Langweilig sei das Joggen (neudeutsch für den guten alten Dauerlauf), hörte ich kürzlich jemanden sagen. Das ist jedoch ein Irrtum, dem zu entrinnen ein Leichtes ist.
Wer sich zu zweit auf den Weg macht, hat schon mal die Möglichkeit zum je nach Laune philosophischen, politischen, familiären, heiteren, ernsthaften oder sonstirgendwieigen Gedankenaustausch. Wer so schnell läuft, dass er oder sie außer Atem gerät und sich nicht mehr unterhalten kann, macht etwas falsch und sollte schleunigst den Lauf entschleunigen. Es geht ja schließlich nicht um ein Wettrennen oder einen neuen Rekord beim Dauerlauf.
Doch auch alleine unterwegs kommt keineswegs zwangsläufig Langeweile auf. Man kann unterhaltsame, spannende und ungewöhnliche Momentaufnahmen des Lebens sammeln, wenn man aufmerksam und bei der Sache ist und sich nicht mit Musik abschottet und permanent zu Boden blickt.
Auf dem Laufband im Sportstudio höre auch ich Musik nach eigener Wahl via Kopfhörer, um die meist nervende Geräuschkulisse, die die Verantwortlichen im Sportstudio wohl für Musik halten und deshalb durch die Lautsprecheranlage in alle Winkel der Trainingsflächen verbreiten, nicht hören zu müssen. Aus unerfindlichen Gründen scheint es niemandem von den Angestellten aufzufallen, dass so gut wie jeder Besucher mit Kopfhörern ausgestattet Sport treibt, um dieser Zwangsbeschallung aus dem Wege zu gehen. Lediglich im Schwimmbad und in der Saunalandschaft sind Gott sei Dank keine Lautsprecher geschaltet. Ummts ummts ummts auch noch in der Sauna - ich glaube das würde zum massenhaften Exodus der Mitglieder führen.
Hoppla! Ich merke, dass ich vom geplanten Thema abschweife - also flugs zurück zum Laufen draußen, sei es ruhige Straßen entlang oder auf Spazierwegen oder ganz abseits auf Trampelpfaden und über Wiesen oder durch Wälder. Da brauche ich keine Kopfhörer, vielmehr kann ich da Unterhaltsames zuhauf entdecken. Bei meinen letzten Läufen habe ich mir ein paar Momentaufnahmen gemerkt, weil mir die Idee zu diesem kleinen Aufsatz in den Sinn gekommen war.
Zum Beispiel Gesprächsfetzen beim Überholen von Spaziergängern:
- ... (sie:) und dann können wir nämlich - (er:) grummel grummel - (sie:) dann können wir - (er:) grummel grummel - (sie:) nun lass mich doch mal ausreden! ...
- ... all the way from Poland by bicycle. They started on one side of the canal and went through Berlin, then ...
- ... hat dann Gisela aber nicht erzählt. - Woher weißt du es denn? - Von Martin, der hat ...
- ... einhundertsiebzehn Euro! Ich dachte, mich trifft der Schlag! Ich sag noch das muss aber reichen, sag ich. Aber ...
Jeder dieser Gesprächsfetzen ist, wenn man nur will, Ausgangspunkt für eine spannende, lustige, kafkaeske, lehrreiche Geschichte. Wenn man möchte, lässt man solche Episoden beim Laufen im Kopf entstehen und wachsen. Dann ist von Langeweile garantiert keine Rede mehr.
Man hört nicht nur Gesprächsfragmente, man macht auch allerlei unterhaltsame Beobachtungen:
- Die fein gewandete Dame, die ihren kleinen Hund (lila Schleifchen am Halsband) auf den Arm nimmt, sobald sich jemand auf dem Fahrrad nähert. Kommt ein Jogger angelaufen, hat offenbar der Hund Vorrang, er wird nicht einmal zur Seite gerufen.
- Der Augenblick, in dem mein Fuß an einer Wurzel hängen bleibt: Ohne Nachdenken entscheidet das Gehirn in Sekundenbruchteilen, ob ein Sturz auf den Weg (überwiegend weicher Sandboden) oder neben den Weg (Grasbüschel, aber auch harte Wurzeln dazwischen) besser ist und ich lande mit beiden Knien und Händen im Sand. Unbeschadet stehe ich auf, renne weiter und überlege, warum ich nicht überlegen musste, in welche Richtung ich fallen sollte. Und dass das Gehirn offenbar in den Millisekunden zuvor auch festgestellt hat, ob der Sturz noch vermeidbar war, das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könnte.
- Das Verhalten von entgegenkommenden Dauerläufern: Herren neigen dazu, meinen Gruß (freundliche Mine, leicht erhobene Hand) zu erwidern, oft sogar mit einem »Hallo!« verbunden. Damen schauen eher an mir vorbei stur auf den Weg, der vor ihren emsigen Füßen liegt.
- Zwei Kinder, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, die vergnügt ein paar Meter mitrennen und mir versichern, dass sie noch viel schneller könnten, wenn sie nur wollten. Von hinten ertönt mütterliche Zurechtweisung: »Tim, Christian, hiergeblieben!« Tim oder Christian ruft mir nach: »Tschüß! Aber wir hätten schneller gekonnt!«
Was könnten aus diesen Momentaufnahmen für Geschichten entstehen ... wiederum ist eine gewaltige Bandbreite von absurd über kriminalistisch bis dramatisch denk- und vorstellbar. Zum Beispiel die beiden Jungs – die waren Opfer einer Entführung und hatten versucht, durch das Mitlaufen eine Botschaft an mich zu übermitteln. Ich hätte, wenn das gelungen wäre, außer Sichtweite die Polizei informieren können, die dann etwa drei Kilometer weiter einen Hinterhalt aufgebaut hätte, um die vermeintliche Mutter zu verhaften … oder so ähnlich.
Ich kann auch beim Laufen Lieder in meinem Kopf singen und dabei, je nach Laune, über Sinn und Unsinn der Texte nachdenken oder nach Gutdünken mit den Texten anstellen, was ich will.
- Bei einem Lauf ging mir Leonard Cohens Lullaby durch den Kopf. Da heißt es: »Well the mouse ate the crumb / Then the cat ate the crust / Now they've fallen in love / They're talking in tongues«. In diesen vier Zeilen, fand ich beim Joggen, steckt jede Menge List, Philosophie und sogar Religionswissenschaft. Denn wenn man hört, dass die Maus die Krume, also das Innere eines Brotes, vertilgt hat und dann heißt es »then the cat ate the« - da erwartet man natürlich, dass die Maus das Opfer des Katzenhungers wurde. Von wegen! Leonard Cohen ist ein listiger Poet, er führt uns auf das Glatteis! Die Katze begnügt sich nämlich mit der Kruste. Was folgt daraus? Die beiden lieben sich. Jawohl. Und sie sprechen in Zungen. Das ist religiös und philosophisch zugleich. In Zungen geredet wurde am Pfingsttag in Jerusalem, als die verängstigten Nachfolger des auferstandenen und gen Himmel entschwundenen Jesus von Nazareth vom Heiligen Geist überrascht wurden. Und dass Katze und Maus sich lieben, das deutet auf das Paradies hin, in dem Lamm und Löwe friedlich miteinander kuscheln. Wenn der Löwe zum Grasfresser wird, dann kann aus der Katze ja ein Brotfeinschmecker werden.
- Man kann auch Lieder, die man tausend mal gehört und vielleicht mitgesungen hat, mit neuen Texten ausprobieren. Da tönt es dann vielleicht im Kopf: »Das Laufen ist des Günters Lust / dabei hat er auch schon mal Durst / beim Lau-hau-fen. / Das müsst ein schlechter Günter sein / dem niemals fiel’ das Laufen ein …« und so weiter. Oder »Weine nicht, wenn das Pferd hinfällt / dam dam, dam dam. / Du bist ja der Einz’ge dem das auffällt, dam dam, dam dam!«
Soweit ein paar Exempel, wie so ein Dauerlauf, auch wenn man auf angenehme Gesellschaft verzichten muss und alleine unterwegs ist, unterhaltsam sein oder werden kann. Daneben gibt es ja noch all die Düfte in der Luft, die Klänge der Natur (vom Rauschen der Blätter bis zum Vogelsang), die Vielfalt der Farben und Formen vom unscheinbaren Gras bis zum gewaltigen Baum, das Wechselspiel des Lichts am Himmel … oder bei Stadtläufen die höchst unterschiedliche Gestaltung von Fassaden, Zäunen, Balkons, Türen und Toren … es gibt viel zu entdecken, wenn man nur will.
Langweilig sei das Joggen, hörte ich kürzlich jemanden sagen. Nun, liebe Blogbesucher, wissen wir es besser. Also auf geht's! Laufkleidung und -schuhe anziehen und ab nach draußen! Vielleicht begegnen wir uns ja? Ich bin der, der andere Läufer freundlich zu grüßen pflegt.
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