatten manche in den Volksmengen gehofft, dass Johannes den Zöllnern auftragen würde, ihren Dienst zu verlassen, aber er dachte gar nicht daran, einen Aufstand gegen Rom anzuzetteln.
Auch Soldaten kamen, um sich taufen zu lassen. »Was sollen denn wir tun?«
Ähnlich wie die Zöllner waren die Soldaten nicht sonderlich angesehen im Volk. Sie dienten erstens einer fremden Macht, denn sie standen unter dem Befehl der Römer, und zweitens erpressten sie gerne Schutzgelder, bereicherten sich wo es nur ging, denn sie hielten sich – und waren es ja auch – für relativ unangreifbar.
Johannes antwortete: »Tut niemandem Gewalt oder Unrecht an und begnügt euch mit eurem Sold!«
Wir erinnern uns: Es hatte sich nach seiner Beschneidung weit herumgesprochen, dass Johannes kein Mensch wie alle anderen war, dass ihm etwas Besonderes, etwas Gottgegebenes anhaftete. Inzwischen waren viele Jahre ins Land gezogen, aber vergessen waren die Umstände seiner Geburt und die Worte seines Vaters über Johannes wohl nicht.
Das Volk wartete auf einen Erlöser, einen Messias, der die Besatzungsmacht aus dem Land werfen und das jüdische Könighaus des David wieder aufrichten würde. Nun trat Johannes, über dessen Geburt und Beschneidung solch ungewöhnliche Geschehnisse erzählt worden waren, auf. Er kam mit einer unerwarteten, aber dennoch aufsehenerregenden Botschaft. Kein bewaffneter Aufstand, kein Streik, keine Occupy-Bewegung und auch kein arabischer Frühling. Statt dessen predigte Johannes eine Art freiwilligen Sozialismus. Die Menschen waren voll Erwartung und viele mutmaßten in ihren Herzen von ihm, ob er vielleicht der Christus, der versprochene Erlöser, wäre, zumal Johannes den Propheten Jesaja, der einiges über den Christus gesagt hatte, häufig zitierte.
Aber Johannes wies das weit von sich. Er erklärte: »Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber einer, der ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. In seiner Hand ist die Worfschaufel, und er wird seine Tenne fegen und wird den Weizen in seine Scheune sammeln, die Spreu aber wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen.«
Die Worfschaufel muss man erklären, wenn man diese Geschichte heute erzählt. Dieses Gerät kennt keiner mehr, außer vielleicht aus einem landwirtschaftlichen Museum. Mit einer Worfschaufel, einer Art Schippe mit flachem Blatt aus Holz oder Metall, wurde das ausgedroschene Getreide gegen den Wind in die Höhe geworfen und von der Spreu gereinigt. Die Spreu flog im Luftstrom ein Stück zur Seite, das Getreide fiel zu Boden. Mit seiner Metapher sagte also Johannes, dass jemand nach ihm kommen würde, der das Wertvolle im Volk vom Wertlosen im Volk trennen würde, die einen würde er bei sich behalten, die anderen vernichten.
»Mit Feuer taufen« – da war den Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Würde Feuer vom Himmel fallen, um die Spreu, die Verworfenen zu verbrennen? Möglich, immerhin hatte das Johannes gepredigt. Aber »taufen« mit Feuer? Und »mit dem Heiligen Geist« war nicht weniger rätselhaft.
Johannes erklärte nicht, sondern er predigte unverdrossen Buße und Umkehr, ermahnte das Volk und verkündigte ihm das Heil. Gott sei nicht an der Abstammung von Abraham interessiert, sondern daran, ob jeder einzelne Mensch Recht oder Unrecht tut, das war der Kern seiner Lehre. »Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso. … Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! … Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!«
Als Johannes eines Tages wie üblich am Jordan predigte und taufte, kam Jesus, um sich taufen zu lassen. Johannes hatte ihn zuerst nicht erkannt, es war ziemlich lange her, dass sie sich gesehen hatten und beide hatten sich, vom Jugendlichen zum Mann gereift, verändert. Selbstverständlich wusste Johannes über die sonderbaren Umstände der Schwangerschaft von Maria bescheid, immerhin waren seine Mutter und die Mutter Jesu Verwandte und die Ereignisse, die weit ringsum bekannt geworden waren, kannte man in der Familie natürlich am besten. Aber Johannes hatte seit seinem Rückzug in die Wüste keinen Kontakt mehr zur Verwandtschaft gehabt.
Nun stand Jesus vor Johannes, um sich wie all die anderen taufen zu lassen. Johannes sträubte sich zunächst, meinte, dass umgekehrt ein Schuh daraus würde. Doch schließlich gab er nach. Als Jesus getauft war und anschließend betete, wurde der Himmel geöffnet und der Heilige Geist stieg in leiblicher Gestalt wie eine Taube auf ihn herab. Manche Zeugen des Vorfalls hatten andere Erinnerungen, meinten einen Donner zu hören oder etwas wie eine Feuerflamme zu sehen, aber Johannes sah die Taube und hörte eine Stimme aus dem Himmel: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.«
Ob Johannes schon ahnte, welch schmähliches Ende sein Leben nehmen würde? Oder hoffte er noch, dass die ihm überlieferten großartigen Worte eines Engels an seinen Vater irgendwie in Erfüllung gehen würden?
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Das possierliche Bild des womöglich einzigen Wüstenfreundes unseres Helden Johannes stammt von Wikipedia.
Der Schluss folgt. In Bälde.
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