Dienstag, 4. März 2008

Fragment - Die erste Fortsetzung


Wie gestern angekündigt hier die Fortsetzung einer Geschichte (Fragment), die unversehens zum Leben erwacht ist. Ich beginne mit dem letzten Satz des bisherigen Textes.

...
Sie hört sich sagen: „Wenn du es möchtest, ja.”



Er tritt in ihr Zimmer und bleibt am Fenster stehen. Die Klarinette liegt auf dem ungemachten Bett, ein offenes Buch auf dem Nachttisch. Er erkennt es, ohne den Umschlag zu sehen. Er blickt hinaus auf das Meer, forscht nach Anzeichen eines kommenden Geschickes, doch die Weite des Wassers verrät nichts.
„Ich meine, gespürt zu haben, dass die Erde bebt“, beginnt er, „aber es mag auch sein, dass nichts daran im Hier und Jetzt geschieht. Ich bin gefangen. Irgendwo.“
„Du träumst. Du bist nicht gefangen, sondern die Welt ist gefangen in deinem Traum.“
Konstaninos legt die Fingerspitzen an die Fensterscheibe und spürt das leichte Vibrieren, das Pulsieren, das nicht vom Wind, sondern irgendwo aus der Tiefe kommt. Er träumt nicht, nein, er will sie warnen und sie mit sich nehmen in die Sicherheit, die doch zu finden sein muss, solange Zeit noch bleibt. „Susanne, wir sollten aufbrechen. Zusammenpacken, was notwendig ist und diesen Ort verlassen.“
Sie stellt sich zu ihm an das Fenster. Sie blickt ihm in die Augen, die durch all die Jahre jung geblieben sind, es sind noch immer die Augen des Jungen am See, der ihrem Spiel lauscht und ihren Körper betrachtet, auf dem die Sonne sich der Wassertropfen bedient, um Blitze in seine Augen zu senden.
Er will etwas sagen, aber sie legt ihm sanft den Finger auf die Lippen. Er liest in ihren Augen Liebe, die nicht müde geworden ist in all den Jahren.
Susanne flüstert: „Die Träumenden führen Krieg gegen die Handelnden. Schau doch, wie die Handelnden zurückweichen, wie sie bluten, wie sie unterliegen.“

4

Er spürt den Sog zurück in die Vergangenheit. Sie waren damals jung, sehr jung. Sie waren damals alt, sehr alt. Alt wie die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel schien, jung wie Rosenblüte, die sich gerade öffnete. Er und sie. Sie und er. Damals. Dort. Heute. Hier.



Er ist seit heute vierzehn Jahre alt. Ein griechischer Junge, geformt und gegerbt von der Küste. Der Nachmittag ist gerade angebrochen, er radelt in den Wald, zu seinem geheimen Ort. Der See gehört nur ihm, normalerweise. Die Touristen sind am Meer, oder in ihren Hotels, denn mittags ist es viel zu heiß für sie in diesem windgeschützten Tal, das von dichten Bäumen bewacht abseits der staubigen Landstraße von niemandem Beachtung findet.
Sein Vater nur scheint zu verstehen. Die Mutter, Griechin wie sie im Buche steht, viel zu sehr im Diesseits gefangen, Haushalt, Familie, Gäste, Tradition und Beständigkeit. Sie wäscht, sie kocht, sie räumt sein Zimmer auf, sie fragt ihn nach den Hausaufgaben, sie kühlt die Stirn wenn Fieber tobt, ist immer da, so will ihm scheinen, unermüdlich, pausenlos beschäftigt für ihre Familie.
Der Vater – anders. Irgendwie. Ein Deutscher, ganz anders als die Männer aus dem Dorf. Der Vater, der selten nur das Wort ergreift, der lieber nichts sagt, als im Streit ein Wort zu erwidern. Der träumen kann, und der dem Sohn das Träumen gönnt. Der Vater, der dieses Tal kennt und nicht betritt, wenn er den Sohn darin weiß. Weil der Vater versteht, dass ein geheimer Ort etwas Heiliges ist.
Er schiebt das Fahrrad durch die letzten Büsche vor der Wiese und bleibt stehen. Aus seinem Heiligtum erklingt Musik.



Sie steht im Schatten eines großen alten Baumes und lässt die Töne kommen, wie sie wollen. Woher kommen sie? Aus ihr? Wer hat sie in ihre Seele hineingelegt? Warum kommen sie nur manchmal so hervor wie jetzt – als spiele jemand mit ihren Fingern, Lippen, Lungen, als höre sie sich selber zu wie einer anderen Person? Spielt sie für sich? Für Gott? Für den Schwan, der dort reglos auf dem See verharrt? Ist dieser Schwan ein Gott? Ist er real? Er scheint nicht in dieses Tal zu gehören, genau wie sie nicht hier zu Hause ist, sie ist nicht einmal sicher, dass er wirklich da ist. Ein Schwan in Griechenland. In einem Felsental, das ihr der Zufall nur gezeigt.
Sie setzt die Klarinette ab und legt sie behutsam auf den Teppich aus weichen Halmen. Sie möchte diesen See erschwimmen, dem Schwan behutsam nahe kommen. Kein Mensch scheint hier zu sein, sie blickt noch einmal in die Runde und schlüpft dann aus dem Leinenkleid, streift ihre Wäsche ab und tritt mit beiden Füßen in das klare Wasser. Es ist kalt, erschreckend kalt in der griechischen Sommerhitze.



Er tritt aus dem Schatten und lehnt sein Fahrrad an den Baum, unter dem Klarinette und Mädchenkleidung liegen. Er ist nicht sicher, ob er träumt oder wacht. Er entledigt sich des Hemdes und der Hose, zögert kurz, und beschließt dann, es ihr gleich zu tun. Falls er nicht träumt, dann sind sie Adam und Eva im Paradies, wo man nichts zu verbergen braucht, was der Schöpfer für gut erachtet hat. Und sollte er nur träumen, dann wäre sowieso sein Handeln nicht von seinem Willen zu bestimmen.
Soll er sich bemerkbar machen? Nein. So wie es ist, so scheint es sein zu sollen. Zu müssen. Zu dürfen.
Das Mädchen geht behutsam einen weiteren Schritt, er weiß um die Kälte, die am Ufer herrscht. Ein wenig weiter wird das Wasser wärmer, doch hier speist eine unterirdische Quelle den See mit frischem Wasser aus der Tiefe. Er tritt neben sie. Sie erschrickt nicht, sondern schenkt ihm ein Lächeln.



Sie hat ihn kommen hören. Oder hat ihn gespürt. Hat kurz nur überlegt, ob sie fliehen, sich bedecken soll, sich umschauen, wer außer ihr zugegen sein mag. Aber irgendwie weiß sie, dass es der Junge sein muss, den sie am Vortag bei der Anreise kurz im Garten sah.
„Es ist sehr kalt“, sagt sie auf Griechisch, „trotz der Sonne.“
„Vier Meter weiter wird es wärmer“, antwortet er auf Deutsch.

Er schreitet aus und lässt sich dann ins Wasser gleiten. Sie folgt ihm schnell und wirklich ist die Wärme da, wo er gesagt hat.
Sie blickt hinüber an das andere Ufer. „Der Schwan ist verschwunden.“
„Man sieht ihn nur, wenn er es will.“



Später liegt er ihr zu Füßen, während die Zukunft offen ist. Sie spielt für ihn, lässt eine Melodie sich selbst erschaffen. Er fragt sie nicht nach ihrem Namen, sie will seinen nicht erfahren. Es genügt, dass sie da sind, an diesem See, zu dieser Stunde. Er darf ihre Schönheit betrachten, sie darf seinen Körper sehen. Die Blicke forschen, entdecken bisher Ungesehenes, Geahntes, Geträumtes. Dann liegen sie neben einander und blicken empor zum Dach der Zweige, brauchen keine Worte, um einander zu verstehen. Der Schwan treibt heran, trägt eine Rose im Schnabel. Am Ufer legt er sie ab und fliegt davon.
Konstantinos steht auf und hebt die Rose auf. Ein Dorn sticht ihn in den Daumen, sein Blut hat die Farbe der Blüte. Er bückt sich und holt aus seiner Hose das Taschenmesser, schneidet sorgsam die Dornen ab, bevor er dem Mädchen den Stengel reicht. Sein Blut tropft auf ihre bleiche Haut, ein Tropfen unter der rechten Brust, einer dicht am Nabel, ein dritter im Flaum, der ihr Delta umspielt.
Sie lächelt, nimmt die Rose entgegen und führt seinen blutenden Daumen zum Mund. Sie saugt das Blut, bis die Wunde versiegt.
„Ich habe heute Geburtstag“, sagt sie, ich bin jetzt Fünfzehn.“



Sie ziehen sich an, unwissend, wie viel Zeit vergangen ist. Die Sonne verschwindet hinter den Wipfeln. Sie verstaut ihr Instrument in einem kleinen ledernen Behältnis. Er schiebt sein Fahrrad, teilt sorgsam das Gebüsch für sie, bis sie den staubigen Weg ins Dorf erreicht haben. Bei den ersten Häusern fragt er: „Sehen wir uns wieder?“
„Ja“, sagt sie, „das hat der Schwan versprochen und dein Blut hat es besiegelt.“
„Morgen?“
„Nein. Ich muss dich verlassen, meine Eltern sind mit mir auf der Flucht. Aber behalte meinen Körper, bis wir uns eines Tages einander schenken werden. Behalte auch den Schwan. Die Rose. Wir werden, wir müssen uns finden.“
„Zu einem anderen Geburtstag?“, fragt er.
„Wir werden sehen.“



5

Noch immer stehen sie am Fenster. Dreißig Jahre sind vergangen, morgen, am Geburtstag. Unter ihren Füßen bebt es erneut.


Fortsetzung folgt